Murphys Gesetz

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Einen wunderschönen guten Nachmittag ihr Lieben!

...diesmal auch wieder mit glänzender Laune und ohne Schimpfen oder Fluchen. :D

Hach, ich freu mich riesig, dass ihr euch so über Sinas Comeback gefreut habt!!! Da hat sich die schwere Geburt ja wirklich absolut gelohnt; wobei ich letztes Mal völlig vergessen habe zu erwähnen, dass der finale Anstoß und der dringend benötigte Schubs von meiner lieben Künstlerin Corviknight kam - Dankeschön meine gute Fee!! Und auch vielen lieben Dank nochmal an alle fleißigen Reviewschreiber und Sternchengeber, ich hab mich riesig gefreut!! <3

Dann wünsche ich euch wie angekündigt ganz viel Spaß beim Weiterlesen; ich hoffe sehr, dass ich das nächste Kapitel auch zeitnah hinbekommen kann. Versprechen kann ich diesmal aber leider nichts - es sind Sommerferien und hier spuken zwei Geister herum, die beschäftigt werden wollen. ^.^' Habt ein schönes Wochenende! :-*

GlGAncarda

P.S.: noch eine kleine Info: leider hab ich keine aktive Betaleserin mehr für diese Geschichte... auch ein Grund, warum es eher schleppend vorangeht. Man merkt den Unterschied irgendwie schon, ob einem da jemand im Nacken sitzt und antreibt und dringend nötigen Input gibt oder eben nicht. xD Es ist also leider auch niemand da, der auf Rechtschreibfehler prüft; also falls ihr trotz meiner Bemühungen über einen stolpert, sagts mir gern, dann bessere ich das aus! <3





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~Sina~



„Hier bitte sehr, Ihr Wechselgeld. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Miss. Es soll ja richtig warm und sonnig bleiben, das muss man ausnutzen! Haben Sie schon Pläne?"
Diese eigentlich sehr nett gemeinten Worte lassen mich jedoch tief seufzen.
‚Hah, ja... wirklich ganz tolle Pläne hab ich. Ist ja auch so erstrebenswert, das Wochenende allein zu verbringen statt mit Marco...', schießt es mir reichlich deprimiert durch den Kopf, doch ich reiße mich zusammen und behalte das Lächeln auf meinem Gesicht. Für meine Feigheit kann ja niemand was, am allerwenigsten die gut gelaunte, fast schon mütterliche Kassiererin hier in diesem süßen, kleinen Schmuckgeschäft im Herzen Dublins.
„Ja, ich hab einen Ausflug ins Grüne vor; so ein schönes Wetter darf man wirklich nicht ungenutzt lassen! Ich wünsche ich Ihnen auch ein tolles Wochenende... vielen Dank und auf Wiedersehen!" Mit einem bemüht ungezwungenen Lächeln nehme ich mein Kleingeld und das kleine Tütchen mit den neuen Ohrringen von ihr entgegen und verlasse den Laden. Draußen betrachte ich nachdenklich meine golden glänzende Errungenschaft mit dem kleinen, türkisfarbenen Stein, der in der strahlenden Nachmittagssonne unschuldig glitzert. Ein Hoch auf günstigen Modeschmuck, sodass auch ich mir gelegentlich etwas Neues gönnen kann! Leider fühle ich mich aber noch immer ziemlich unglücklich... Frustshopping funktioniert also bei mir irgendwie nicht. Oder das wirkt echt erst ab einem zweistelligen Geldbetrag.

Seufzend stecke ich sie weg und schlendere weiter in der Hoffnung, dass mich der Bummel durch die belebte Innenstadt von meinem schlechten Gewissen ablenkt. Und zumindest zum Teil funktioniert es auch... den typisch bunten Fassaden, den unzähligen Blumen an den Laternen und den charakteristischen, ebenso farbenfrohen Türen sei Dank, die richtig miese Laune eigentlich ganz und gar unmöglich machen. Ich bin grade ganz in der Nähe der Grafton Street, Dublins bekanntester Einkaufsstraße, doch ich bevorzuge die vielen Seitenstraßen drumherum. Denn während sich auf der Grafton Street eher die größeren Marken und Franchises tummeln, findet man darum herum so viele vollkommen individuelle, kleine Läden von Einheimischen, in denen man herrlich stöbern und dabei eine wahre Vielfalt von Schätzen finden kann. Und es ist einfach so viel persönlicher! Die Inhaber und Verkäufer reden einfach mehr und zwangloser mit ihren Kunden, und das weiß ich grade jetzt mit meiner gedrückten Stimmung sehr zu schätzen. Nette Gespräche und ein freundliches Lächeln heitern mich immer auf.

Am Ende der sich gabelnden Straße halte ich inne und sehe mich unschlüssig um. Wohin will ich jetzt als nächstes gehen? In dieser Gegend war ich noch nie, also hab ich keine Ahnung, wo die interessanteren Läden sein könnten. Vielleicht sollte ich...
„Hi! Haben Sie sich verlaufen? Brauchen Sie Hilfe?"
Mit einem unwillkürlichen Lächeln wende ich mich dem jungen Pärchen zu, das neben mir stehengeblieben ist und mich fragend ansieht. Ernsthaft, ich liebe dieses Land. Hier muss man wirklich nur irgendwie verunsichert oder verloren aussehen und schon wird man angesprochen.
„Nein, verlaufen hab ich mich nicht. Ich bin nur auf Erkundungstour und hab keine Ahnung, wo ich als nächstes hinsoll; in dieser Gegend hier war ich noch nicht", erkläre ich ihnen und deute auf die beiden Straßen vor mir. „Haben Sie da vielleicht einen heißen Tipp für mich?"

„Ah, dann ist ja gut! Neu hier oder Tourist?", will der blonde, junge Mann, der genau wie seine dunkelhaarige Freundin etwa in meinem Alter zu sein scheint, interessiert wissen.
„Neu hier... ich bin erst vor ein paar Monaten hergezogen", gebe ich bereitwillig Antwort, was die beiden erfreut nicken lässt.
„Oh, na dann willkommen! Und was den Tipp angeht... waren Sie schon im Powerscourt Einkaufscenter? Das ist hier links entlang und DEFINITIV einen Besuch wert! So tolle Architektur – allein das Gebäude ist schon sehenswert und hat viele Geschäfte zu bieten; vor allem tolle Klamotten. Oh, und heute ist Freitag, da spielt immer ein Pianist... am besten setzen Sie sich ins Pepper Pot Café und lassen es sich gutgehen – die haben so fantastische Kuchen und Cookies!! Wir kommen grade von da", sprudelt es nun munter aus der Brünetten hervor, was meine Laune augenblicklich nach oben schießen lässt. Klamotten und Kuchen – das klingt nach einem perfekten Stimmungsheber!
„Das hört sich absolut fantastisch an. Das werd ich machen, vielen lieben Dank für den Tipp und schönes Wochenende euch noch!", entgegne ich erfreut und verabschiede mich gleich darauf herzlich von den beiden, die mir gut gelaunt nachwinken. Deutlich beschwingter wende ich mich nach links und bin wieder einmal einfach nur froh, dass ich mich für dieses Land entschieden habe, um einen Neuanfang zu wagen. So viele nette Menschen um mich herum, so eine zwanglose Umgebung und so viele wundervolle Bekanntschaften, die ich hier bereits schließen durfte und mit denen ich absolut nicht gerechnet hab! Hach, mein neues Leben fühlt sich einfach jeden Tag so unglaublich richtig an...

...aber warum schaffe ich es dann nicht, das blöde Alte endlich loszulassen?!
Auch wenn Marco mir in den letzten Tagen immer wieder gesagt hat, dass meine Angst vollkommen verständlich ist und ich mir Zeit lassen soll und wir das schon hinbekommen... aber verdammt nochmal, das hilft mir gar nicht! Mir ist doch trotzdem klar, dass er sich eigentlich schon sehr darauf gefreut hat, mich endlich seinem Vater und seinen übrigen Geschwistern vorzustellen! Eben weil ich ihm so viel bedeute und weil er so lange niemanden hatte und weil sich seine ganze Familie deshalb natürlich Sorgen um ihn gemacht hat... ach manno, da mache ich mir nichts vor: er war eben doch enttäuscht. Und ich bin noch viel enttäuschter von mir selbst. Warum kann ich nicht ein kleines bisschen mutiger sein? Wieso schaffe ich es nicht, über meinen eigenen Schatten zu springen, obwohl... ja, obwohl doch jetzt eigentlich alles so perfekt ist? Vielleicht hätte Marco mich doch besser einfach in Ace' Kofferraum schubsen und mitnehmen sollen, ohne lange zu fragen. Aber dafür ist er eindeutig viel zu rücksichtsvoll. Mir entkommt erneut ein Seufzen - und zugleich ein belustigtes Schnauben bei dem Gedanken. Nein, NIEMALS würde er auch nur ansatzweise irgendetwas tun, das mir möglicherweise Unbehagen bereiten könnte! Dieser Mann ist eindeutig zu gut für diese Welt. Oder für mich.

Tief in Gedanken versunken erreiche ich schließlich nach einigen Minuten Fußmarsch das Powerscourt Centre. Interessiert mustere ich das stattliche und imposante Gebäude, das allerdings eher wie ein altes, erhabenes Herrenhaus aussieht statt wie ein Einkaufszentrum. Aber ich hab ja damals bei dem ersten Date mit Marco schon die Erfahrung gemacht, dass der erste Eindruck täuschen kann, darum gehe ich neugierig die breite Treppe nach oben zur Tür und – bin im nächsten Moment schlichtweg überwältigt. Woha! Das hatte ich nicht erwartet... staunend tauche ich in die fröhlich schwatzende Menschenmenge ein und begutachte diesen einmaligen Ort mit wachsender Begeisterung.
Das hier muss früher wirklich einmal ein Anwesen gewesen sein, das man aber auf wirklich beeindruckende Weise umgebaut hat: das originale Mauerwerk mit den Außenwänden aus Backstein und den aufwändig stuckverzierten Innenwänden ist komplett erhalten, es gibt herrliche Kronleuchter und diese elegant-wuchtigen Treppen des 18. Jahrhunderts; doch all das wurde mit modernen Elementen wie Schaufenster, riesigen, leuchtenden Ringen, vielen Pflanzen und bunten Reklameschildern kombiniert. Und wow, diese Mischung aus alt und neu ist einfach fantastisch! Dazu ist auch noch der komplette Innenhof mit Glas überdacht worden... atmosphärisch perfekt für die Cafés, die hier über mehrere Stockwerke gemütliche Sitzmöglichkeiten geschaffen haben.

„Oh, das war wirklich ein fantastischer Tipp!", murmle ich begeistert zu mir selbst und schlendere neugierig an den verschiedenen Läden vorbei. Kuchen werde ich mir erst zum Abschied in einem der stilvollen Cafés gönnen – erst will ich mich hier gründlich umschauen und stöbern! Und ziemlich sicher auch NUR stöbern, denn was mir sofort auffällt, ist, dass es hier viele sehr gehobene Geschäfte mit langen Traditionen gibt. Kleidung, Antiquitäten, Juweliere... passend für diese Umgebung, aber natürlich weit außerhalb meiner Preisklasse. Aber es gibt auch Ausnahmen; nicht alle Geschäfte machen so einen exklusiven Eindruck, sondern sind deutlich jugendlicher und stechen allein dadurch schon etwas heraus.
Vielleicht finde ich ja doch noch was für mein Budget oder wenigstens ein kleines Mitbringsel für Marco?', überlege ich hoffnungsvoll und betrachte das nächste Schaufenster – vor dem ich gleich darauf jedoch unvermittelt verblüfft stehenbleibe.

Es ist eindeutig ein Modegeschäft, aber eindeutig das bisher Auffälligste. Nicht nur die kunstvoll bunte Auslage sticht sofort ins Auge, sondern auch die wirklich schöne, ungewöhnliche Kleidung... und erst recht die Preise darunter. Die Klamotten sehen aus, als wären sie von einem Stardesigner entworfen worden, aber sie kosten nicht mehr als gewöhnliche, qualitativ hochwertige Sachen. Sie sind eigentlich echt bezahlbar, wenn auch für meinen nahezu leeren Geldbeutel grade trotzdem nicht so wirklich. Aber verdammt, sie sehen so hübsch aus, vielleicht finde ich ja ein reduziertes Teil...? Denn auch wenn ich mir vermutlich eher ein Bein absägen würde als es laut auszusprechen, aber zumindest in manchen Momenten deprimiert mich mein spartanischer Kleiderschrank doch... wenngleich auch bei weitem nicht genug, um der finanziellen Sorglosigkeit von früher ernsthaft nachzutrauern. Aber... naja, umsehen kostet ja schließlich nichts, oder? Einfach mal wieder ein bisschen die Atmosphäre genießen... ja, ich glaube, das brauche ich jetzt! Doch als ich den Laden betreten will, fällt mir ein kleines Schild ins Auge, auf dem „Wir schließen heute bereits um 16:00 Uhr, Montag wegen Urlaub geschlossen" steht. Also bleibt mir noch eine knappe Stunde Zeit, allerdings schießt mir da plötzlich noch etwas ganz anderes in den Sinn:

„...obwohl sein Geschäft am anderen Ende von Dublin liegt..."

Wachsam halte ich inne und betrachte den Laden erneut kritisch.
Hm. Schwer zu sagen, was Marco damals mit dieser ungenauen Lagebeschreibung hatte sagen wollen, aber ich bin hier schon ein ganzes Stück weit weg von der Praxis oder seinem Haus. Ob das vielleicht... wäre es möglich, dass das hier Izous Geschäft ist? Rein von seinen Fotos und den Erzählungen würde ich das sogar als passend empfinden; schließlich wirkt er selbst ebenfalls extravagant und unkonventionell, genau wie das hier. Was allerdings bedeuten würde, dass... ich da wohl eher nicht reingehen sollte, oder? Wehmütig werfe ich einen weiteren Blick auf eine wirklich schöne, goldfarbene Strickjacke mit raffiniert eingearbeiteten Strasssteinen. Haaaach... ich will doch so gerne! Vielleicht ist es ja aber auch gar nicht sein Laden... und er auch gar nicht da. Vielleicht ist er wie Marco schon bei seinem Vater? Oder als international angesehener Modedesigner irgendwo anders unterwegs? Unschlüssig gehe ich ein Stück weiter vor zur verglasten Eingangstüre und spähe hinein, kann aber lediglich einen Mann (der eindeutig NICHT Izou ist) hinter dem Verkaufstresen sehen... und außerdem eine ganze Menge anderer Kunden. Meine Miene hellt sich auf. Selbst wenn es das Geschäft von Marcos Bruder ist, ist er selbst nicht da und außerdem sind genug andere Menschen dort, zwischen denen ich wohl kaum auffalle. Immerhin kennt er mich doch sowieso nicht... also warum genau mach ich mir eigentlich Sorgen?
HA!

Erleichtert trete ich ein – und bin augenblicklich ziemlich baff. Die Einrichtung ist tatsächlich sehr extravagant, aber dennoch fröhlich bunt und geschmackvoll, sodass ich mich direkt wohl fühle. Der Stil wirkt mit den vielen Kirschblüten ans Chinesische oder Japanische angelehnt würde ich im ersten Moment vermuten; und mit all dem echten Bambus, der überall in großen Töpfen wächst, komme ich mir vor wie in einem exotischen Urlaubsparadies. Und es riecht unheimlich gut hier! Dezent und angenehm, aber sehr erfrischend. Spontan keimt in mir der Wunsch auf, hier tatsächlich Urlaub machen zu wollen. Was für ein toller Laden!
„Guten Tag, junge Dame! Kann ich behilflich sein? Suchst du was Bestimmtes?"
Bei der plötzlichen, unerwarteten Ansprache zucke ich leicht zusammen, doch es ist nur der Mann, der gerade noch hinter der Theke gestanden hat. Allerdings ist es ein ziemlich... bemerkenswerter Kerl, der mich hier ausgesprochen fröhlich angrinst. Er hat schwarze Haare und eine Art Topfschnitt, ist ziemlich schrill geschminkt und trägt einen rosa Mantel mit weiß gefiedertem Saum über seinem blau gemusterten Seidenhemd.
O...kay? Wirklich sehr speziell... aber dennoch absolut sympathisch. Ich kann gar nicht anders, als ihn anzulächeln.
„Vielen Dank, aber ich wollte mich einfach nur ein bisschen umsehen... das ist ein wirklich bemerkenswerter Laden", antworte ich ehrlich, woraufhin er einladend die Arme ausbreitet.
„Selbstverständlich, Liebes! Tu dir keinen Zwang an und lass dir bitte alle Zeit der Welt. Wenn du was brauchst, lass es mich einfach wissen!"

Unwillkürlich lachend bedanke ich mich für seine Freundlichkeit und mische mich neugierig unter die anderen Kunden. Und wie gut, dass er gesagt hat, dass ich mir alle Zeit der Welt lassen kann, denn... WOW!
Dieser Ort ist für meine modeaffine Seite wirklich ein Traum.
Noch nie – nicht mal früher in den exklusiven Boutiquen, in denen ich als vornehmes Töchterchen einkaufen durfte - habe ich so viele außergewöhnliche, aber stilvolle Kleidungsstücke gesehen! An jedem dekorativ gestalteten Tischchen, an jeder sorgfältig drapierten Auslage, an jedem einzelnen Kleiderständer befindet sich mindestens ein kleines Meisterwerk, das entdeckt werden will. Zwar leider tatsächlich nichts für meinen grade sehr, SEHR kleinen Geldbeutel, aber... nach fast fünfundvierzig Minuten des reinen Bewunderns hab ich mich fast selbst davon überzeugt, dass ich mir wenigstens ein besonderes Stück doch mal gönnen könnte, oder? Sehnsüchtig betrachte ich die schon vorhin im Schaufenster entdeckte Strickjacke, die sich unendlich weich in meinen Händen anfühlt. Für kühle Sommernächte oder dem ein oder anderen Strandspaziergang mit Marco wäre die doch absolut perfekt...

„Die würde Ihnen sicher ausgezeichnet stehen!"
Zum zweiten Mal werde ich jäh aus meinen abschweifenden Gedanken gerissen und mache vor Schreck fast einen Satz in die Auslage, doch ein paar kräftige Arme ziehen mich rechtzeitig zurück.
„Oh, Pardon! Ich wollte Sie keinesfalls erschrecken!"
Mit rasendem Herzen wende ich mich dem Übeltäter zu - und fühle es im nächsten Augenblick stolpern. Diesmal ist es nämlich nicht der lustige Verkäufer, dem ich mich gegenübersehe und der mich ausgesprochen freundlich anlächelt.
Nein... ich hatte wohl bedauerlicherweise vollkommen recht, was den Besitzer dieses Ladens angeht:

Es ist Izou.

Natürlich.

„Ähm... kein Problem. Alles gut, danke sehr!", stammle ich nach ein paar Schrecksekunden verlegen und räuspere mich, um meine Fassung wiederzugewinnen. Das nennt man dann wohl Murphys Gesetz, oder? Alles, was schief gehen kann, wird auch schief gehen. Selbstverständlich musste ich hier also niemand anderem als Marcos Bruder in die Hände fallen... sogar auch noch wortwörtlich. WIESO um Himmels Willen?! Ich hab doch gar nichts gemacht, hier sind doch noch so viele andere Leute!
Aber obwohl mir der Popo hier grade wirklich auf Grundeis geht, kann ich gar nicht anders, als ihn erst einmal bewundernd anzusehen. Izou ist live nämlich genauso gutaussehend wie auf den vielen Fotos... und sogar etwas größer als es den Anschein gehabt hat. Er ist tatsächlich mindestens so stattlich wie Marco, vielleicht sogar noch ein kleines Stück größer. Seine langen, schwarzen Haare hat er hochgesteckt und er trägt einen wirklich eleganten Kimono, wie die Geishas in Japan. Und verflucht, der steht ihm auch noch echt gut! Aber wo zum Teufel kommt er plötzlich her? Und ernsthaft: wieso redet er ausgerechnet mit mir?!
Verflucht seist du, du elend schöne Jacke! Ich hätte doch nicht reingehen sollen...', schießt es mir – leider zu spät – durch den Kopf.

Izou lächelt mich jedoch offen und überaus interessiert an.
„Dann bin ich ja beruhigt. Darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein?", fragt er ausgesprochen charmant. Ich erwidere sein Lächeln unsicher.
„Oh, ich... ähm... war nur neugierig und wollte mich etwas umsehen. Ich will Sie auch gar nicht aufhalten, ich bin gleich wieder weg!" Und wie ich weg bin, ich krieg grade sowas von kalte Füße! Doch Izou lacht nur unbekümmert.
„Bitte, keine Eile! Darf ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen etwas zu empfehlen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, legt er mir eine Hand hinter mein Schulterblatt und schiebt mich mit sichtlicher Begeisterung ein paar Meter weiter, ohne sich groß um meinen perplexen und vermutlich auch leicht überforderten Gesichtsausdruck zu kümmern. Was genau wird das denn jetzt? Ich hab doch wirklich nichts auffälliges getan; oder hat er etwas sowas wie einen siebten Sinn? Nein, das ist absurd... oder?

Vor einem Kleiderständer voller Einzelstücke, den ich zuvor jedoch aus finanztechnischen Vernunftsgründen absichtlich gemieden hatte (und weil ich auch nicht weinen wollte, weil ich nichts davon haben kann), bleibt er stehen und zieht... ein wirklich außergewöhnlich schönes, lindgrünes, locker fallendes Sommerkleid hervor. Es ist rücken- und schulterfrei, an der Taille gerafft und wird vorne von einem breiten, goldenen Halsband gehalten. Filigrane Goldfäden bilden von dort aus abwärts ein dezentes, aber eindrucksvolles Muster. Keine Ahnung, welcher Gott mich hier grade strafen will... aber dieser Scheißkerl ist auf jeden Fall ein ausgewachsener Sadist und versteht sein Handwerk.
„Wow!", stoße ich unwillkürlich sehnsüchtig hervor und kann nicht anders, als dieses bezaubernde Stück Stoff ehrfürchtig anzufassen, was Marcos Bruder sichtlich zufrieden schmunzeln lässt.
„Es gefällt Ihnen also? Tun Sie mir doch bitte den Gefallen und probieren es an, ich brenne nämlich darauf zu sehen, wie es an Ihnen aussieht!", bittet er mich galant, doch sofort hebe ich abwehrend die Hände. Es ist wirklich wunderschön, aber trotz der verblüffend humanen Preise hier garantiert weit außerhalb dessen, was ich mir im Augenblick leisten könnte. Und vor allem sollte. Es wäre also nur eine Qual, mich darin zu betrachten und es wieder weglegen zu müssen.

„Oh, tut mir wirklich leid, das ist zwar wirklich sehr schmeichelhaft, aber ich bezweifle stark, dass ich mir das leisten k..." Abrupt breche ich ab und sehe ihn ungläubig an. Er grinst breit und hält mir das Kleid erneut hin, von dem er gerade geschickt (und ausgesprochen demonstrativ) das Preisschild entfernt hat, bevor ich es lesen kann.
„Woher wollen Sie das wissen?", fragt er unschuldig und weist mir mit einer charmanten Verbeugung und vergnügt glänzenden Augen den Weg zu den Umkleiden.
Jetzt kann ich gar nicht mehr anders und muss lauthals lachen. Ah, hier zeigt sich zum ersten Mal ganz deutlich die Ähnlichkeit zu seinen Brüdern: Thatch hätte das nämlich nicht besser machen können; in Sachen Charme und Charisma steht Izou ihm in keinem Punkt nach. Jep, ich bin verloren - wie könnte ich da denn nein sagen? Gott, ich bin so ein willensschwacher Mensch...

„Also gut, ich probiere es an. Aber nur ganz kurz... und weil das ein gerissener Schachzug war", gebe ich mich also seufzend geschlagen und gönne ihm sogar das triumphierende Grinsen. Er ist einer dieser Menschen, die man auf der Stelle mögen muss, weil sie so eine offene, sympathische Art haben. Jetzt verstehe ich sogar noch besser, wieso Marco, Thatch und er so ein Dreiergespann gewesen sind... sie sind alle drei so unkomplizierte, offene und unglaublich freundliche Menschen und sich charakterlich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Oh man, aus dieser Nummer komm ich nicht mehr lebend raus... auch wenn ich noch immer keine Ahnung habe, wieso ich da überhaupt erst hineingeraten bin. Aber vielleicht erfahre ich das ja noch.
Seufzend gehe ich in die Umkleide, ziehe mich aus und gleich darauf mit aller gebührender Vorsicht diesen wahr gewordenen Traum eines Sommerkleides an. Als ich einen prüfenden Blick in den Spiegel werfe, breche ich allerdings zumindest innerlich in Tränen aus. Obwohl... nein, nicht nur innerlich. Dieser eine Blick hat genügt, um mich endgültig zu deprimieren.
ES IST SO SCHÖN!!

Das Kleid reicht mir bis knapp über die Knie, sitzt nicht nur perfekt und sieht fantastisch aus, nein, es fühlt sich auch noch göttlich bequem an. Nichts kneift oder zwickt, der Stoff schmiegt sich weich an meine Haut und betont dabei auch noch dezent meine Figur, als wäre es nur für mich gemacht worden. Noch dazu passen die Farben Grün und Gold hervorragend zu meinen roten Haaren.
Ich revidiere meine Meinung über Izou.
Er ist ein MISTKERL!
Ernsthaft.
Ich hasse ihn.

„Na? Wie sieht es aus?", erklingt in diesem Moment von draußen auch noch seine melodische Stimme.
„Grauenhaft! Und es passt überhaupt nicht!", antworte ich leidend, während ich mir über die Augen fahre und mir wirklich wünschte, es wäre wahr. Dann wäre es jetzt wenigstens kein Akt der Qual, das Ding gleich wieder ausziehen zu müssen. Sein sorgloses Lachen erklingt, ehe der Trennvorhang plötzlich ungeniert schwungvoll aufgerissen wird und sein fröhliches Gesicht im Spiegel auftaucht.
„Ah, ja wirklich, ein einziges Desaster! Katastrophal! Geradezu unerhört!", ruft er glucksend und dreht mich mit kindlicher Begeisterung um die eigene Achse. Und wieder bringt er mich zum Lachen, auch wenn mir immer noch schleierhaft ist, was das Ganze hier soll. Zumal es mittlerweile auch schon ziemlich spät sein müsste, fällt mir in diesem Moment auf. Oh weia, wie lang war ich hier? Müsste er nicht langsam das Geschäft schließen? Ich wittere eine Fluchtmöglichkeit.
„Meine Rede, es ist wirklich furchtbar... also sollte ich es schnellstens wieder ausziehen. Und Sie sollten längst Ihren Laden schließen, ich will nicht länger..."
„Den hab ich schon zu gemacht! Keine Sorge Herzchen, lass dir Zeit", ruft es fröhlich aus dem Hintergrund und der Verkäufer wirft mir verschmitzt eine Kusshand zu, weshalb mir erst mal perplex der Mund runterklappt. Wie jetzt... was?! Erschrocken sehe ich mich um und kann tatsächlich keine anderen Leute mehr sehen.

Izou bemerkt meine Unruhe und hebt besänftigend die Hände.
„Keine Sorge, es ist nicht abgeschlossen, Sie können selbstverständlich jederzeit gehen. Es hängt nur das „geschlossen"-Schild an der Tür. Ich würde Ihnen jedoch gern eine Frage stellen, wenn es recht ist?"
Ich bin immer noch verwirrt, aber neugierig. Und da ich ihn zumindest aus Erzählungen kenne, zweifle ich garantiert nicht an seinen Absichten. Nur was wird das hier? Weiß er etwa doch, wer ich bin? Woher? Oder was könnte er sonst von mir wollen?
„Ähm... selbstverständlich. Um was geht es?", frage ich etwas angespannt. Er lächelt wieder und lässt die Hände sinken.
„Zunächst würde ich gern die Förmlichkeiten weglassen, einverstanden?", schlägt er zunächst vor, wovon ich gewiss nicht abgeneigt bin. Es fühlt sich merkwürdig an, einen von Marcos Brüdern zu Siezen. Etwas entspannter halte ich ihm sofort meine Hand hin.
„Aber gern. Ich bin Sina!"
Erfreut schlägt er ein.
„Izou, es ist mir ein Vergnügen, Sina!", erwidert er aufrichtig, ehe sein glänzender Blick an dem Kleid hängen bleibt. „Um gleich zum Punkt zu kommen: würdest du mir Modellstehen? Ich arbeite gerade an einer neuen Kollektion und ich brauche dringend Leute mit deinem Hautton und Haarfarbe! Selbst hier in diesem Land sind echte Rothaarige eher selten. Ein paar Herren hab ich schon gefunden, aber ich brauche definitiv noch Frauen mit Ausstrahlung... und die hast du. Was sagst du dazu? Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun und selbstverständlich würde ich dir auch eine angemessene Entlohnung anbieten!"

Ich blinzle mehrmals.
Meine Haare? Echt jetzt? Das war der Grund, weshalb er mich angesprochen hat?
„Modellstehen? Ich?", wiederhole ich völlig perplex, denn mit so etwas habe ich jetzt absolut nicht gerechnet. Das bin ich noch nie gefragt worden. „Äh... wie genau sähe das denn aus?"
Er lächelt, greift sacht an mein Kinn und dreht mich mit glänzenden Augen ins Seitenprofil.
„Einfach ausgedrückt spielst du stundenweise meine Barbiepuppe, der ich wahlweise mit meinem Zeichenblock oder mit Schere, Nadel und Faden zu Leibe rücke", antwortet er gut gelaunt. Bei diesen... wenig vertrauenerweckenden Worten ziehe ich beide Augenbrauen hoch.
„Dir ist aber schon klar, dass das wie der perfekte Beginn eines Psycho-Splatter-Films klingt, oder? Also genau der Moment, wo man als Zuschauer denkt: Lauf, Mädchen, lauf?", kommentiere ich etwas skeptisch.
Izou bricht in erheitertes Gelächter aus.
„Na dann weißt du ja, wie es weitergeht: das Mädchen sagt trotzdem ja, weil der Film doch sonst schon zu Ende wäre!", kontert er gewieft und grinst.
Lachend schüttle ich den Kopf. Verflucht. Warum ist er so sympathisch?! Das macht mir das Ganze nicht gerade einfacher... denn jetzt hab ich Angst, er könnte auch noch sauer sein, seine Zeit an mir verschwendet zu haben, sobald er erfährt wer ich bin. Na toll. Unschlüssig stehe ich da und kaue auf meiner Lippe herum. Er sieht mich gespannt an.
„Also, was hältst du davon? Ich beiße wirklich nicht! Und um dich direkt zu beruhigen: ich würde dich zwar gelegentlich in Unterwäsche sehen, aber ich bin kein Perversling und es werden weder Foto- noch Videoaufzeichnungen davon gemacht!"

Kurz huscht ein Grinsen über mein Gesicht.
„Gut zu wissen, aber das ist es nicht. Es ist... kompliziert...", murmle ich und überlege verzweifelt, wie ich das jetzt am besten ansprechen soll. Er legt den Kopf schräg und mustert mich aufmerksam.
„Was ist es dann? Es ist völlig legal, und wenn du dir unsicher bist, hab ich nichts dagegen wenn du Mann, Freund oder Mutter mitbringst!", bietet er großzügig an, und das sicherlich nicht zum ersten Mal. Verständlich, vermutlich ist das vielen nicht ganz geheuer... aber dahingehend befürchte ich tatsächlich gar nichts. Ich knibble unbehaglich an meiner Handtasche herum; völlig ahnungslos, wie ich das Dilemma jetzt lösen soll, in das ich mich da gebracht hab – oder besser gesagt meine Haare. Himmel Herrgott, ich hatte mich doch nur von meinen Problemen drücken wollen und falle stattdessen gleich noch einem Neuen in die Arme! Und zu allem Überfluss ist er auch noch so nett... und bietet mir einen dringen nötigen Zuverdienst an, der nicht nur meinen Kontostand aufbessern würde, sondern mich auch noch wieder mit schönen Kleidern in Kontakt bringen würde – was er wohl eher nicht mehr tun wird, wenn er erfährt, wessen Freundin ich bin... oder?
„Ich bin verflucht!", lautet also meine leicht weinerlich und verzweifelt klingende Antwort an ihn, was ihn – und seinen Mitarbeiter, der grade die Auslagen aufräumt - augenblicklich zum Prusten bringt.

„Okay... also DIESE Begründung für eine Absage hatte ich tatsächlich noch nie", lacht er und schüttelt erheitert den Kopf. „Was ist es denn für ein Fluch? Möglicherweise kann ich ihn ja brechen? Tut mir leid für meine Hartnäckigkeit, aber ich hab nicht umsonst meinen Kollegen hier nach passenden Leuten Ausschau halten lassen... und ich bin offen gestanden nicht gewillt, dich ohne eine Zusage hier wieder rausspazieren zu lassen!"
Ja, ganz eindeutig hat er viel Zeit mit Marco und Thatch verbracht – die Ähnlichkeit ist verblüffend. Was das Ganze aber nicht besser macht... sind es nicht meine Worte an Marco gewesen, die ihm erst vor ein paar Stunden geraten haben, lieber erstmal ohne mich mit seinem Bruder zu reden? Für den Fall, dass er mich auch nicht mag? Sieht ganz so aus, als hätte ich da meine eigenen Pläne durchkreuzt.
‚Verdammte, hübsche Jacke!'

Aber ganz unsympathisch scheine ich ihm ja nicht zu sein, also... vielleicht schmeißt er mich nicht sofort hochkant hier raus und meine Feigheit vor dem Familienfest könnte wenigstens noch was Gutes bewirken...? Ich seufze tief und sehe verzagt zu ihm hoch.
„Naja... du könntest ihn wohl tatsächlich brechen...", erwidere ich bang und hole tief Luft, ehe ich mir einen Ruck gebe. „Dafür müsstest du allerdings... die aufrichtige Entschuldigung deines Bruders annehmen, wenn er dich dieses Wochenende um Verzeihung bittet... und mich bitte auch nicht fressen, weil ich hergekommen bin...? Ich... naja, ich... wusste schon, wer du bist, weil in Marcos Haus viele Bilder von dir hängen und er mir auch schon viel über dich erzählt hat... aber ich schwöre, ich hatte gar nicht geplant, mich irgendwie einzumischen! Ich bin echt nur zufällig hier vorbeigekommen und ich war neugierig, weil diese Strickjacke im Schaufenster so gut ausgesehen hat und ich nicht widerstehen konnte... und... hab ich dich schon drum gebeten, mich nicht zu fressen? Oh man, es tut mir wirklich ehrlich leid... es war wirklich keine Absicht, hierherzukommen..." Hastig beiße ich mir auf die Zunge, um mein sinn- und planloses Gebrabbel abzuwürgen und ziehe schuldbewusst den Kopf ein.

Izous Augen weiten sich nach meinen Worten vollkommen überrumpelt; es hat ihm ganz offensichtlich die Sprache verschlagen. Womit auch immer er gerechnet hat - das ist es ganz sicher nicht gewesen. Eine ganze Weile betrachtet er mich stumm und nachdenklich, was mich jedoch schier wahnsinnig macht, weil ich seinen Ausdruck nicht deuten kann.
„Es... es tut mir leid, wirklich. Soll ich gehen?", durchbreche ich schließlich vorsichtig die angespannte Stille. Daraufhin lässt er seinen Atem langsam und geräuschvoll entweichen, was eine leichte Panik in mir auslöst – oh Gott, was hab ich nur angestellt?! Dann nickt er plötzlich auch noch mit dem Kopf Richtung Eingangsbereich des Ladens.
„Komm mit!", sagt er seufzend. Mein Herz setzt aus. Schmeißt er mich wirklich raus? Oh nein, ich hab Mist gebaut und ganz bestimmt alles noch schlimmer gemacht!! Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich das wieder gutmachen? Und wie soll ich das Marco erklären?!

Als ich nicht sofort reagiere, sieht er erneut zu mir und hebt verdutzt seine Augenbrauen. Dann scheint ihm ein Licht aufzugehen und ein belustigtes Schmunzeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
„Keine Panik, ich meinte damit nach hinten - in mein Atelier! Ich brauche jetzt wirklich eine Tasse Tee, willst du auch eine?", beruhigt er mich sichtlich erheitert.
Wie jetzt... Tee? Ehrlich? Doch kein Katastrophenszenario, das ich wegen einer verdammten Strickjacke ausgelöst hab? Bodenlos erleichtert atme ich aus und fahre mir gestresst durchs Gesicht. Ja, meine Nerven könne einen heißen, möglichst süßen Tee definitiv gebrauchen; ich bin grade fix und fertig.
„Den nehm ich sehr gern, vielen Dank. Ähm... kann ich mich vorher noch kurz umziehen?", frage ich zaghaft.
„Natürlich! Ich warte kurz", erwidert er locker, ehe sein Lächeln breiter wird. „Aber bitte hör auf mich so anzusehen, als ob du hier wirklich mit einem Splatterfilm rechnest!"
Ich werde rot, muss aber unweigerlich etwas lachen.
„Tut mir leid, ich werds mir verkneifen. Ähm... es wird also wirklich keiner?", hake ich dennoch etwas kleinlaut nach, weshalb er mich ungläubig ansieht.
„Was hat Marco dir bloß über mich erzählt?"

Verzeihend lächle ich ihn an, ehe ich in der Umkleide verschwinde und mich in Höchstgeschwindigkeit umziehe. Das Kleid hänge ich mit geradezu peinlicher Sorgfalt wieder auf den Bügel und achte penibel darauf, auch ja kein Fältchen zu hinterlassen. Von draußen höre ich, wie sich der Angestellte von Izou verabschiedet und ihm ein schönes, verlängertes Wochenende wünscht. Ah richtig, er macht ja auch länger zu, genau wie Marco. Langsam frage ich mich wirklich, welche Ausmaße diese Party annimmt und in welchem Zustand ich meinen Liebsten zurückbekomme.
Wie versprochen steht Marcos Bruder noch da, als ich den Vorhang beiseiteschiebe. Er nimmt mir das Kleid ab und bedeutet mir erneut, ihm zu folgen. Gemeinsam durchqueren wir den Verkaufsraum und betreten durch eine pinke Tür sein Atelier. Es ist ein sehr heller, überraschend weitläufiger Raum, bestückt mit einem riesigen Schreibtisch, diversen Puppen, Regalen voller Stoffballen, Schneiderzubehör und anderen Dingen. Es gibt aber auch eine kleine Küche inklusive gemütlicher Sitzecke. Dorthin lotst er mich, hängt das Kleid auf dem Weg dorthin an eine leere Stange und setzt Wasser auf. Während er wartet, dreht er sich zu mir und mustert mich sehr aufmerksam.

„Also... hab ich das jetzt richtig verstanden: du bist wirklich Marcos feste Freundin?", beginnt er ruhig, aber unübersehbar höchst interessiert das Gespräch.
„Genau... aber noch nicht lang, erst seit ein paar Wochen. Außer Ace und Thatch weiß noch niemand aus deiner Familie von uns", antworte ich sofort. Noch immer bin ich ein wenig nervös und hab vor allem keine Ahnung, ob dass, was ich hier mache, eine gute Idee ist... oder eine ganz, ganz schlechte. Er scheint zu ahnen, was in mir vorgeht, denn er schmunzelt verhalten.
„Hab ich nicht gesagt, dass du hier keinen Splatterfilm befürchten musst? Und ich neige auch nicht zum Kannibalismus, Ehrenwort..."
Mein Mundwinkel zuckt automatisch hoch.
„Schon, aber das sagen die Psychopathen in den Filmen doch auch immer, oder? Irgendwie halten die sich dann aber nie dran...", kontere ich lauernd, was sein Grinsen verschlagen werden lässt.
„Bitte, wenn dir das so wichtig ist, können wir auch unten im Keller reden. Kalt, hässlich, uralte Heizkessel... atmosphärisch also perfekt für einen Splatterfilm. Und wenn ich die Stahltür da unten abschließe, hört uns auch niemand mehr!", lautet sein gekonnt bedrohlicher Vorschlag, doch bei meinem entsetzten Blick bricht er in prustendes Gelächter aus und schüttelt höchst belustigt den Kopf, ehe er das kochende Wasser in eine Porzellanteekanne füllt und ein Teesieb hineinhängt. Zusammen mit zwei Tassen, zwei Löffeln und einer Dose Kandiszucker stellt er sie auf den Tisch und setzt sich mir gegenüber, wo er mich erneut neugierig mustert. „Ich bin wirklich überrascht... aber auch froh, dass Marco sich endlich wieder getraut hat, jemanden in sein Leben zu lassen. Wie kams dazu, wenn ich fragen darf?"

Verlegen lächle ich.
„Naja... ich bin vor ein paar Monaten aus England hierhergezogen und hab hier einen Job gesucht. Marcos Kollege Shanks hat mich als Krankheitsvertretung für seine eigentliche Arzthelferin Bonney eingestellt, und so haben wir uns kennengelernt; ich arbeite also für ihn. Tja und... dann ging es eigentlich ziemlich schnell. Es hat einfach gepasst zwischen uns... auch wenn ichs manchmal immer noch nicht recht glauben kann, dass so ein unglaublich toller Mann wie er mich tatsächlich mag. Er ist echt was Besonderes...", antworte ich ein wenig versonnen, was ihm trotz seines erst überraschten Blickes ein Schmunzeln entlockt.
„Verstehe, eine Romanze am Arbeitsplatz also... interessant. Wenn man sich täglich über den Weg läuft, kam er wohl nicht aus, was?", sinniert er erheitert, ehe er wieder ernster wird und mich mit unergründlichem Blick ansieht. „Aber was meintest du vorhin mit ‚seine Entschuldigung annehmen'?"
Verdutzt sehe ich ihn an.
„Naja... Marco hat mir von eurem Streit erzählt... er hat gesagt, er wäre all die Jahre zu feige gewesen, um sich bei dir zu entschuldigen, aber das will er dieses Wochenende endlich nachholen", erkläre ich ihm vorsichtig, ehe ich nach einem kurzen Zögern weiterspreche – und hoffe, dass ich Marco damit nicht zu nahe trete. Doch es würde mich wirklich glücklich machen, wenn die beiden ihren Streit beilegen und wieder zueinander finden würden! Mit etwas Glück kann ich ja doch etwas Positives dazu beitragen. Einen Versuch ist es zumindest wert. „Er ist... ziemlich nervös deshalb, ehrlich gesagt. Weil er Angst hat, dass er zu lange gezögert hat... und du ihm sein Verhalten dir gegenüber nicht verzeihen kannst. Er bereut es unheimlich und es tut ihm wahnsinnig leid, was er getan hat... es würde ihm die Welt bedeuten, wenn du wieder mit ihm reden würdest!"

Izou entkommt ein leises, schweres Seufzen, während er gleichzeitig sein Gesicht kurz hinter den Händen verbirgt.
„Ah, Commander...", murmelt er tonlos, was meinen Blick besorgt werden lässt. Vor allem, weil ich seinen Ton nicht recht deuten kann; ist er genervt? Traurig? Ärgerlich? Verbittert?
„Ähm... Izou? Alles in Ordnung?", spreche ich ihn schließlich nach einem langen Moment der Stille etwas zögerlich an und reiße ihn damit auch aus seinen Gedanken. Zumindest lässt er die Hände wieder sinken und schenkt mir ein dünnes, verzeihendes Lächeln.
„Tut mir leid. Es ist nur... hah, das ist so typisch für ihn...", brummelt er und hebt prüfend den Deckel der Teekanne hoch, ehe er uns beiden einschenkt.
„Was ist typisch?", hakte ich vorsichtig, aber unbestreitbar neugierig nach und nehme dankend meine Tasse entgegen. Izou gibt ein paar Stücke Kandis in seinen Tee.
„Lass mich raten... er gibt sich allein die Schuld an den Ereignissen, oder? Er hat die ganze Verantwortung für unseren Streit auf seine Schultern gepackt und es dir so erzählt, als hätte nur er sich falsch verhalten, hab ich recht?", stellt er statt einer Antwort eine Gegenfrage – und schon als ich ihn überrascht ansehe, bestätigt das seine Vermutung.

„Ja... war das nicht die Wahrheit?", entgegne ich verwirrt, denn so überzeugt, wie er mir das alles geschildert hat, bin ich überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, dass das so womöglich gar nicht stimmen könnte. „Marco hat erzählt, dass du ein viel besserer Menschenkenner bist als er und Celine von Anfang an nicht getraut hast. Aber er wollte nichts davon hören... so habt ihr euch seinetwegen erst immer mehr entfremdet und dann, als du ihm schließlich die Beweise für ihre Betrügereien vorgelegt hast, hat er dir nicht geglaubt und dich auch noch ziemlich grob rausgeworfen... aber ein paar Tage später ist er deinen Vorwürfen eben doch auf den Grund gegangen und hat feststellen müssen, dass du die Wahrheit gesagt hast..."
Jäh zucke ich zusammen, als Izou plötzlich freudlos auflacht und sich gleich darauf mit beiden Händen und einem hörbar frustrierten Laut durchs Gesicht fährt.
„ARGH! Verdammt nochmal, das ist ja sogar noch viel schlimmer als ich dachte!! Oh, man... es tut mir leid, dir das zu sagen, aber: ich werde ihn treten müssen. Und zwar kräftig!", prophezeit er unheilvoll, doch sein Tonfall klingt mehr nach komischer Verzweiflung als nach ernsthafter Wut. Mir entkommt unwillkürlich ein Glucksen.
„Nachdem ich schon gesehen hab, wie liebevoll Marco und Thatch miteinander umgehen, erschreckt mich das jetzt nicht sonderlich...", gebe ich belustigt zurück und nehme einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Tee. Oh, der ist wirklich gut! Er schmeckt fruchtig und sehr aromatisch, weshalb ich gleich noch einen zweiten trinke. „Aber weshalb genau hat Marco jetzt einen Tritt verdient? Was ist denn falsch an seiner Erzählung?"

Izou seufzt, dann sieht er mich jedoch plötzlich sehr aufmerksam, fast schon herausfordernd an.
„Was hältst du für Marcos größte Schwäche?", will er dann unvermittelt von mir wissen und verschränkt die Arme vor der Brust. Etwas überrumpelt von der scheinbar zusammenhanglosen Gegenfrage blinzle ich ihn an... bis mir bewusst wird, dass er mich damit wenig subtil auf die Probe stellt. Er will wissen, wie gut ich Marco kenne... vermutlich, um auch mich besser einschätzen zu können. Was mich natürlich sofort echt nervös macht.
„Jetzt fühl ich mich wie bei meiner Abiprüfung... wirfst du mich raus, wenn ich durchfalle?", entkommt es mir etwas kleinlaut, was ihn ziemlich verschlagen grinsen lässt.
„Viel schlimmer: wenn du versagst, schleif ich dich doch noch in den Heizungskeller und du bekommst deinen Splatterfilm...", gibt er fröhlich zurück – und macht das Ganze damit natürlich kein bisschen besser. Absichtlich. Mir schwant langsam, dass Izou von allen Brüdern, die ich bisher kennengelernt habe, der Unberechenbarste und Undurchschaubarste ist. Vielleicht auch der skrupelloseste.
„Danke... das beruhigt mich...", murre ich mit vorwurfsvoll zusammengekniffenen Augen, doch auf seinen ungerührt-abwartenden Blick hin seufze ich und fahre mir nervös über die Schläfe, während ich über die Antwort nachdenke.

Marcos größte Schwäche... oh Gott.
Das ist eine verdammt fiese Frage, weil er mir doch immer so perfekt vorkommt und es mir generell schwerfällt, diesen eindrucksvollen Mann mit Schwäche überhaupt erst in Verbindung zu bringen. Aber meine Schwärmerei für ihn hilft mir in diesem Moment wenig, also versuche ich, sie bestmöglich beiseitezuschieben und ihn möglichst neutral zu betrachten... denn auch wenn ich natürlich nicht davon ausgehe, dass das hier tatsächlich in einem Splatterfilm endet – ich weigere mich schlicht, hierbei zu versagen! Vor allem vor Izou, der nach der letzten Katastrophe allen Grund zum Misstrauen bei mir hat.
‚Also dann los jetzt, konzentrier dich...'
Zunächst kommt mir nur sein verwundbares Selbstwertgefühl in den Sinn, das ja durch dieses widerliche Verhalten von Celine so arg in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Er hat vermutlich schon immer Angst gehabt, zurückgewiesen zu werden... was bei einem Heimkind mit seiner Vorgeschichte wenig verwunderlich ist. Das Gefühl, nicht gewollt zu sein oder... irgendwie nicht wertvoll genug zu sein, hat ihn ja leider lange Zeit begleitet. Aber was könnte das damit zu tun haben, dass Marcos Geschichte über den Streit mit Izou nicht stimmen könnte? Er hat mich keinesfalls irgendwie angelogen und auch nichts absichtlich weggelassen, das weiß ich ganz bestimmt – so gut kenne ich ihn auf jeden Fall. So, wie er es mir erzählt hat, ist es für ihn auch passiert, und es lastet schwer auf ihm. Weil er seinem eigenen Bruder nicht genug vertraut hat, obwohl doch seine Familie für ihn das Wertvollste in seinem Leben ist und er nie etwas Schlechtes...

Moment.

Grübelnd lege ich die Stirn in Falten, als mir da plötzlich ein Gedanke kommt.
„Seine Familie...", murmle ich, was Izou interessiert die Braue heben lässt.
„Seine Familie ist seine Schwäche?", hakt er nach, doch ich schüttle leicht den Kopf und sehe ihn ernst an.
„Nicht direkt... aber seine Familie ist das Wichtigste für ihn, sie ist ihm regelrecht heilig. Sein Vater und seine Brüder bedeuten ihm alles, darum hängt es ihm ja auch so schlimm nach, dass er einen davon verletzt hat! Aber genau deshalb... würde er wohl eigentlich auch nie etwas Schlechtes von ihnen denken, oder?", führe ich meinen Gedankengang aus und seufze leise. „Wenn also irgendwas vorfällt... egal was... würde er sich allein die Schuld dafür geben, genau wie damals bei Thatchs Unfall, obwohl sie doch beide zu nah an dieser Treppe gerauft haben. Dass auch Thatch besser hätte aufpassen müssen oder vernünftiger sein sollen, kam ihm überhaupt nie in den Sinn..."
In Izous Augen flackert warme Anerkennung auf, doch sein Lächeln ist traurig.
„Du kennst ihn gut... es ist also tatsächlich was Ernstes, was? Ich freu mich für euch, wirklich. Genauso, wie du gesagt hast, ist es - und genauso war es auch damals. Natürlich hat Marco Mist gebaut und war ein echter Arsch... aber ich wars nicht weniger, glaub mir. Dass es so eskaliert ist, das hab ich genauso zu verantworten wie er... und im Grunde genommen bin ich sogar schuld daran, dass er am Ende so zusammengebrochen ist", gesteht er überraschend ehrlich... und ziemlich bitter. Impulsiv greife ich über den Tisch und will ihn tröstend am Arm berühren, bremse mich jedoch im letzten Moment unsicher. Ich kenne ihn ja erst wenige Minuten; darf ich das überhaupt?

Bevor ich mich jedoch für ein Handeln entscheiden kann, hat Izou sich meine peinlich in der Luft hängende Hand geschnappt und – zieht sie für einen charmanten Handkuss an seine Lippen.
„Keine Angst, ich beiße nicht und leide auch nicht an Berührungsängsten... und wie es aussieht, gehören wir ja jetzt auch zur selben Familie, also keine Scheu!", kommentiert er mit einem schiefen Lächeln ziemlich scharfsinnig mein stummes Dilemma, was mir vor Verlegenheit prompt die Röte ins Gesicht treibt.
„Deshalb hat Marco also damals mit dir an seinen empathischen Fähigkeiten gearbeitet... du kannst Menschen wirklich lesen wie ein Buch, was?", erwidere ich peinlich berührt, ziehe meine Finger zurück und nehme ablenkend einen Schluck Tee. Izous Lächeln fällt bei meinen Worten; stattdessen schließt er in einer schmerzlichen Geste kurz die Augen.
„Er hat dir auch davon erzählt... spricht er wirklich so viel von mir?" Auf mein ernstes Nicken hin seufzt er. „Ja, stimmt. Ich kann die Menschen um mich herum im Normalfall wirklich gut einschätzen und mich dementsprechend auch verhalten... vorausgesetzt natürlich, ich steh mir dabei nicht selbst im Weg..."

„Was meinst du damit?", hakte ich leise nach und sehe ihn besorgt an. Zumindest ist es mehr als deutlich, dass dieser ganze unglückliche Streit auch Izou schwer auf der Seele liegt und Marco ihm nach wie vor etwas bedeutet. „...also falls du mit mir darüber reden willst, versteht sich. Ich verstehs total, wenn dir das zu persönlich ist, ich wäre dir ganz sicher nicht böse! Es reicht völlig, wenn du mit Marco darüber sprichst..."
Nachdenklich sieht er mich daraufhin eine kleine Weile lang schweigend an, ehe er sich schließlich mit einem resignierten Lächeln zurücklehnt.
„Im Normalfall bin ich tatsächlich niemand, der mit Fremden einfach so über so private Dinge spricht... aber... nachdem ich mich beim letzten Mal von Anfang an wie der allerletzte Arsch benommen hab, bin ich es Marco wohl schuldig, mich diesmal gleich wie ein potenzieller Schwager zu verhalten, was?", entgegnet er etwas selbstironisch, greift zu der Teekanne und schenkt uns beiden nach, ehe er zu erzählen beginnt.

„Also gut, um das Ganze besser verstehen zu können, muss ich etwas weiter ausholen..."

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