Willkommen Zuhause

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Marco 



Sinas Geschichte ist harter Tobak für mich, sie beschäftigt mich selbst jetzt im Auto noch. Unruhig tippe ich mit meinem Zeigefinger auf dem Lenkrad herum.
Als es ihr wieder einigermaßen gut gegangen ist, haben wir uns wieder auf den Rückweg gemacht. Ich hab danach erst mal bewusst das Thema gewechselt, um ihr und mir eine Verschnaufpause zu gönnen. So sind wir mit lockeren Gesprächen zurück zu unserem Ausgangspunkt gewandert - zum Glück ohne erneuten Regenschauer.

Auf einmal legt sich eine Hand auf meinen Arm und Sina sieht mich besorgt an.
„Du grübelst meinetwegen vor dich hin, stimmts? Tut mir leid... ich wollte dich damit nicht belasten!", seufzt sie unglücklich, doch ich schüttle sofort energisch den Kopf.
„Entschuldige dich bloß nicht! Ich bin wirklich froh, dass du mir das alles erzählt hast, yoi?", erwidere ich aufrichtig. Dann jedoch werfe ich ihr einen ernsten Blick zu. „Beantworte mir nur eine Frage: Bist du auf irgendeine Art und Weise noch in Bedrängnis oder sogar Gefahr?"

Sie zögert.

Was mir bereits Antwort genug ist, doch ich lasse mir nichts anmerken, außer, dass ich mein Lenkrad kurz kräftiger umfasse.
„Hm... nein ich denke nicht. Meine Eltern haben ja noch meinen Adoptivbruder, auf den sie von Herzen stolz sein können - ihre leiblichen Kinder haben ihnen nur Ärger bereitet, während er ja vom selben Schlag ist und alles tut, was er kann, um es ihnen recht zu machen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie einfach froh sind, diese Last los zu sein", antwortet sie schließlich langsam.
„Verstehe... und was ist mit deinem Exverlobten?", hake ich skeptisch nach. Da wir momentan auf einer geraden Straße ohne Gegenverkehr fahren, kann ich es mir leisten, sie kurz genau zu beobachten. Und tatsächlich verkrampft sie sich einen Augenblick lang und ballt eine Hand reflexartig zur Faust. Ihr Gesicht verliert sogar eindeutig an Farbe.
„Ich... ähm... vermutlich auch nicht. Was sollte er noch von mir wollen? Ich habe meinen Titel ebenfalls offiziell abgelegt und alle nötigen Unterlagen dazu eingereicht. Die Verlobung ist offiziell gelöst, den Ring hab ich bei meinen Eltern gelassen...", erwidert sie, doch es klingt, als versuche sie sich selbst davon zu überzeugen. Seufzend greife ich nach ihrer Hand und drücke sie fest.
„Sina, sei bitte ehrlich zu mir: du hast noch immer Angst vor ihm, yoi?"
Sie atmet leise aus und lächelt schief.
„Manchmal vergesse ich deinen Beruf...", gibt sie leise zu - und hat natürlich recht; durch meine Arbeit fällt es mir sehr viel leichter, zwischen den Zeilen zu lesen.

„Also stimmt es?", will ich dennoch eine klare Antwort von ihr. Angestrengt fährt sie sich durchs Gesicht.
„Irgendwie... schon, ja. Er ist... ein eiskalter, arroganter Mistkerl und nicht gewohnt, etwas nicht zu bekommen das er haben will. Wie gesagt, schon vor dem Outing meines Bruders hat er mich monatelang umworben, doch ich hab ihn jedes Mal höflichst abgewiesen. Ich fand ihn von Anfang an... irgendwie unheimlich, auch wenn er nach außen hin extrem gutaussehend, charmant und liebenswürdig wirkt. Aber wie man spätestens nach dem Unfall meines Bruders gesehen hat, geht er über Leichen, um sein Ziel zu erreichen... und Gefühle sind ihm völlig egal...", sie schluckt hörbar und wird noch ein wenig blasser um die Nase. Ich frage mich wirklich, welche Szene sie gerade vor Augen hat; sie scheint sie auf jeden Fall sehr zu verängstigen... was eine dermaßen lodernde Wut in mir hochkochen lässt, dass es mich wirklich jeden Funken Selbstbeherrschung kostet, um sie es nicht merken zu lassen. Wenn ich nur wüsste, was der Dreckskerl ihr angetan hat... mich beschleicht der fürchterliche Verdacht, dass es nicht nur die indirekte Todesdrohung gegen ihren Bruder gewesen sein könnte, sondern... sogar irgendwas Schlimmeres. Mühsam reiße ich mich zusammen und höre ihr weiter zu. „...deshalb hab ich meine Eltern davon überzeugt, dass ich eine bessere Partie für Beauregard Black wäre, wenn ich vor der Hochzeit ein Studium im Ausland absolvieren würde", beendet sie stockend ihre Erzählung.

Aha!

Kurz huscht ein grimmiges Lächeln über mein Gesicht, doch ich verberge es rasch wieder. Sie hat seinen Namen genannt! Nun weiß ich wie der Scheißkerl heißt - mal sehen, was sich damit anfangen lässt... auf jeden Fall muss ich mit Thatch darüber reden.
Zuerst aber gibt es wichtigere Dinge. Sanft ziehe ich ihre Hand zu mir und drücke sie gegen meine Lippen.
„Ich werde dafür sorgen, dass dir der Dreckskerl nie wieder zu nahekommt, yoi? Ich pass auf dich auf, Sina...", verspreche ich ihr ernst. Sie lächelt mich etwas vorsichtig an.
„Das bedeutet mir viel... danke!"

Ich werfe ihr einen warmen Blick zu.
„Dafür musst du dich wirklich nicht bedanken. Du gehörst doch jetzt zu mir!", erwidere ich und drücke aufmunternd ihre Hand. Sinas Augen weiten sich ein Stück.
„Zu dir? Heißt das, dass du... dass wir.... ähm...", stammelt sie plötzlich so nervös, dass es mich erheitert schmunzeln lässt. „Sind wir jetzt... also... ich meine..."
„Zusammen?", helfe ich schließlich doch nach und sie wird tatsächlich rot. Wie süß! Meine Bemerkung war zwar eher unbedacht als beabsichtigt... aber... ja, warum nicht? Zärtlich streiche ich ihr über die Wange und hole tief Luft. „Nichts würde mich glücklicher machen!", antworte ich leise und vielleicht etwas kitschig, aber es ist die absolute Wahrheit.
Ich will wirklich, dass Sina zu mir gehört.
Ich will sie glücklich machen.
Und der einzige Mann in ihrem Leben sein!

Ihr Lächeln sprudelt über vor Glück; sie schmiegt sich mit einem Seufzen gegen meine Hand und haucht einen Kuss hinein.
„Geht mir genauso!", erwidert sie ein wenig atemlos und blinzelt verdächtig oft, während mein Herz vor Freude wie wild schlägt. Gott sei Dank erreichen wir in diesem Moment unser Ziel und ich parke in meiner Einfahrt. Noch bevor ich mich abschnalle, ziehe ich Sina zu mir und küsse sie lange und liebevoll.
Sie gehört wirklich mir!
Andächtig streiche ich mit beiden Händen über ihr bezauberndes Gesicht bis hinunter zu ihrem Hals, wo ich ihren rasenden Puls unter meinen Fingerspitzen fühlen kann.
Nach einer verheerenden Beziehung und vier Jahren völliger Abstinenz hat diese Frau mein Herz im Sturm erobert - in nicht einmal zwei Wochen.
Nie hätte ich das für möglich gehalten... nicht bei mir. Aber mit ihr fühlt es sich so an, als sei plötzlich ALLES möglich.

Ich kann es kaum erwarten, dieses wunderbare Wesen vollständig in mein Leben zu integrieren - und hier ist auch schon der nächste Schritt dahin.
Sanft löse ich mich von ihr.
„Komm, wir gehen rein!"
Etwas perplex sieht sie erst mich an und anschließend nach draußen in die Dämmerung. Dann entgleisen ihr die Gesichtszüge.
„HIER wohnst du?!", krächzt sie vollends fassungslos, weshalb ich nicht anders kann und einfach loslachen muss.
„Ja, hier wohne ich, yoi?", bestätige ich grinsend und schnalle uns beide ab, weil sie nicht den Eindruck macht, als würde sie das so schnell selbst tun. Verübeln kann ich es ihr nicht... ihr offensichtliches Staunen gefällt mir sehr. Es ist wirklich niedlich! „Willst du auch aussteigen, oder möchtest du lieber im Auto campieren?"
Sie wirft mir einen leicht beleidigten Blick zu.
„Sehr witzig...", murmelt sie und steigt endlich aus. Schmunzelnd hole ich unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum und gehe zu ihr.
„Marco, das ist... es ist... atemberaubend!", haucht sie fasziniert, und ich kann sie absolut verstehen - genau deshalb musste ich es haben.

Das kleine, malerische, weiß getünchte Haus mit dem anthrazitgrauen Dach liegt keine fünfzehn Meter vom Meer entfernt direkt hinter einem breiten Felsstrand. Es hat zwei kleine Wintergärten, die Einfahrt wie auch die Terrasse sind aus Naturstein und es ist von blühenden Stechginsterbüschen umringt.
„Dieses Haus hab ich mir vor drei Jahren gekauft, als ich endlich über Celine hinweg gekommen bin. Ich wollte einen Neuanfang... weg aus meiner alten Wohnung, wo mich alles an sie erinnert hat. Es war ziemlich heruntergewirtschaftet als es zum Verkauf stand, aber allein die Lage war genau das, was ich immer haben wollte! Also hab ich es ziemlich preiswert erstanden und mit Hilfe meiner Brüder komplett renoviert!", erzähle ich erinnerungsseelig, nehme ihre Hand und ziehe sie zu der türkisen Eingangstür.

Kaum hat Sina den Hellholzboden innen betreten, geht ihr Blick interessiert auf Wanderschaft.
„Darf ich mich umschauen?", fragt sie mit der Neugierde eines kleinen Kindes, was mich erneut auflachen lässt.
„Natürlich, tu dir keinen Zwang an! Ich werfe solang deine Klamotten mit in die Wäsche damit du morgen was anzuziehen hast, yoi?" Das Haus ist zwar malerisch schön, aber nicht besonders groß. Verlaufen wird sie sich also wohl eher nicht.
„Alles klar!", ruft sie vergnügt und ist schon Richtung Wohnzimmer verschwunden.
Schmunzelnd suche ich unsere durchnässten Sachen aus den Rucksäcken und bringe sie ins Bad, wo ich sie zusammen mit ein paar anderen Sachen in die Waschmaschine stopfe. Anschließend gehe ich in die Küche und richte aus den Resten des Picknicks und ein paar frischen Sachen aus dem Kühlschrank eine kalte Platte her - es ist ja doch schon recht spät und längst Zeit fürs Abendessen. Wenig verwunderlich ist Sina noch immer nicht wieder aufgetaucht als ich fertig bin.

Ich habe aber eine leise Vermutung, wo sie sich so lange aufhalten könnte.

Also gehe ich die gewundene Holztreppe hoch in den ersten Stock und finde sie tatsächlich in meinem kleinen Büro, wo sie mit dem Rücken zu mir die Wand betrachtet.
Mit einem Lächeln trete ich hinter sie und schlinge meine Arme um ihre Taille.
„Und? Gefällts dir?", will ich wissen und küsse ihre Schläfe. Sie lehnt sich mit einem kleinen Seufzen an mich.
„Es ist toll!", antwortet sie leise. „Ist das... deine Familie?"
Ich blicke auf die Fotowand vor ihr.
„Ja. Der ganze verrückte Haufen... Das ist Pops!" Ich deute lächelnd auf ein Bild, wo er mit mir auf Neujahr anstößt.
„Ähm... sag mir bitte, dass du auf dem Foto gerade sitzt!", stößt sie ungläubig hervor. Ich schmunzle belustigt.
„Nein, tut mir leid. Vater ist wirklich so groß!", antworte ich wahrheitsgemäß. Sie schluckt hörbar, was ich ihr nicht verübeln kann - Edward Newgate ist mit seiner mehr als überdurchschnittlichen Größe und einem dreimal so breiten Körperbau wie meiner (aus reiner Muskelmasse) ein in jeder Hinsicht gewaltiger Mann. Sein riesiger weißer Schnurrbart und das schwarze Bandana auf dem Kopf wirken zusätzlich einschüchternd, auch wenn er auf dem Foto breit grinst.

„Er sieht ziemlich... gefährlich aus!", flüstert Sina beinahe ehrfürchtig. Ich nicke.
„Oh, er IST gefährlich, wenn man ihm oder seinen Kindern böses will! Pops hat lange Zeit als Frachtschiffkapitän gearbeitet, kennt Gott und die Welt und war auch Schwergewichtsboxer - aber nur als Hobby, er hätte zwar durchaus Karriere machen können, aber die Seefahrt war ihm lieber, yoi? Er ist etwas rau und unverblümt, aber sehr gutmütig, freundlich und humorvoll. Keine Sorge, er wird dich mögen!", versichere ich ihr zuversichtlich. Sie zuckt bei meinen letzten Worten jedoch etwas zusammen und tritt unbehaglich von einem Bein aufs andere.

„Und wer ist das?", wechselt sie stattdessen das Thema und zeigt auf eins von mehreren Bildern mit mir, Thatch und...
„Das... ist Izou", antworte ich seufzend und ich spüre wieder den schmerzenden Stich des schlechten Gewissens. Sie dreht sich halb zu mir und sieht mich fragend an.
„Was ist mit ihm? Den vielen Fotos nach wart ihr mit Thatch ein richtiges Dreiergespann! Lebt er woanders?"
Unwillkürlich verziehe ich schmerzlich das Gesicht und streiche fahrig durch meine Haare.
„Wir haben uns zerstritten", gebe ich schließlich unglücklich zu, woraufhin ihr Blick sofort besorgt wird. Verständlich, Geschwisterstreit geht ihr sofort nahe - wobei mir unser Streit im Vergleich zu ihrem sogar noch unnötiger vorkommt... Himmel, ich muss das dringend aus der Welt schaffen, egal wie sehr ich mich davor fürchte.
„Wie kam das?", fragt Sina sanft.
„Wie wärs wenn wir runtergehen, was essen und ich erzähls dir?", schlage ich vor und sie nickt sofort.
Natürlich will sie alles über mich und die Menschen in meinem Leben wissen... trotz der unangenehmen Erinnerungen muss ich lächeln.

Sie gehört ja jetzt zu mir... der Gedanke gefällt mir außerordentlich.

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