Sina
Drei Tage nach diesem wundervollen Abend in Rayleighs Bar sitze ich gähnend am Empfangstresen der Praxis und schiele unauffällig zu der Uhr im leeren Wartebereich. Halb fünf... fast geschafft.
Der heutige Tag ist anstrengender gewesen als üblich, was vor allem daran gelegen hat, dass ich die Nacht kaum geschlafen hab. Schlechte Träume haben mich immer wieder aufschrecken lassen, bis ich es gegen fünf Uhr morgens endgültig aufgegeben hab und aufgestanden bin. Zu allem Überfluss hat dann aber auch noch mein armes, altes Auto den Geist aufgegeben, als ich endlich zur Arbeit fahren wollte.
Ganz toll.
Genau das, was ich grade brauchen kann.
Zum Glück ist mein Nachbar Franky Automechaniker und hat versprochen, es sich gleich heute anzusehen und mich dann auch netterweise von seinem Kollegen in die Arbeit fahren lassen. Ich kann nur hoffen, dass nichts Kostspieliges kaputt gegangen ist... das würde nämlich schwierig werden. Meine finanzielle Situation ist gelinde gesagt dürftig, aber ich würde tatsächlich eher meine Niere auf dem Schwarzmarkt verkaufen, als das irgendwem zu erzählen. Zu deutlich hab ich die Worte meiner sogenannten Eltern im Ohr:
‚Und du denkst wirklich, dass du den Sprung von der Prinzessin zur Bettlerin verkraftest? Du wirst untergehen Kind, und mit leeren Händen zurück gekrochen kommen!'
Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen.
Von wegen! Ich will das allein schaffen und ich KANN es auch allein schaffen! Auf das Geld meiner Eltern bin ich nicht angewiesen.
Mit einem tiefen Seufzen fahre ich mir über die Schläfe. Zum Glück sind keine Patienten mehr hier; Marcos letzte Patientin ist bei ihm im Sprechzimmer und Shanks ist heute und morgen auf Fortbildung. Gerade will ich aufstehen, um den Wartebereich schon mal aufzuräumen, als das Telefon klingelt. Kurz atme ich durch, um meine professionelle Ruhe wiederzufinden und hebe ab.
„Praxis Dr. Newgate und Dr. La Roux, guten Tag?", melde ich mich gewohnt freundlich.
„Edward-Newgate-Stiftung hier, ich brauch einen möglichst kurzfristigen Termin für eins der Kinder bei Marco!", antwortete eine sehr tiefe, raue Stimme und ich blinzle überrascht.
Das ist doch die Stiftung für schwer erziehbare Heimkinder, von der Marco erzählt hat! Hastig rufe ich unseren Terminkalender auf, doch der ist voll bis oben hin.
„Ähm... regulär ist diese Woche nichts mehr frei, tut mir leid...", fange ich an und höre es am anderen Ende der Leitung schon unwirsch grummeln. „...aber wie schnell könnte das betreffende Kind denn hier sein? Dr. Newgates letzter Patient geht in etwa zwanzig Minuten, danach könnte ich noch einen Termin einschieben. Falls das nicht geht, kann ich Ihnen auch morgen dieselbe Zeit anbieten. Wie ist es Ihnen lieber?"
Kurz herrscht ungläubige Stille in der Leitung.
„Dann besser gleich heute, danke. Du bist aber nicht der rosahaarige Drachen, der mir sonst das Ohr volljammert, wenn er Überstunden machen soll, oder? Ist ja direkt ne angenehme Abwechslung", brummt es gleich viel freundlicher aus dem Hörer, was mich automatisch lächeln lässt, während ich am PC gleich eine neue Patientenakte anlege. Marco hat mir schon gesagt, dass er sich für diese Kinder immer Zeit nimmt, was mich bei diesem unglaublichen Mann aber kein bisschen wundert... und es ist selbstverständlich, dass ich ihn hier unterstütze.
„Stimmt, ich bin Bonneys Vertretung. Wären Sie so nett und sagen mir Name und Geburtsdatum des neuen Patienten?"
„Hiro Oka, er wird heute in zwei Wochen Fünfzehn!"
Während ich tippe, höre ich im Hintergrund, wie mein Gesprächspartner jemandem Anweisungen gibt, den Jungen herzubringen. „Gut, er is unterwegs, könnte aber je nach Verkehr länger als zwanzig Minuten brauchen", warnt er mich, doch das ist nun wirklich kein Problem - inzwischen kenne ich Marco gut genug, um zu wissen, dass ihm das nichts ausmacht. Und mir auch nicht.
„Schon in Ordnung, Sir. Wir warten einfach und lassen die Tür offen. Können Sie mir etwas von dem jungen Mann erzählen damit Dr. Newgate schon mal ein paar Informationen für nachher hat?", entgegne ich freundlich und beschließe, gleich nochmal eine halbe Kanne Kaffee aufzubrühen nachdem mein Tag nun doch länger geworden ist.
„Danke, Mädchen! Der Kleine ist seit sieben Jahren in wechselnden Heimen untergebracht, büxt aber immer wieder aus zu seinem alkoholkranken Vater. Die Mutter ist gestorben als er drei war, seitdem kümmert er sich stellvertretend für sie um ihn. Obwohl der Vater ihn im Suff regelmäßig verprügelt, fühlt er sich verantwortlich für ihn und gibt sich selbst dafür die Schuld an den Prügeln, weil er angeblich was Falsches gesagt oder getan hat. Außenstehende lässt er nicht an sich ran; er ist am liebsten allein und reagiert abwehrend und trotzig auf Ansprache", berichtet der Mitarbeiter der Stiftung ernst und ich schreibe alles konzentriert in die Akte des Jungen. Mir entkommt ein mitfühlendes Seufzen, diese Geschichte geht mir nah.
„Gut, ich hab alles notiert, vielen Dank. Ich geb das gleich weiter, die Sprechstunde dürfte sowieso bald vorbei sein!"
Aus dem Hörer dringt ein halb ungläubiges, halb amüsiertes Schnaufen.
„ICH hab eher zu danken, Mädchen! Das war das angenehmste Gespräch, das ich hier je geführt hab. Sicher, dass du nur die Vertretung bist?"
Jetzt muss ich lächeln, nicht nur wegen des netten Kompliments, sondern weil der Mann mich permanent duzt und ‚Mädchen' nennt. Scheint ein älterer Herr zu sein, der auf Floskeln pfeift, denke ich schmunzelnd.
„Ja Sir, ich fürchte schon. In ein paar Monaten ist Bonney wieder gesund, dann bewacht der feuerspeiende Drachen wieder das Telefon", kann ich mir nicht verkneifen und muss gleich darauf das Telefon etwas weghalten, weil mein Gesprächspartner dröhnend zu lachen beginnt.
„GUARHARHAR! Die ist eher ein Jammerdrachen als ein Feuerspeiender... und NEIN, den will ich gar nicht wieder, der hat mich schon mehr als genug Nerven gekostet. Und in meinem Alter sind die dünner als bei euch jungen Bälgern - nicht, dass mir doch mal der Kragen bei der platzt!", droht er mit einem hörbaren Grinsen in der Stimme und bringt nun mich damit zum Lachen.
„Oh weia... dann ich lasse Ihnen zum Trost eine große Packung Nervennahrung zukommen, wenn ich meinen Platz wieder räume, einverstanden?", scherze ich und lehne mich etwas zurück. Das nette Gespräch hat mich aufgeheitert, ich fühl mich gleich viel besser. Oft sind es so simple Dinge wie ein freundlicher Mensch am Telefon, die einem die Laune heben.
„Ha, schick mir lieber ein paar Flaschen guten Sake, der hilft am besten. Aber das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, Kind! Darüber werd ich noch mit meinem Sohn reden; der braucht anständige Leute in seiner Praxis...", grollt er entschlossen, doch mir entgleisen die Gesichtszüge, während mir parallel dazu schlagartig ziemlich flau im Magen wird.
SOHN?!
Oh Gott... das... DAS ist Marcos Ziehvater?? Ich hab die ganze Zeit mit Edward Newgate persönlich gesprochen?! Ich hätte nicht gedacht, dass er in seinem Alter noch so aktiv arbeitet! Verkrampft atme ich durch und reibe meine plötzlich klammen Finger an meiner Hose. Zu meinem Glück geht in diesem Moment hinten die Tür auf und Marco kommt mit seiner Patientin aus dem Sprechzimmer.
„Ääähm... Dr. Newgate kommt grade raus, möchten Sie ihn noch sprechen?", stoße ich hastig hervor.
„Türlich! Gib mir den Bengel mal. Und danke fürs Gespräch, Kleine! Wie ist eigentlich dein Name?" Ich reiße mich mühsam zusammen, denn nun steht auch Marco bei mir und reicht mir die Akte von Marie, der ich zum Abschied angespannt lächelnd zuwinke.
„Ahm... Ich bin Sina Gates, Sir. Es hat mich ebenfalls sehr gefreut. Ich reiche Sie jetzt weiter, auf Wiederhören!", verabschiede ich mich höflich und halte Marco auffordernd das Telefon hin, vermutlich noch immer mit leicht gestresstem Blick. Er zieht fragend die Brauen hoch, nimmt es jedoch und meldet sich.
„Newgate, guten Tag?"
„Tag, Junge!", dröhnt es prompt aus dem Hörer und auf Marcos Gesicht breitet sich augenblicklich ein breites Lächeln aus. Er freut sich sichtlich, ihn zu hören, das sehe ich allein schon an seiner augenblicklich entspannteren Körperhaltung...
„Vater! Schön, dich zu hören. Wie gehts dir?"
Ich wende mich demonstrativ ab und schnappe mir Lappen und Desinfektionslösung, um den Wartebereich schon mal zu säubern und aufzuräumen, während Marco im Büro verschwindet, um mit seinem Vater zu sprechen.
Mir ist noch immer leicht übel, was mich ziemlich beunruhigt.
Oh man, ich hätte nicht gedacht, dass ich doch so heftig reagiere... irgendwie hatte ich gehofft, dass es anders laufen würde. Normaler. Ich meine, jeder hat doch etwas Bammel, die Eltern seines Partners kennenzulernen, aber die wenigsten haben einen regelrechten Horror davor. Aber was soll ich machen? Ich hab damals Marcos Angst, mir zu vertrauen, von Anfang an verstanden... weil ich eine sehr ähnliche Angst in mir trage.
Nur nicht gegenüber ihm.
Verdammt, es klingt sogar in meinen Ohren furchtbar, aber... ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, je wieder eine Elternfigur in meinem Leben zu akzeptieren! Knapp anderthalb Jahre heimliche Therapie in München haben das nicht ändern können, also hab ich eigentlich gehofft, es würde sich mit der Zeit von selbst erledigen... oder mit dem richtigen Mann. Beides scheint jedoch nicht zuzutreffen, was mich grade wirklich ziemlich deprimiert. Wie soll ich das Marco sagen? Er redet doch jetzt schon immer wieder von dem Geburtstag seines Vaters und hat bereits mehrmals erwähnt, wie sehr er sich drauf freut, mich dem Rest seiner Familie vorzustellen. Und ich? Mir wird bei dem Gedanken dran schlecht vor Angst.
Doch, ich bin von mir selbst grade wirklich bitter enttäuscht.
Plötzlich legen sich zwei Arme um meine Hüfte und reißen mich aus meinem Gedankensumpf, indem sie mich eng an einen mittlerweile sehr vertrauten Körper ziehen. Ich muss unwillkürlich lächeln, als weiche Lippen meinen Hals entlangstreifen und damit die trüben Gedanken sofort leiser werden lassen. Wie könnte ich in seinen Armen auch unglücklich sein?
„Weißt du, dass ich deinetwegen grade die erste väterliche Standpauke seit Jahren kassiert hab?", murmelt Marco belustigt. Ich schmiege mich behaglich an ihn, während er sich meinen Hals hinaufküsst und das unwohle Gefühl damit ziemlich schnell durch ein ganz anderes ersetzt.
„Ahja? Wieso?", frage ich unschuldig, drehe mich um und fange seine Lippen mit meinen ein. Hab ich schon erwähnt, wie verdammt toll es ist, den selben Arbeitsplatz zu haben?
Marco lässt sich Zeit mit der Antwort. Stattdessen küsst er mich plötzlich so hingebungsvoll und leidenschaftlich, dass mir die Luft wegbleibt. Als er mich endlich wieder freigibt, strahlen mir seine Augen vergnügt entgegen.
„Er hat mich gefragt ob ich noch ganz bei Trost bin, weil ich jemanden wie dich wieder gegen einen Drachen wie Bonney austauschen will - und er hat gesagt, dass wenn ich wieder erwarten doch so dumm bin, ich dich zu ihm schicken soll, er würde dich jederzeit einstellen. Und sei es nur um an seiner Stelle mit Bonney zu telefonieren!" Jetzt reicht sein zufriedenes Grinsen von einem Ohr zum anderen. „Du hast bei ihm nur durchs Telefon hindurch schon ordentlich Sympathiepunkte gesammelt!"
Uuuund da ist das flaue Gefühl schon wieder. Diesmal sogar noch schlimmer, weil Marco sich so sichtlich darüber freut. Mühsam bringe ich ein Lächeln zustande.
„Wow... ähm... hast du ihm von uns erzählt?", frage ich und löse mich etwas von ihm, vorwandlich, um die Desinfektionslösung zu schließen. Er schüttelt den Kopf und hilft mir, die Zeitschriften zu sortieren.
„Nein. Nenn mich altmodisch, aber das würde ich gern persönlich machen. Aber er hat recht damit, dass ich - oder WIR - ziemlich dumm wären, dich wieder gehen zu lassen, yoi?" Er sieht mich mit einem Lächeln aufmerksam an. „Würdest du auch langfristig bei uns bleiben?"
Überrascht blicke ich auf, bin gleichzeitig aber auch überaus dankbar für den Themenwechsel.
„Meinst du das ernst? Hast du mit Shanks schon darüber gesprochen? Und was wird aus Bonney? Ich will niemandem den Job wegnehmen", antworte ich etwas überrumpelt und dementsprechend unsicher. Himmel, selbstverständlich will ich gern hierbleiben! Aber nicht auf Kosten anderer.
Marco kommt zu mir und greift nach meinen Händen, die er nacheinander kurz an seine Lippen führt und mir dadurch ein heftiges Kribbeln in der Magengegend verschafft. Sein Blick ist weich.
„Shanks hat damit schon angefangen, bevor er von uns beiden wusste. Und auch wenn wir kein Paar wären, hätte ich dem absolut zugestimmt. Du passt hervorragend zu uns ins Praxisteam, hast einen wunderbaren Umgang mit den Patienten und du bist uns mit deiner Arbeitsweise eine Riesenhilfe. Was Bonney angeht... würden wir mit ihr reden. Es hat ehrlich gesagt nie den Eindruck gemacht, als hätte sie hier besonders gern gearbeitet, vielleicht finden wir eine gemeinsame Lösung. Entweder in Form einer Abfindung oder indem wir ihr helfen, woanders unterzukommen und eventuell eine Umschulung bezahlen. Sollte sie nicht darauf eingehen und wieder erwarten wirklich hierbleiben wollen, dann seid ihr eben zu zweit. Das kriegen wir dann schon hin... wie klingt das für dich?"
Wie Musik in meinen Ohren klingt das!
Lächelnd ziehe ich sein Gesicht zu mir runter, doch statt ihn zu küssen streifen meine Lippen über die empfindliche Haut unter seinem Ohr. Er erschaudert unwillkürlich, denn das ist definitiv eine seiner Schwachstellen.
„Klingt wunderbar...", flüstere ich glücklich und er brummt zufrieden.
„Also ist das ein Ja? Du bleibst?", geht er trotzdem nochmal auf Nummer sicher und sorgt damit für eine erneute Welle großer Zuneigung in mir. Dieser süße Kopfmensch! Er glaubt es erst, wenn er es tatsächlich gehört hat.
„Ja, ich bleibe - ich könnte mir keinen besseren Job als diesen vorstellen... und auch keine besseren Chefs!"
Jetzt lächelt er wirklich aufrichtig erfreut und verwickelt mich in einen lagen, zärtlichen Kuss.
Erst das Geräusch eines parkenden Autos holt uns in die Realität zurück. Ein wenig bedauernd lösen wir uns voneinander; ich schenke ihm ein letztes Lächeln bevor wir uns gemeinsam an den Tresen begeben und auf unseren Patienten warten.
Wenige Augenblicke später öffnet sich die Tür und zwei Leute betreten die Praxis: ein großer, schwarzhaariger Mann mit gewaltigem, schwarzen Schnauzer und Zylinder sowie ein blasser Teenager mit bläulichen Haaren und dunklen Augen, die stur zu Boden gerichtet sind. Seine Hände stecken tief in den Taschen einer abgetragenen Jeans, und über einem schwarzen Shirt trägt er eine alte, etwas zu große Lederjacke.
„He Marco! Schön dich zu sehen!", dröhnt der Schwarzhaarige gut gelaunt und wird von Marco prompt kräftig umarmt.
„Oi, Vista! Ist schon wieder viel zu lang her", erwidert er mit einem breiten Grinsen, ehe er sich dem Jungen zuwendet. „Hallo Hiro! Ich bin Marco, freut mich sehr dich kennenzulernen!" Er reicht ihm freundlich die Hand, doch der Junge schnauft nur.
„Sparen Sie sichs, Doc. Schleifen Sie mich einfach auf ihre Therapiecouch und wir bringens hinter uns", entgegnet er abweisend und ohne ihn anzusehen, weshalb Vista Marco bedeutungsvoll anblickt.
„Ich hol ihn in ner Stunde wieder, ja? Bis nachher!", verabschiedet er sich und gibt dem Jungen noch einen freundschaftlichen Klaps gegen die Schulter, was dieser mit einem finsteren Blick quittiert. Beim Rausgehen scheint er mich zum ersten Mal so richtig zu bemerken; überrascht hebt er eine Braue und winkt dann mit einem charmanten Lächeln in meine Richtung, was ich amüsiert erwidere.
Marco lässt seine Hand inzwischen wieder sinken, doch sein Lächeln bleibt.
„Ich schleif dich garantiert nirgendwo hin, keine Sorge. Wir können die nächste Stunde so verbringen, wie du willst, yoi?", erwidert er ungebrochen freundlich und sieht ihn aufmerksam an.
Hiro dagegen weicht seinem Blick weiterhin beharrlich aus und zuckt teilnahmslos mit den Achseln.
„Gut, dann lassen Sie mich einfach in Ruhe und ich bleib hier sitzen, bis ihr Kumpel mich wieder einsackt", gibt er bissig zurück. Nachdenklich mustert Marco ihn.
„In Ordnung, wenn du das willst? Dann setz dich einfach hin und mach's dir bequem, ich lass meine Zimmertür offen, falls du deine Meinung änderst. Wenn du sonst irgendwas brauchst, wende dich einfach an Sina!"
Für einen klitzekleinen Moment sieht Hiro nun doch überrascht zu ihm hoch, denn Marco schenkt ihm noch ein letztes Lächeln und - geht tatsächlich einfach in sein Zimmer. Ich sehe ihm selbst überrascht hinterher, doch gleich darauf wird mir klar, dass er grade das einzig richtige getan hat: der Junge atmet nämlich hörbar erleichtert aus und seine verkrampfte Haltung lockert sich etwas, als er sich auf einen der Stühle im Wartezimmer fallen lässt. Anerkennend lächle ich; Marco weiß eben, was er tut. Vermutlich wird er das so lange machen, bis der Junge sich hier wohler fühlt und irgendwann von selbst zu ihm kommt.
Ich beschließe, hier einfach weiter sauber zu machen und schalte dazu das Radio ein. Dann nehm ich mir die Desinfektionslösung und meinen Lappen, ehe ich leise summend beginne, die Türklinken abzuwischen. Hiro sieht mich erst misstrauisch an, doch als ich ihn nicht wie vermutlich von ihm befürchtet anquatsche, beschränkt er sich auf mäßig interessiertes beobachten. Generell scheint er mir gegenüber nicht ganz so feindselig gestimmt zu sein, was entweder an meinem jungen Alter, meinem für ihn nicht unmittelbar bedrohlichen Job oder aber auch meinem Geschlecht liegt. Oder aus einer Mischung von allem.
Ein Brummen in meiner Hosentasche reißt mich aus meinen Gedanken. Ah, endlich!
Ich lehne mich an den Empfangstresen und gehe ans Handy.
„Hey Franky!"
„Jau, hi Kleine! Bin grad mit deiner Kiste fertig geworden, hat zwar gedauert aber läuft wieder! Paar Teile musst ich allerdings austauschen...", dröhnt seine gut gelaunte Stimme und zählt mir gleich darauf irgendwelche Dinger auf, die mir sowieso nichts sagen. Mir ist nur eins wichtig.
„Verstehe, was schulde ich dir denn für deine Mühe?", will ich etwas angespannt wissen, und er – seufzt.
„Da is wohl der Knackpunkt... Arbeitszeit berechne ich dir keine, aber die Teile muss ich... und die warn nich ganz billig. Hör mal, Kleine: ich weiß, dass du nich besonders flüssig bist, also kannste mir das Geld entweder in kleinen Raten zurückzahlen ODER ich kann dir anbieten, mir hier stundenweise in der Werkstatt zu helfen! Ich könnt wen brauchen, der hier Ordnung macht oder ans Telefon geht!"
Überrascht halte ich inne, ehe ich wirklich erleichtert ausatme.
„Danke, Franky!! Klar helf ich in deiner Werkstatt aus, wann soll ich denn da sein?", will ich leise wissen und werfe einen kurzen Blick Richtung Sprechzimmer, wo von Marco glücklicherweise nichts zu sehen ist.
„Supööör!! Wie wärs mit Freitagnachmittag zwei Stunden und Samstag früh für zwei Stunden? Dann hättest deine Schulden in vier Wochen abgearbeitet!", ruft er hörbar begeistert und lässt mich damit schmunzeln. Ich weiß, dass er grade viel zu tun hat und sicher dankbar für jede helfende Hand ist. Eine klassische Win-Win-Situation, auch wenn das erst mal nur noch eine Übernachtung mit Marco am Wochenende zulässt. Aber damit kann ich leben.
„Einverstanden, dann komm ich Freitag nach Feierabend direkt zu dir und steh Samstag um Acht wieder auf der Matte. Du bist der beste Nachbar aller Zeiten, vielen Dank!"
Der Angesprochene lacht.
„Das is Musik in meinen Ohren, Kleine! Also bis Freitag!", verabschiedet er sich und legt prompt auf. Erleichtert steck ich mein altes Handy wieder weg und räume bestens gelaunt die Patientenakten auf, ehe ich meinen stummen Beobachter doch einmal anspreche.
„Willst du was trinken?"
Sofort furcht er wieder misstrauisch die Stirn und schüttelt entschieden den Kopf.
„Nein. Ich brauch nichts zu trinken, nichts zu essen, nichts zu lesen und auch sonst keine sinnlosen Beschäftigungen!", grollt er unwirsch. Oh weia, er scheint schon öfter zu diversen Therapien geschleppt worden zu sein. Beschwichtigend hebe ich die Hände.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht nerven. Meld dich einfach, wenn du was brauchst!"
Noch immer skeptisch, aber etwas besänftigt, entspannt er sich wieder und sieht stur auf den Boden.
So vergeht tatsächlich die ganze Stunde. Erst kurz vor Ablauf der Zeit kommt Marco mit seiner Jacke unter dem Arm heimgehfertig wieder und überreicht ihm einen Terminzettel, den der Junge stoisch entgegennimmt. Doch bei einem Blick darauf zischt er aufgebracht.
„JEDEN TAG?! Soll das ein Witz sein?", faucht er, doch mein Lieblingsdoc bleibt gelassen.
„Nein, das ist ernst gemeint. Ich hab mit Vater gesprochen und er hat drum gebeten, yoi? Aber du musst es nicht als Therapie betrachten: sieh es meinetwegen einfach als Auszeit. Er meinte, du fühlst dich bei ihm im Heim noch nicht besonders wohl und bist am liebsten allein – und hier hättest du deine Ruhe. Ich werde dich weiterhin nicht behelligen, wenn du nicht willst; nimm dir eigene Beschäftigungen mit, wenn du Lust hast oder ruh dich hier aus, ganz wie du möchtest. Vista kann in der Zeit Besorgungen machen oder andere Kinder zu ihren Hobbys oder Therapien bringen und nimmt dich auf dem Rückweg wieder mit. Was meinst du?", erklärt er ihm sachlich und sieht ihn aufmerksam an.
Hiro wirkt ziemlich unentschlossen und starrt auf das Stück Papier, doch nach einer Weile zuckt er mit den Achseln und steckt es ein.
„Von mir aus... mir egal, wo ich die Zeit absitze", murmelt er, gerade als Vista wieder zur Tür reinkommt. Hiro zieht automatisch die Schultern hoch, wendet sich abrupt ab und marschiert zum Ausgang.
„Na, Kleiner? War unser Commander so schlimm wie befürchtet?", grinst er gut gelaunt und erntet unwirsches Gemurmel. Mehr scheint er jedoch auch nicht erwartet zu haben, denn er lacht leise und wendet sich dann umgehend mir zu.
„Es ist geradezu unverzeihlich, aber ich hatte vorhin keine Gelegenheit, Ihre Bekanntschaft zu machen, junge Dame!" Zu meiner Verblüffung verneigt er sich galant und zieht aus seinem Mantel - eine Rose hervor. „Ich bin Vista, und mit wem habe ich das Vergnügen?"
Fast hätte mich sein Benehmen unangenehm an meine Vergangenheit erinnert, doch das offene, spitzbübische Grinsen in seinem Gesicht macht seine Handlung locker und ungezwungen und ihn einfach nur sympathisch.
Mit einem Schmunzeln nehme ich die Rose.
„Sina, sehr erfreut. Und es ist doch verzeihlich, erst recht mit so einer charmanten Geste! Vielen herzlichen Dank", entgegne ich und tausche einen vergnügten Blick mit Marco.
„Sina, ein bezaubernder Name! Lang bist du aber noch nicht hier, oder? Hat Vater Bonney etwa doch noch zum Mond geschossen?", wendet er sich feixend an seinen Bruder, der belustigt schnaubt.
„Viel hätte dazu zwar nicht mehr gefehlt, aber nein. Bonney hatte einen Unfall und fällt länger aus, Sina ist zu unserem Glück eingesprungen, yoi?", klärt er ihn auf und begleitet ihn und Hiro zur Tür.
Vista lacht und verneigt sich dort angekommen nochmals in meine Richtung.
„Gut zu wissen, dann viel Glück mit den beiden schrägen Vögeln, schöne Frau!", ruft er und ich winke ihm lachend zum Abschied, was Hiro und Marco synchron die Augen verdrehen lässt.
„Vielen Dank, das kann ich brauchen! Bis morgen!"
Mit einem Schmunzeln schließt Marco die Tür hinter ihnen, ehe er sich geräuschvoll streckt und zu mir kommt.
„Jetzt hast du schon den Nächsten meiner verrückten Brüder kennengelernt..."
Grinsend fahre ich den PC runter und schalte das Licht aus; meine Sachen hab ich vorhin schon griffbereit hingelegt.
„Vista ist auf jeden Fall ein sehr charmanter Mann, aber... Ich bin ehrlich gespannt, was da noch so kommt. Ihr Brüder seid ja schon alle irgendwie recht... speziell!", ziehe ich ihn auf, weshalb er beide Brauen hochzieht... und sich dann richtig provokant so dicht vor mich stellt, dass ich zu ihm hochschauen muss - worauf der Mistkerl wirklich steht.
„Definiere doch mal dieses ‚speziell', yoi?", fordert er gedehnt und ich kann die Spiellust in seinen Augen sehen.
Ein Anblick, auf den ICH wirklich stehe.
„Naja... also da wäre der herzchenbrezenbackende, Elvis-Tolle-tragende Thatch, dann der temperamentvolle, mehrfach vorbestrafte Narkoleptiker Ace, jetzt dieser rosenverteilende, charmante, schnauzbärtige Vista...", zähle ich langsam auf und streiche neckend mit meinem Zeigefinger von seinem Schlüsselbein abwärts. Er lächelt schief; noch steht er trügerisch still da, doch in seinen gletscherblauen Augen schwelt es bereits.
„Verstehe... und weiter?", raunt er leise. Mein Lächeln wird breiter. Angesichts so vieler bevorstehender Überstunden und Shanks' Abwesenheit können wir uns etwas Spaß gönnen, oder?
„Und dann ist da noch dieser sich prügelnde, verboten heiße Doktor, der sich gern Commander nennt..."
Achtlos landet Marcos Jacke auf dem Boden - und zeitgleich seine Lippen auf den meinen. Hungrig dringt seine Zunge in meinen Mund ein, während seine Hände mich fest an ihn pressen. Als ich überfordert nach Luft schnappe, sehe ich in sein wölfisches Lächeln.
„Miss Gates... ich glaube, ich muss ein ernstes Wort mit Ihnen in meinem Sprechzimmer wechseln...", grollt er und lässt mich damit erschaudern.
So unschön der Tag auch begonnen haben mochte - dieses Ende macht alles locker wett!
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FanfictionReallife - Nach einer katastrophalen Beziehung hat Marco das Interesse am weiblichen Geschlecht verloren. Zumindest, bis er nach seinem Urlaub eine neue Arzthelferin in seiner Praxis vorfindet. Sofort weckt der kupferhaarige Wirbelwind sein Interess...