Das dritte Date

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Sina

Es ist zehn vor acht.
Zum gefühlt drölfzigsten Mal an diesem Morgen checke ich meinen Rucksack durch und prüfe nervös mein Aussehen im Spiegel. Meine Haare hab ich heut einfach nur zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden, ich trage meine schwarze Lieblingscaprihose, wetterfeste Wanderschuhe und über meinem gelben T-Shirt eine orangene Fleecejacke. Müsste passen... oder? Himmel, bin ich aufgeregt!
Und ich hab sicher alles nötige eingepackt? Vielleicht sollte ich lieber doch nochmal...

Es klingelt.

Mit einem unterdrückten Jauchzen schnappe ich meinen Rucksack und meinen Schlüssel und sprinte in Höchstgeschwindigkeit nach unten. Dort angekommen reiße ich übermütig die Tür auf.
„Guten Morgen Herr Doktor!"
Marco, der in seiner grauen Cargohose und dem hellblau-karierten Flanellhemd über seinem weißen Shirt geradezu verboten gut aussieht, lacht.
„Wollten wir die Titel außerhalb der Arbeitszeit nicht weglassen?", fragt er belustigt. Doch eine Antwort scheint er nicht zu wollen, denn er zieht mich umgehend an der Hüfte zu sich und haucht mir zwei zärtliche Küsse auf die Lippen. „Wandersachen stehen dir wirklich ausgezeichnet..."
Ich lasse meinen Blick bewusst etwas provokant an ihm herabgleiten, ehe ich ihm verschmitzt zulächle.
„Ja... kann ich nur zurückgeben. Wir können ruhig öfter wandern gehen!", erwidere ich doppeldeutig, was ihm ein durchtriebenes Schmunzeln entlockt.
„Dann sollten wir besser fahren, yoi? Nicht, dass du plötzlich anderweitig auf Wanderschaft gehst..."
Oho, was für ein gelungenes Wortspiel! Mein Lächeln wird breiter.
„Du hast recht, wir sollten wohl wirklich fahren...", erwidere ich unschuldig und gehe an ihm vorbei Richtung Auto. Knapp hinter ihm füge ich jedoch noch ein leises „...sonst kommen wir hier gar nicht erst weg!" hinzu. Ich höre ihn geräuschvoll einatmen, gehe aber unbeirrt weiter zu seinem Wagen und verkneife mir ein Kichern.

Es macht mir unheimlich viel Spaß ihn so aus der Reserve zu locken, aber das ist nicht der Hauptgrund dafür, dass ich es mache. Zuerst hatte ich Marco allgemein eher passiv und sanftmütig eingeschätzt, doch spätestens seit Donnerstag bin ich mir da nicht mehr sicher. Dieser letzte Kuss war derart überwältigend, dass allein der Gedanke daran meine Atemfrequenz beschleunigt. Plötzlich ist er ganz anders gewesen... so dominant, unbeherrscht und leidenschaftlich! Es kommt mir so vor, als würde er diese Seite an sich unterdrücken - oder er hat sie so lange unterdrückt, dass er gar nicht mehr weiß, dass sie da ist. Ich muss ehrlich zugeben, dass es mich reizt. Ich will wissen, wie er wirklich ist - vor allem, weil ich auf gar keinen Fall möchte, dass er sich bei mir verbiegt oder etwas von sich zurückhält.
Schweigend steigen wir ein.
„Und wohin entführst du mich heute?", frage ich neugierig, während ich mich anschnalle und er losfährt. Marco lächelt.
„Auf einen meiner liebsten Wanderwege hier", antwortet er. „Magst du Wasserfälle?"
„Und wie!" Begeistert strahle ich ihn an. „Ist es weit?"
„Nein, nur etwa fünfundvierzig Minuten. Und ich schätze, die Zeit kriegen wir schon rum, yoi?", schmunzelt er und wirft mir einen neckenden Blick zu.
„Keine Ahnung, wir kennen uns ja jetzt schon volle zwei Wochen... da könnten uns die Gesprächsthemen schon ausgehen!", erwidere ich grinsend.
Marco schnaubt amüsiert.
„In dem Fall könnte es doch eine längere Autofahrt werden..."

******

Mehr als vier Stunden später sind uns die Gesprächsthemen noch immer nicht ausgegangen.
Die Autofahrt war schnell vorbei und sehr entspannt - Marco ist ein ausgezeichneter Fahrer, auch wenn er es mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen außerorts nicht ganz so genau nimmt. Ich bin doch etwas neidisch auf seine PS... zwar liebe ich meinen schnuckeligen, gelben VW Käfer wirklich, aber diese kleine Temposchnecke hat bereits Probleme damit, Lastwagen zu überholen. Netterweise blinken die meisten mich rein, wenn der Abstand vorne reicht, weshalb ich Lastwagenfahrer inzwischen für ein sehr freundliches Völkchen halte.
Der Wanderweg selbst schlägt mich tatsächlich sehr schnell in seinen Bann. Er führt durch dichtes Unterholz, lichte Wälder und saftig grüne Wiesen mit freilaufenden Schafen und Rindern. Irlands Natur hat genau wie seine Städte etwas zeitlos Magisches... grade in den Wäldern fühlt es sich an, als würde jeden Moment ein Fabelwesen hervorkommen. Oder ein Ritter. Oder ein irischer Kobold! Dass hier viele Märchen und Gedichte entstanden sind, verwundert mich kein bisschen.

„Sollen wir hier eine Rast machen?", reißt mich Marcos Stimme aus meinen Gedanken. Staunend blicke ich auf die riesigen Felsbrocken und den kleinen See mit dem malerischen kleinen Wasserfall mitten im Wald.
„Nichts lieber als das!", antworte ich verträumt und setze meinen Rucksack ab. Er schmunzelt.
„Ich richte alles her, schau dich ruhig um!" Das braucht er mir nicht zweimal sagen. Sofort bin ich bei dem kleinen See und lasse mich von dem kristallklaren Wasser und den gelblichen Kieselsteinen verzaubern. Oh Himmel, ist das ein herrlicher Ort! Ich liebe Wasserfälle wirklich... dicht gefolgt von wilden Gebirgsbächen.
Vorsichtig schiebe ich mich am schmalen Ufer vor den Felsen entlang zu dem schmalen, aber sprudelnd lebendigen Wasserfall und streiche andächtig über das feuchte Moos, das überall in Gischtweite den Stein bedeckt. Dort, wo die Sonne durch das Blätterdach bricht, funkeln die Wassertropfen wie Diamanten auf dem satten Grün. Es ist wirklich SO schön... wie es wohl von oben aussieht? Ich gehe ein paar Schritte zurück, wo der Fels gesplittert ist, und perfekte Klettermöglichkeiten bietet.

Mit geradezu kindlicher Euphorie kraxle ich hinauf und setze mich oben an den Rand des Wasserfalls, wo ich die ganze märchenhafte Szenerie überblicken kann. Tief atme ich durch und genieße den Moment in vollen Zügen. Genau solche Momente zeigen mir, wie richtig meine Entscheidung gewesen ist, alles hinter mir zu lassen und herzuziehen. Denn das hier ist Leben... richtiges Leben. Eins, das ich bisher nie hatte.
„Hab ich zu viel versprochen?", fragt Marco von unten laut. Mit glänzenden Augen sehe ich ihn an.
„Kein Stück! Es ist wirklich wunderschön hier...", erwidere ich verträumt. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus.
„Dann spring, das Essen ist fertig, yoi?", fordert er mich auf und streckt seine Arme aus. Ich ziehe die Augenbraue hoch, das sind doch gut drei Meter.
„Sicher?"
„Natürlich... vertrau mir!", antwortet er ernsthaft. Ich zögere nur kurz, dann lasse ich mich tatsächlich fallen und lande sicher in seinen Armen.
„War das ein Test?", will ich grinsend wissen, während er mich wieder auf die Beine stellt. Er lacht.
„Eigentlich nicht... aber du hast trotzdem bestanden!" Einen Augenblick lang hält er mich noch fest und streicht mir sanft ein paar Haare aus dem Gesicht. Dann gibt er mich frei. Sehr zu meinem Bedauern. „Komm!"
Ich folge ihm zurück zu unseren Rucksäcken, wo er inzwischen eine Picknickdecke ausgebreitet hat und... ein halbes Buffet angerichtet hat.

„Ich... das ist... WOW!", stammle ich überfordert. Es stehen gut fünfzehn große und kleine Boxen mit unterschiedlichstem Inhalt auf der Decke: ich entdecke Butterbrezen, Paprika- und Karottenschnitze mit Dip, Trauben-Käse-Spieße, kleine Blätterteigtaschen, Waffeln, Blaubeeren, Äpfel, Erdbeeren, Birnen und noch einiges mehr. Daneben stehen zwei Becher mit... ist das ein Cocktail?!
Marco hat sich etwas weggedreht, er sieht ein bisschen verlegen aus. Ist es ihm etwa peinlich, dass er sich solche Mühe gegeben hat?
Erneut werfe ich einen Blick auf die vielen Köstlichkeiten. Ich will gar nicht wissen, wie lang er dafür in der Küche gestanden hat... er hat sich ganz offensichtlich wirklich wahnsinnig viel Mühe gegeben.
Nur für mich.
Meine Augen brennen verdächtig, während sich eine unglaubliche Wärme in mir ausbreitet. So fühlt sich also richtiges Glück an...
Sanft lege ich meine Hände um sein Gesicht und ziehe ihn zu mir hinab.
„Danke, Marco! Das ist... unglaublich lieb von dir!", hauche ich ergriffen und verschließe seine Lippen mit meinen. Erleichtert atmet er aus, schlingt seine Arme um mich und erwidert den Kuss zärtlich.

„Gern geschehen... wollen wir essen?", fragt er mit einem zufriedenen Schmunzeln.
„Na klar doch... wenn du mich schon so verwöhnst!", erwidere ich lächelnd und lasse mich von ihm auf die Picknickdecke ziehen. Er reicht mir einen Becher und hält mir seinen hin.
„Auf unser drittes Date?"
„...und auf das fabelhafteste Picknick, das ich je gesehen habe!", füge ich hinzu und stoße mit ihm an. Neugierig probiere ich das pinkfarbene Getränk. „Wow, das schmeckt gut! Was ist das?" Er grinst.
„Alkoholfreier Spezialcocktail von Rayleigh, dem Besitzer der Bar, in die wir immer gehen. Besteht aus Himbeeren, Himbeersaft, Zitrone, Rosmarin und Mineralwasser. Verrat nur Shanks nie, dass der ohne Alkohol ist, yoi? Damit rette ich meinen Verstand, wenn er eine Runde nach der anderen ausgibt..."

Ich pruste in meinen Cocktail. Das kann ich mir absolut vorstellen!
Begeistert probiere ich mich durch all die wundervollen Köstlichkeiten und bin absolut hin und weg.
„Hat Thatch dich im Kochen ausgebildet oder hast du dir das alles selbst angeeignet?", will ich neugierig wissen und beiße genüsslich in eine der gefüllten Teigtaschen.
„Beides. Als Thatchs bester Freund bleibt es nicht aus, dass ich einiges aufschnappe, vor allem, weil er liebend gern über seine Arbeit spricht und schon oft für mich und die anderen gekocht hat. Aber ich mache es auch selbst gern, das entspannt mich. Wobei es mir natürlich viel mehr Spaß macht, für jemand anderen zu kochen als für mich allein!", erzählt er schmunzelnd.
Ja, das kann ich nachvollziehen... und es bestätigt meinen Eindruck von letztens, als er für mich gekocht hat und dabei so entspannt gewirkt hat. Ich beginne es wirklich zu lieben, diesen Mann nach und nach in all seinen Facetten kennenzulernen!

Eine Weile später liegen wir bäuchlings auf der Decke und naschen uns durch das Obst, als...
„Na kleiner Freund? Hier bist du aber falsch..." Vorsichtig lasse ich einen großen, schwarzen Käfer auf meine Hand krabbeln, der sich auf unsere Decke verirrt hat. „Oh schau mal, im Licht glänzt er blau!" Fasziniert halte ich ihn Marco hin. Er legt seine Hand an meine, sodass der Käfer nun über seine Haut marschiert.
„Tatsächlich, sieht schön aus! Du magst Krabbeltiere, yoi? So wie diesen Wurm von Donnerstag...", fragt er erheitert und lässt den kleinen Kerl ein Stück weit entfernt auf einen Strauch klettern. Ich grinse.
„Oh ja! Mit mir sind Spaziergänge während oder nach Regen ziemlich anstrengend... ich rette alles vom Weg, was da zertreten werden oder ertrinken könnte!", warne ich ihn vor und er lacht.
„Eine Kleintier-Retterin also. Find ich gut, damit kann ich leben...", erwidert er und wirft mir einen liebevollen Blick zu, während er sich eine weitere Blaubeere genehmigt.
„Schieb doch mal bitte die Box her, ich will auch eine!" Auffordernd nicke ich zu meinen Lieblingsbeeren. Ein spiellustiges Grinsen huscht über sein Gesicht. Er fischt eine Beere heraus und hält sie vor sich.

„Komm und hol sie dir..."
Ungläubig sehe ich ihn an. Meint er das jetzt wirklich ernst?
„Wie alt warst du noch gleich?!", hakte ich skeptisch nach und ziehe die Brauen hoch. Sein Grinsen wird breiter.
„Offenbar noch nicht zu alt dafür, yoi?"
So verspielt kenne ich ihn gar nicht, aber ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es mir nicht gefällt. Blitzschnell greife ich nach seiner Hand, doch er hält sie flink außer Reichweite. Was ihm überhaupt nicht schwer fällt.
„Hey das ist unfair, deine Arme sind viel länger!", protestiere ich, woraufhin er schamlos lacht.
„So ein Pech aber auch...", entgegnet er völlig ungerührt und besitzt auch noch die Dreistigkeit, ziemlich selbstzufrieden zu lachen.
Na warte, mein Lieber...
Gespielt beleidigt lehne ich mich an ihn.
„Ach menno... du bist wirklich gemein!" Er will etwas erwidern, doch in diesem Moment taucht meine Hand flink unter sein Shirt und kratzt leicht über die Haut an seiner Seite bis zu den Achseln hoch. Mit einem empörten Japsen zuckt er zusammen und versucht sich von mir wegzuschieben, aber ich denke ja gar nicht dran von ihm abzulassen! Mit einem fiesen Grinsen werfe ich mich auf ihn und malträtiere ihn weiter.

„Argh... lässt... du... das... gefälligst... sein!", schnauft er mit unterdrücktem Lachen und bekommt nach einer kurzen Rangelei meine Handgelenke zu fassen. Mit einem kraftvollen Ruck bringt er mich unter sich und pinnt schwer atmend beide Hände über meinem Kopf auf den Boden. Was lege ich mich auch mit einem Kickboxer an...
„Das war ausgesprochen hinterhältig, yoi?", beschwert er sich mit funkelnden Augen. Ich ziehe beide Augenbrauen hoch.
„Ich bereue nichts! Wenigstens eine kleine Genugtuung dafür, dass du mir keine Beere gönnst...", motze ich gespielt zurück und strecke ihm die Zunge raus. Mit einem gefälligen Schmunzeln angelt er mit seiner freien Hand (ja, er kann mich erniedrigend mühelos mit nur Einer in Schach halten) eine weitere Blaubeere und hält sie mir vor den Mund.
„Sag artig bitte..."
Oooh, da ist sie wieder. Diese provozierend-dominante Seite... mein Herzschlag beschleunigt sich sofort.
„Da ist aber jemand auf nem Egotrip, was?"
Er hebt nur die Augenbrauen, hüllt sich jedoch in erhabenes Schweigen, weshalb ich...
„Mmhh... Bitte, Marco!"... mich auf das Spiel einlasse.

„Na geht doch...", raunt er zufrieden und hält sie mir mit Daumen und Zeigefinger an die Lippen. Doch statt der Beere nehme ich seine kompletten Finger in den Mund und umspiele sie provokant mit meiner Zunge. Erst als ich sie langsam wieder aus mir herausgleiten lasse, vernasche ich das kleine Stück Obst.
„Mhm und wie das geht...", hauche ich schelmisch und beobachte fasziniert, wie feurig seine gletscherblauen Augen plötzlich wirken. Sein brennender Blick jagt mir tatsächlich eine Gänsehaut über den Rücken.
Ganz langsam beugt Marco sich vor. Doch entgegen meiner Erwartung küsst er mich nicht; seine Lippen streifen nur kurz die meinen und wandern weiter zu meinem Ohr, wo sein warmer Atem mir gleich noch einen Schauer beschert.
„Für jemanden mit deiner Körpergröße bist du ganz schön frech, yoi?", brummt er schmunzelnd und haucht mir eine ganze Reihe von Küssen meine Halsschlagader entlang, was mir ein Seufzen entlockt.
Und den wirklich brennenden Wunsch nach mehr. Ich hätte ihm vielleicht sagen sollen, dass mein Hals eine äußerst empfängliche Stelle für diese Art der Gefühle ist.

„Marco, du solltest...", fange ich ein wenig atemlos an, doch plötzlich trifft mich etwas Nasses an der Stirn. Verwirrt sehe ich nach oben. „Oh oh..."
Marco sieht mich stirnrunzelnd an, doch dann bekommt auch er einen Tropfen ab.
„Ach shit!", flucht er und springt auf. Ich rapple mich hastig auf und helfe ihm, in Windeseile die Überreste unseres Picknicks zu verstauen. Wir haben beide nicht bemerkt, dass die Sonne verschwunden ist und stattdessen dicke Regenwolken aufgezogen sind.
Noch während Marco die Boxen schließt und ich die Decke in meinem Rucksack verstaue, beginnt es plötzlich stark zu regnen.
„Verdammt, was jetzt? Kennst du einen Platz zum Unterstellen?", rufe ich halb lachend, halb verzweifelt und schultere mein Gepäck.
„Wir müssen zu den Wiesen zurück, da können wir in eine Scheune oder einen Stall...", erwidert er resigniert und reicht mir die Hand. „Nass bis auf die Knochen werden wir trotzdem!"
Lächelnd ergreife ich sie.
„Zum Glück ist keiner von uns aus Zucker!", antworte ich ungerührt, was ihn ebenfalls wieder lächeln lässt. Gemeinsam sprinten wir los.

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