Unerwartet

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Sina



„Da wären wir!", reißt mich Marcos Stimme einige Minuten später aus meinen Gedanken. Nach diesem unerwartet intensiven Gespräch haben wir die restliche Zeit in einträchtigem Schweigen verbracht. Erstaunt schaue ich auf das kleine, moosgrüne Gebäude mit der roten Tür und den mit Büchern vollgestopften Schaufenstern. Es sieht ziemlich...
„Klein auf den ersten Blick, nicht wahr?", schmunzelt Marco wissend. „Der Eindruck täuscht, komm!" Ich folge ihm nach drinnen - und woha!! Und wie der Eindruck täuscht!
Innen ist es nicht nur weitläufiger als es von außen wirkt, sondern es führen auch Wendeltreppen in das Unter- und Obergeschoss. Riesige, sorgfältig beschriftete Bücherregale säumen die Gänge, dazwischen sind viele Leseecken mit gemütlichen Sesseln und altmodischen Tischlampen auf kleinen Kaffeetischchen verteilt. Der dunkle Holzboden und die vertäfelten Wände tun ihr Übriges, um die perfekte Leseatmosphäre zu schaffen.


Amen!!!

„Es. Ist. Der. Hammer!", flüstere ich überwältigt, was Marco breit grinsenlässt.
„Sehe ich auch so. Ich hab diesen Ort nur durch Zufall entdeckt, aber seit demkomme ich nur noch hier her. Was liest du am liebsten?"
„Querbeet eigentlich, am liebsten Fantasy und historische Romane, aber auchKrimis und Zeitzeugenberichte. Und ich brauche unbedingt ein paar Wanderguidesvon der Umgebung, damit ich den Sommer so richtig ausnutzen kann!", zähle ichvoller Tatendrang auf und suche schon die Regale nach den richtigen Genres ab.Er sieht mich jedoch auf einmal mehr als nur überrascht an.
„Du wanderst gern?!", stößt er ungläubig hervor – und gütiger Gott, selbst wennich das nicht täte: bei diesen hoffnungsvoll-begeisterten Augen würde ich aufder Stelle damit anfangen.
„Und wie! Ich bin wahnsinnig gern in der Natur. Sag bloß du auch?", will ichmit glänzenden Augen wissen. Eine Gemeinsamkeit, juhu!
Er lacht auf.
„Natürlich! Ich verbring so viel Zeit wie möglich draußen. Warst du hier schonunterwegs?", will er mit sichtlichem Tatendrang wissen, der mich augenblicklichansteckt. Bedauernd schüttle ich auf seine Frage jedoch den Kopf.
„Ich bin erst seit knapp drei Monaten hier, mein Fokus lag bisher darauf, michin Dublin zurechtzufinden, meine Wohnung einzurichten und eine Arbeit zu finden!",gebe ich seufzend zurück.
„Nachdem du diese Punkte ja inzwischen vermutlich abgehakt hast, lässt sich dasdoch sicherlich ändern...", schmunzelt Marco und zieht mich direkt in dieAbteilung für Reiseführer.

******

„Entschuldigung, wir schließen in zehn Minuten!"
Marco und ich starren die Bibliothekarin sicherlich mit demselben perplexenGesichtsausdruck an, die uns da so aus unserer Versunkenheit reißt. Ein ungläubigerBlick auf mein Handy bestätigt ihre Worte, es ist tatsächlich schon kurz vorsechs. Mist.
Fast anderthalb Stunden sind wir also jetzt nebeneinander auf einem Sofa gesessenund haben Irlands Wanderkarten und -ziele gewälzt; mit geradezu kindlicherBegeisterung. Marco war schon fast auf dieser Insel und hatte eine Menge Geschichtenund Geheimtipps über diverse Strecken und Ziele parat, die ich mir mitwachsender Faszination angehört hab. Es hat so verdammt gut getan, endlicheinmal mit jemandem über diese Leidenschaft zur Natur zu sprechen und all meinekleinen und großen Sorgen des Alltags auszublenden!! Ihm scheint es ähnlichgegangen zu sein, zumindest hab ich ihn noch nie so viel und so ausgelassenreden hören. Hab ich schon mal erwähnt, was für eine angenehme Stimme dieserMann hat?
Vermutlich hätten wir locker noch weitere zwei Stunden mit den Wanderkartenverbringen können, bevor einem von uns vielleicht die verstreichende Zeitaufgefallen wäre.

„Danke, wir sind gleich weg!", fängt sich Marco als erster und sieht mich miteinem etwas wehmütigen Ausdruck an - also genau so, wie ich ihn auch ansehe.Erst jetzt fällt mir auf, wie nah wir uns im Laufe unserer Bücherexpeditiongekommen sind: unsere Schultern und Knie berühren sich, und verdammt, er riechtabgöttisch gut! Nicht nur das herbe Aftershave, sondern auch sein Eigengeruchvernebelt mir buchstäblich die Sinne. Mir wird auf einmal ziemlich heiß undmein Atem stockt. Hastig drehe ich den Kopf weg und räuspere mich verlegen,bevor es peinlich wird.
„Ähm, ja, dann sollten wir besser gehen!", stimme ich seufzend zu und zwingemich regelrecht dazu, aufzustehen. Gemeinsam klappen wir die Bücher zu undsammeln sie zusammen, ehe wir sie wieder ordentlich in den Regalen verstauen.
„Tut mir echt leid, jetzt hast du dir nicht mal was ausleihen können. Ich hättedich nicht so beanspruchen sollen, yoi?", bemerkt Marco beim Aufräumen zerknirscht,woraufhin ich ihn mit einem ehrlich empörten Blick bedache.
„Bist du verrückt? Hey, erstens weiß ich doch jetzt wo dieses Schmuckstück von Bibliothekist und kann einfach morgen wiederkommen, und zweitens: so viel Spaß hatte ich wirklichschon ewig nicht mehr! Also bitte, entschuldige dich bloß nicht dafür, sonstruinierst du noch den schönen Nachmittag!", schimpfe ich ihn resolut und stelledas letzte Buch ins Regal zurück.

Marcos Augenbrauen wandern zuerst überrascht nach oben, dann lächelt er.
„In dem Fall tut es mir leid, mich entschuldigt zu haben, yoi?", korrigiert er sichsichtlich zufrieden.
Gemeinsam verlassen wir die Bibliothek, damit die Damen endlich abschließen undin ihren verdienten Feierabend gehen können. Draußen ist es merklich kühlergeworden, obwohl die Abendsonne noch scheint. Unschlüssig bleibe ich neben ihmstehen und beiße mir leicht auf die Lippe. Alles in mir sträubt sich dagegenmich jetzt von ihm zu verabschieden; die Zeit mit ihm war so viel schönergewesen, als ich es mir erhofft hatte, und zum ersten Mal seit langem fühle ichmich so richtig rundum wohl. Aber ich will nicht aufdringlich sein und außerdemhabe ich ihn wirklich lange genug aufgehalten. Es war wirklich lieb genug vonihm, mir vor seiner eigenen Verabredung mit seinen Freunden die Bücherei zu zeigen!

„Dann werd ich dich mal nicht länger beanspruchen. Vielen Dank, dass du michhergebracht hast, das weiß ich echt zu schätzen! Und danke auch für deineGesellschaft", fange ich deshalb aufrichtig an, doch zu meiner Verwunderunglegt er den Kopf schräg und sieht mich stirnrunzelnd an.
„Willst du mich schon loswerden?", fragt er ernst und bringt mich damitziemlich aus dem Konzept.
Verwirrt blinzle ich ihn an.
„Äh... nein, natürlich nicht. Aber ich dachte... triffst du dich nicht mitShanks?"
„Doch, schon. Aber erst in zwei Stunden, also hab ich noch Zeit, yoi?"
Also doch noch kein Abschied! Als sich in meinem Gesicht aufrichtige Freude undErleichterung breit machen, atmet er jedoch plötzlich tief ein und schließtkurz die Augen - als ob er sich wappnen müsste. Stirnrunzelnd und ein wenig besorgt sehe ich ihn an.
Was hat er denn auf einmal? Hab ich was Falsches gesagt oder getan?

„Wenn ich dich... jetzt spontan zum Essen einladen würde... würde das dann als... alsein erstes Date zählen?", kommt es dann jedoch völlig unerwartet von ihm und lässt mich erstarren. Er öffnet die Augen wieder und mich mit einem ziemlich nervösen, angespannten Ausdruck abwartendan.
Als die Bedeutung seiner Worte mit etwas Verzögerung bei mir ankommt, entgleisen mir bei dieser vollkommen unerwarteten Wendung des Tages die Gesichtszüge.

Ein... Date?

Ein richtiges Date?!

Er... Marco findet mich... aber... ER MAG MICH?! WIRKLICH??


Ich kann einfach nicht glauben, was ich da grade gehört hab.
Meint er... das tatsächlich ernst? Er will wirklich mit mir Essen gehen... und zwar mit tiefgründigerenAbsichten als einem kollegialen Beisammensein? Oh mein Gott... also bin ich... nicht die einzige, die hier nach nurwenigen Tagen des Kennenlernens heimlich schwärmt? Aber hat Shanksnicht – unhöflicherweise – gesagt, dass Marco schon fast seit vier JahrenSingle gewesen ist? Und ausgerechnet mit mir will er das ändern?!
Es dauert einen langen Moment, bis sich meine Fassungslosigkeit und meine rasenden Gedanken wieder einwenig beruhigen... und sich stattdessen eine riesige Woge aus Vorfreude, Glück undAufregung in meinem ganzen Körper ausbreitet, als mir so richtig bewusstwird,was das bedeutet.
Marco hat mich grade um eine Verabredung gebeten... und zwar gleich hier und jetzt!!

Vermutlich strahle ich ihn in diesem Moment an wie ein radioaktiverChristbaumengel, aber ich kann so gar nichts dagegen tun.
„Ja, ich... ich würde sagen, das wäre dann wohl ein Date", antworte ich einwenig zittrig, wobei meine Stimmlage gleich mal zwei Oktaven höher rutscht vorFreude. Bei meiner - meiner vollkommenen Überraschung geschuldeten - leicht verzögerten Antwort atmet bodenlos erleichtert auf. Undschenkt mir gleich darauf ein so atemberaubendes Lächeln, das mir erneut dieKnie weich werden.
Trotzdem kann ich die plötzliche Wendung kaum fassen,weshalb ich...
„Du meinst das auch wirklich ernst? Du... lädst mich wirklich zu einemrichtigen Date ein?" ...nochmal ganz oberpeinlich nachfrage.

Gut gemacht, das wird ihn total von dir überzeugen!', lobe ich mich inGedanken sarkastisch. Doch zu meinem Glück scheint er es mir nicht übel zunehmen. Sein Gesichtsausdruck wird sanfter, als er mir direkt in die Augensieht.
„Ja, das meine ich völlig ernst. Geplant war das nicht, aber... du hast recht,der Nachmittag war wirklich schön, obwohl wir nicht mal etwas Besonderesgemacht haben, yoi? Ich will ihn einfach noch nicht beenden. Ich... genieße dieZeit mit dir, Sina, auch in der Praxis - und das ist ein Gefühl, das ich schon langenicht mehr hatte. Ich möchte dich gern besser kennenlernen. Ist das in Ordnungfür dich oder... spricht für dich etwas dagegen?"
Dagegen...? Ich sehe ihn erstaunt an und versuche, mein glückstrunkenes Gehirnwieder in den Standartmodus zu versetzen.
„Was wären denn Gründe dagegen? Außer, dass du mein Chef bist und das Ganzeetwas klischeehaft wirken könnte?", frage ich schelmisch und seine Mundwinkelzucken kurz nach oben.
„Ja, zum Beispiel. Oder die Tatsache, dass wir uns erst seit fünf Tage kennen,oder dass ich... deutlich älter bin als du", fährt er fort, und ich kann seineUnsicherheit bei dem letzten Punkt klar heraushören. Der Altersunterschiedscheint ihm selbst etwas auszumachen. Warum bloß? ‚Älter' bedeutet doch nichtgleich ‚alt' - und bei allem, was mir heilig ist: absolut nichts an Marco wirktauch nur ansatzweise alt! Im Gegenteil... und das sollte ich ihm wohl besser direktklar machen, oder?

Ich trete näher an ihn heran, bis ich ihn mit meiner Schulter spielerischanremple.
„Dein Alter macht dich nur attraktiver, Herr Doktor!", raune ich ihm zu undentferne mich gleich darauf wieder. Marco ist zuerst erstarrt, dann huscht soetwas wie ein verdorbenes Schmunzeln über sein Gesicht - nur ganz kurz, doch esjagt mir einen verheißungsvollen Schauer über den Rücken.
Oho... haben wir davielleicht einen Wolf im Schafspelz, Herr Doktor?, denke ich verschmitzt,verkneife mir aber jede Äußerung dazu. Mit etwas Glück... finde ich es einesTages noch heraus.
„Also, wo wollen wir hin? Schwebt dir schon was Bestimmtes vor?", frage ichneugierig, um die zweideutige Stille zu durchbrechen. Nachdenklich tippt ersich ans Kinn, dann lächelt er schief.
„Isst du gern Fisch?", will er interessiert wissen, was ich sofort mit einemNicken quittiere – wobei ich generell ein sehr anspruchsloser Esser bin. Ichmag eigentlich alles, viel falsch machen kann er bei mir also ohnehin nicht.

„Oh ja, den hatte ich schon länger nicht mehr!", antworte ich wahrheitsgemäß.
„Perfekt! Dann... darf ich bitten, die Dame?" Mit einem verschmitzten Funkelnin den Augen bietet er mir tatsächlich seinen Arm an, wie ein echter Gentleman.
Im ersten Moment versetzt mir das jedoch einen leichten Stich; ich bin mit solchenUmgangsformen – bedauerlicherweise – aufgewachsen und habe sie in absolutkeiner guten Erinnerung. Doch... Marco ist der erste Mensch in meinem Leben, beidem ich das weder als geheuchelt noch als unangenehm empfinde.

Von ihm und mir gleichermaßen überrascht, lege ich meinen Arm in seinen.





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