E I N U N D V I E R Z I G

638 49 18
                                    

Nach dem Mittagessen verbrachte ich den restlichen Tag auf der Veranda. Im Garten fühlte ich mir seltsam eingeengt zwischen der Hauswand und den hohen Maispflanzen. Der weite Blick über den Hof und die umliegenden Gebäude war leichter auszuhalten und lenkte mich von meinem Vater ab, weil ich ständig von meinen Zeitschriften hochschielte, in der Hoffnung, Nate zu entdecken.

Es war lächerlich, das wusste ich. Ich sollte nicht hoffnungsvoll sein, aber das Engelchen auf meiner Schulter war sich sicher, dass er bestimmt eine gute Erklärung dafür hatte, dass er nicht mehr gekommen war. Das Teufelchen versuchte mir aller Macht dem Engelchen klarzumachen, wie naiv es war und mal ein bisschen Selbstachtung haben sollte.

Als ich mich von meinem Stuhl hochhievte, fragte Mom: „Wohin gehst du?"

„Spazieren", entgegnete ich schroffer als gewollt und griff nach meiner Krücke. Aussie, der neben uns auf dem Boden lag, hob neugierig den Kopf von seinen Pfoten. „Ich brauche einfach mal ein bisschen Bewegung und Ruhe."

„Soll ich mitkommen?" Mom machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen.

„Nein, ich will endlich mal ein bisschen Zeit für mich haben."

„Bist du sicher?"

Stöhnend griff ich nach meiner Krücke. „Ja, Mom. Ich komme doch eh nicht weit, also versuch bitte einfach einmal dir keine Sorgen zu machen. Leiste doch zur Abwechslung Sue Gesellschaft. Oder den Hühnern und Kühen. Oder spiel mit Aussie."

Aussie aber empfand es als spannender, mir zu folgen, als ich ohne Moms Antwort abzuwarten die Veranda hinunter und über den Hof Richtung Auffahrt humpelte. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich überhaupt wollte, aber nach dem Krankenhausaufenthalt, bei dem fast immer irgendjemand bei mir im Zimmer gewesen war, würde mir auch ein Fleck im Gras hinter dem Kuhstall genügen.

Ich kam nur langsam voran und ließ mich deshalb tatsächlich umständlich neben dem Kuhstall ins hohe Gras sinken, sobald ich aus Moms Sichtfeld verschwunden war. Wie lange sie wohl stillhalten konnte, ohne sicherzugehen, dass ich wirklich noch da war?

Aussie legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln ab. Gedankenverloren strich ich ihm über das weiche Fell.

„Dass wir beide nochmal Freunde werden, hm?", meinte ich zu ihm. Seine Antwort bestand aus einem Zucken eines Ohres.

Ich ließ den Kopf gegen die marode Holzwand des Kuhstalls sinken. Es roch unverkennbar nach den Tieren und ihren Hinterlassenschaften. Zu meiner Missgunst musste ich feststellen, dass ich trotzdem lieber den Stall ausmisten würde, anstatt so eingeschränkt zu sein. Und den Hühnerstall würde ich direkt mitmachen, wenn dafür dieses permanente Jucken unter meinem Gips aufhören würde.

Ich sah mich nach etwas um, was dünn und lang genug war, um mich unter dem Gips kratzen zu können und fand einen Zweig, den ich mir angelte und sofort zu Nutze machte. Glücklicher machte mich das allerdings auch nicht.

Seufzend richtete ich den Blick gen Himmel und sah vereinzelten Wolken beim Vorbeiziehen zu. Wie kleine Wattebausche sahen sie aus, weich und warm, so wie die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Um mich herum summte und brummte es, nur wenn eine Biene mir zu nahekam, störte es für einige Sekunden den Frieden, den ich zwanghaft versuchte aufrecht zu erhalten, indem ich keinen Gedanken an meinen Vater zuließ.

Wie lange er wohl ins Gefängnis musste? Ob er überhaupt zu einer solchen Strafe verurteilt wurde? Mein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, dass er bald wieder auf freiem Fuß sein könnte. Würde er Mom und mich dann weiterhin bedrohen? Würde er sowas wie vor ein paar Tagen nochmal mit mir machen?

Ruckartig schüttelte ich den Kopf und nahm einen großen Atemzug, während mein Herz unerbittlich weiterhämmerte. Beunruhigt richtete Aussie sich auf und sah mich an. Vergeblich versuchte ich ihn mit weiteren Streicheleinheiten zu beruhigen.

BackroadsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt