Robert war zurück in Berlin und dementsprechend auch irgendwie in seinem Alltag. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, ob eine Auszeit nicht das richtige wäre. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass es wahrscheinlich nicht schaden würde, aber es momentan einfach nicht möglich war. Er konnte sein Amt nicht vernachlässigen. Er hatte immerhin einen Eid abgelegt, der ihn an dieses Amt gebunden hat. Und diese große Aufgabe sollte er nun wirklich nicht an zweite Stelle setzen. Dann würde er dem Ganzen nicht gerecht werden.
Also saß er wieder in seiner Wohnung in Berlin, immerhin war es schon abends. Der Tag war ein wenig an ihm vorbei gezogen. Er hatte zwar viel abgearbeitet, könnte jetzt aber spontan nicht sagen, was er da genau gemacht hatte. Wahrscheinlich auch nicht die beste Voraussetzung. Aber wenigstens jetzt gerade war er noch bei der Sache. Robert musste dringend nochmal über ein Interview drüber lesen, was er vor kurzem gegeben hatte und am kommenden Tag veröffentlicht werden sollte. Er hatte es kurz nach Christians Verschwinden tunlichst vermieden, Interviews zu geben. Er wollte sich nicht erklären müssen. Und eigentlich wollte er gar nicht darauf angesprochen werden. Aber als Minister ging es auf Dauer nicht, keine Interviews zu geben. Also hatte er versucht, einen guten Weg zu finden. Er beantwortete einfach keine Fragen zu Christian. Und was die Medien dann schrieben, könnte er dann auch nicht beeinflussen. Und auch wenn er über dieses Interview drüber las, merkte er, wie es ihn störte, dass wirklich alles von den Journalisten interpretiert wurde.
Habeck wirkt ausgelaugt und es macht den Anschein, als ob er jeden Moment sein Amt hinschmeißen könnte. Es ist nichts mehr von der Klarheit und Entschlossenheit da, die er zu Beginn der Legislaturperiode ausgestrahlt hat.
Ach was, dachte sich Robert. Dieser Ausschnitt stand als Kommentar der Redaktion unter dem Interview. Und dann wurde auch immer noch so getan, als ob das verwunderlich wäre. Nur weil er Politiker war, war er doch trotzdem noch ein Mensch. Das vergessen die Medien wohl gerne. Letztlich segnete Robert allerdings das Interview ab, auch wenn es ihn nervte, was da geschrieben wurde. Aber da konnte er nichts dran ändern. Das hatten Christian und er in Kauf genommen, als sie ihre Beziehung veröffentlicht haben.
Als er noch in Gedanken versunken war, klingelte sein Handy. Er schreckte auf und fragte sich, wer denn jetzt noch etwas von ihm wollte. Nur seine Familie und seine engsten Freunde hatten seine private Telefonnummer. Und als er auf den Bildschirm sah, wurde ihm ein anonymer Anrufer angezeigt. Normalerweise würde er da niemals dran gehen. Aber seitdem Christian verschwunden war, klammerte er sich doch wirklich an jede Hoffnung. Also nahm er den Anruf mit einem mulmigen Gefühl an, allerdings ohne etwas zu sagen. Wenn jemand nicht wusste, dass er bei ihm anrief, dann sollte er es auch zukünftig nicht wissen. Aber als er den Anruf annahm, passierte nichts. Einige Sekunden ließ er das so laufen, aber er hörte wirklich gar nichts. Er hoffte einfach, dass sich da jemand unabsichtlich verwählt hatte. Aber komisch war es schon. Vielleicht sollte er das seinem Sicherheitspersonal demnächst mal melden. Besser wäre es wahrscheinlich. Und ein kleiner Teil in seinem Kopf sagte ihm, dass es vielleicht mit Christian zusammen hängen könnte. Aber um der Polizei das zu melden, war ein einzelner Anruf wirklich nicht relevant genug. Aber im Auge behalten sollte er es trotzdem.
Als er dann nachts allerdings zwei weitere Male wach geklingelt wurde, beschloss Robert, die Vorfälle am nächsten Tag der Polizei zu melden. Er hatte keine Ahnung, ob das nicht übertrieben war, aber eigentlich kannte doch niemand seine private Handynummer. Außer die wichtigsten Personen. Deshalb kam ihm das äußerst merkwürdig vor. Und die Polizei hatte ihm sowieso angewiesen, alles zu melden, was ansatzweise mit Christians Verschwinden zu tun haben könnte. Deshalb sollte er das wohl vorsichtshalber tun. Und da die Nacht sowieso sehr kurz war, schaffte er es sogar am frühen Morgen persönlich zu der zuständigen Dienststelle zu fahren. Meist hatte er da keine Zeit für, aber heute war es anders. Der erste Termin lag auch nicht direkt am Morgen, also wartete nur Büroarbeit auf ihn.
Also wurde Robert von seinem Fahrdienst abgeholt und zu einem Gebäude des Bundeskriminalamts gefahren, bei dem man sich mit Christians Verschwinden befasste. Wie oft er in den letzten vier Monaten dort gewesen war. Robert konnte es schon gar nicht mehr zählen. Mal war er alleine dort, mal mit Christians Eltern, mal hatte er Annalena als Unterstützung mitgenommen. Heute war er mal wieder auf sich gestellt. Und es war jedes Mal wieder eine Belastung. Es erinnerte ihn jedes Mal an den ersten Tag, nachdem Christian verschwunden war. Es war das erste Mal, dass Robert dieses Gebäude betreten hatte. Einen Tag, nachdem man ihn von dieser schrecklichen Nachricht berichtet hatte. Sich in dieses Gebäude zu begeben fühlte sich noch Heute falsch an.
Throwback
Mit einem Gefühl der Übelkeit betraten Robert und Christians Eltern das Gebäude, dessen Adresse man ihnen am Vortag noch mitgeteilt hatte. Christians Eltern waren am Morgen nach Berlin gekommen, auch sie mussten die schwersten Stunden ihres Lebens durchstehen. Ihr Sohn war verschwunden. Hatte einen Unfall gehabt. Wie vom Erdboden verschluckt. Es war so unrealistisch. Robert konnte es gar nicht beschreiben. Er fühlte sich so leer und gleichzeitig voller Emotionen. Seit dem letzten Tag hatte er eine Achterbahnfahrt jeglicher Gefühle hinter sich. Und alles lief an ihm vorbei. Er ließ einfach die Abläufe geschehen. Und nun war er beim Bundeskriminalamt gelandet. Er wurde direkt von Christians Eltern getrennt und in ein Büro geführt. Wahrscheinlich sollte er jetzt befragt werden. Auch wenn er doch selbst nichts wusste. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war.
"Herr Habeck, gut, dass sie da sind. Wie sie es sich schon denken können, müssen wir ihnen einige Fragen stellen, um schnellstmöglich Klarheit in der ganzen Sache zu bekommen.", führte der Mann gegenüber an. Robert nickte einfach nur, alles andere fiel ihm zu schwer.
"Dann bringen wir es am besten schnell hinter uns. Wann haben sie Herrn Lindner denn das letzte Mal gesehen?", fragte der Mann.
"Gestern Morgen. Dann sind wir beide in unsere Ministerien gefahren und haben nichts voneinander gehört. Das kann durchaus vorkommen, wenn wir beide sehr beschäftigt sind. Und dann habe ich erst am späten Nachmittag erfahren, was geschehen ist.", erklärte Robert mit zitternder Stimme. Wie sollte er das bitte professionell über die Bühne bringen?
"Und was ist Gestern Morgen geschehen? Hat sich Herr Lindner irgendwie auffällig verhalten? War etwas anders als sonst? Es ist wichtig, dass wir das wissen. Vielleicht lässt sich dadurch das Geschehene aufklären."
"Wir waren in unserer gemeinsamen Wohnung, wie eigentlich immer. Und der Morgen ist auch so verlaufen, wie es bei uns üblich ist. Ich bin um 6 Uhr aufgewacht, Christian etwas später. Wir haben noch gemeinsam gefrühstückt, aber dann musste ich schon fahren und habe Christian zurückgelassen. Mir ist nichts besonderes aufgefallen. Außer, dass er etwas schweigsam war. Aber das ist vor einem anstrengenden Tag nicht untypisch. Es war nichts anders, als sonst." Robert musste sich schwer zusammenreißen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.
"Und gab es sonst in letzter Zeit Anzeichen, dass irgendetwas geschehen könnte? Sind andere einschneidende Dinge passiert bei ihnen?"
"Nicht das ich wüsste... Abgesehen von unserem Outing, aber das haben sie ja sicherlich mitbekommen und es ist schon einige Zeit her. Aber wenn ich darüber nachdenke, Christian und ich hatten vorgestern einen kleineren Streit wegen des Outings. Er hatte mal wieder Hassnachrichten darüber gelesen und ich war der Ansicht, dass wir es einfach ignorieren müssen. Aber die Sache hatten wir auch schnell wieder geklärt."
"Könnten sie sich vorstellen, dass das Outing zu belastend für Herrn Lindner war?", unterbrach ihn der Beamte. Und Robert musste schlucken. Er war derjenige gewesen, der zunächst Angst vor dem Outing gehabt hatte. Aber nach dem Outing hatte sich dies etwas geändert. Durch den ganzen Hass hatte Christian mal mehr und mal weniger gezweifelt. Robert hatte sich diesem Hass gar nicht erst angenommen.
"Ja... Er war zwar der Initiator dahinter. Aber nach dem Outing hatte er immer wieder gezweifelt. Ich auch, keine Frage. Aber für Christian war das untypisch. Immerhin stand er von Anfang an voll dahinter. Aber ich glaube der Hass, den man uns entgegen gebracht hat, hat etwas mit ihm gemacht."
Die Erinnerung schmerzte Robert, weshalb er es so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte und das Büro betrat, in dem sich der gleiche Beamte wie vor vier Monaten befinden sollte.
Was es wohl mit diesen Anrufen auf sich hat? Könnten sie vielleicht ein Hinweis sein?
Vielen Dank fürs Lesen und ich wünsche euch ein schönes Wochenende :)
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Zerbrechen - Die Zeit ohne ihn
Fanfiction! TW Verlust, Trauer! 4 Monate waren vergangen. Seitdem ist Christian aus Roberts Leben verschwunden. Spurlos. Roberts Leben ist nicht mehr dasselbe, wie zuvor. Er spürte Schmerzen, die er sich nie hätte ausmalen können. Und über allem schwebt die...