S E C H S U N D D R E I S S I G

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„Oh Schatz, das tut mir so leid."

Mit gerunzelter Stirn starrte ich an die vergilbte Wohnzimmerdecke, unter der ich ausgestreckt auf dem Sofa lag. In meinem Augenwinkel flackerte das stummgeschaltete Fernsehbild einer Reality-TV-Show, die mir eigentlich total auf die Nerven ging, aber etwas Besseres lief um diese frühe Zeit einfach nicht.

„Warum?", fragte ich Mom durch Sues und Joes Festnetztelefon. „Du kannst doch nichts dafür."

„Nein, aber es tut mir leid, dass du deine Ferien nicht zu Hause verbringen kannst und jetzt auch noch ans Sofa gefesselt bist."

„Tja, da kann man nichts machen." Außer mich wieder nach Hause zu lassen, das war immerhin tatsächlich auf ihren Mist gewachsen. Ich verkniff mir einen Kommentar darüber und sah zu meinem bandagierten Fuß, der über der Sofalehne baumelte. „Immerhin muss ich so keine Ställe mehr ausmisten."

Mom entwich ein leises Lachen. „Und was machst du stattdessen den ganzen Tag?"

„Däumchen drehen, Fernsehen gucken. Sue hat mir einen Stapel voller Zeitschriften mit Kreuzworträtsel hingelegt, aber da weiß ich so wenig, dass es keinen Spaß macht."

„Du kannst sie ja später um Hilfe bitten, und beim nächsten Rätsel weißt du dann vielleicht schon ein oder zwei neue Sachen. Die Fragen bei sowas wiederholen sich immer wieder."

„Mal sehen", murmelte ich, ohne das wirklich vorzuhaben. Irgendwelche längst verstorbenen Komponisten oder Wissenschaftler interessierten mich sowieso nicht genug, um ihre Namen zu kennen.

„Und wie geht es dir?", wechselte ich das Thema.

„Ach, ganz okay. Olivias Familie hat mich sehr nett aufgenommen, aber ich muss mal sehen, wie lange ich ihre Gastfreundschaft noch auskosten möchte. Die Karadimas' sind bestimmt froh, wenn niemand mehr zu den unmöglichsten Zeiten ein- und ausgeht."

„Mom!" Verärgert setzte ich mich auf, bereit, ihr klarzumachen, dass sie diese minimalen Unannehmlichkeiten runterschlucken musste, wenn sie mich aus demselben Grund an den Arsch der Heide verfrachtete. Stattdessen gefror mir das Blut in den Adern und eine Millisekunde später schrie so laut, dass in meinen Ohren ein monotones Klingeln zurückblieb.

Ich hatte ewig nicht mehr in diese Augen gesehen, die mich nur Zentimeter vor der dem Hof zugewandten Fensterscheibe aus fixierten. Schwere Lider bedeckten den trüben Schleier, der sich über die Pupillen gelegt hatte, und auch der Rest seines Gesichts war vom Alkohol gezeichnet. Fahle Haut, eingefallene Wangen, ungepflegter Bart. Als er seine Mundwinkel zu einem höhnischen Grinsen verzog, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

Mein Vater.

Oder das, was davon übriggeblieben war. Diesen makabren Mann kannte ich nicht. Das war niemand, den ich mal geliebt und in dessen Armen ich mich wohlgefühlt hatte. Denn jetzt war da nur blanke Angst, die ich ihm gegenüber verspürte und in dem Moment dämmerte es mir, dass niemand in meiner Nähe war, denn wäre dort jemand, würde mein Vater nicht tiefenentspannt wie auf dem Präsentierteller stehen und mich wie in einem verdammten Psychothriller niederstarren.

Ich zuckte heftig zusammen, als ein schrilles Klingeln durch den Raum schallte und es dauerte einige Herzschläge, bis ich realisierte, dass es vom Boden kam. Mir musste das Telefon aus der Hand gefallen sein und jetzt rief meine Mutter mich zurück. Hektisch angelte ich danach und nahm den Anruf an.

„Meine Güte, May-"

„Dad ist hier", fiel ich ihr mit zitternder Stimme ins Wort. Ich flüsterte, aber es kam mir trotzdem viel zu laut vor, obwohl er mich unmöglich hören konnte. Angsterfüllt spähte ich wieder zu den Fenstern und bekam einen Schweißausbruch, als er nicht mehr dort war.

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