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Nervös saß Robert in der ersten Reihe. Neben ihm Marco und Christians Eltern. Gerade sprach noch Christian Dürr. Gleich darauf würde er sprechen. Und er fühlte sich elendig. Es fühlte sich nicht mehr richtig an. Nicht, nachdem er gestern von den neuen Entwicklungen erfahren hatte. Und dieser ganze Saal, diese ganzen Menschen, die alle irgendeine Verbindung zu Christian hatten, wussten noch nichts davon. Sie hatten keine Ahnung, was passiert sein könnte. Und vorerst sollten sie es auch nicht wissen. Robert musste allerdings eingestehen, dass er sich erstaunlicherweise nicht so unwohl fühlte, wie er es unter so vielen Liberalen erwartet hätte. Aber mit einem eigenen Parteitag war er trotzdem besser bedient.

"Der Verlust von Christian ist natürlich für viele Menschen ein schwerer Schicksalsschlag. Und dieser Verlust macht nicht an Parteigrenzen halt. Er betrifft so viele Menschen und wir sind froh und dankbar, dass Robert Habeck heute hier ist und ebenfalls zu uns sprechen wird. Also Robert, bitten wir dich als nächsten Redner auf die Bühne."

Langsam stand Robert also auf, auch wenn er sich nicht bereit fühlte. Er hatte natürlich eine Ahnung, was er sagen wollte. Aber es war eine heikle, unbekannte Situation. Und er war erst der zweite Redner. Die gesamte Aufmerksamkeit war noch da. Die Kameras und Mikrofone alle eingeschaltet. Alles konzentrierte sich nun auf ihn. Und er fühlte sich unwohl. Deshalb hielt er sich leicht am Rednerpult fest und trank erst einmal einen Schluck Wasser. Seit wann war sein Hals so trocken? Und wieso wollten zunächst keine Wörter seinen Mund verlassen, auch wenn er ihn doch bewegte?

"Liebe FDP, Liebe Familie und Freunde von Christian, das hier Heute ist kein einfacher Moment. Für mich nicht, für euch nicht, für niemanden, der versteht, was für ein besonderer Mensch Christian war. Und ich möchte mich erstmal bedanken, dass ich hier bei euch sprechen darf. Auch wenn ich weiß, dass die meisten von euch wahrscheinlich mir gegenüber skeptisch sind und das auch nach unserem Outing waren, was ich gut nachvollziehen kann. Christian und ich waren uns auch in keiner Weise sicher, was nach dem Outing passieren würde, aber es war notwendig für uns. Und ich bin dankbar, dass ihr trotzdem hinter ihm als Parteivorsitzenden standet. Er hat sich sicherlich all die Jahre sehr verdient gemacht und ich habe jeden Augenblick gespürt, wie sehr er für diese Partei und die Politik brennt. Und wenn ich ehrlich bin, ja das war für uns auch manchmal problematisch, wenn er mal wieder über seine Liberale Politik gesprochen hat, es aber doch um etwas ganz anderes geht. Also sei euch gesagt, Christian hat diese Partei gelebt und geliebt. Und er wäre sicherlich glücklich, wenn er sehen würde, wie viele Weggefährten heute hier sind."

Roberts Stimme brach leicht und er merkte, wie die Emotionen ihn überkamen. Es war klar gewesen. Und trotzdem war es in diesem Moment eine riesige Herausforderung. Er stand dort ganz alleine und hatte seine Gefühle nicht im Griff. Niemand würde ihn jetzt zur Seite springen. Er musste das professionell weiter durchziehen.

"Ich weiß, der heutige Tag soll ein Gedenken an Christian sein. Aber zunächst vielleicht noch ein paar andere Worte. Ich möchte einfach nicht darüber hinweg gehen, dass es nach wie vor nicht bestätigt ist, dass Christian von uns gegangen ist. Ich weiß, es ist wahrscheinlich naiv sich an diese Hoffnung zu klammern, aber ich hoffe nach wie vor, dass Christian noch einmal zurückkehrt. Denn bestätigt ist nichts. Ich denke es wäre ein Fehler, wenn wir diese Hoffnung aufgeben. Deshalb möchte ich euch daran erinnern, so wie ich mich immer wieder selber dran erinnern muss, dass es noch nicht vorbei sein muss. Dass Christian vielleicht noch irgendwo ist und gefunden werden kann. Auch wenn wir ihm Heute also Gedenken, ist es für mich lange nicht vorbei.

Und ich bin froh, dass es noch Hoffnung gibt. Weil ich Christian nicht für immer verlieren möchte. Die letzten Monate waren für uns beide eine unvergessliche Zeit, die man uns nicht mehr nehmen kann. Ich weiß, wir wurden oft genug dafür kritisiert und es gibt sicherlich auch legitimie Gründe. Aber wir sind auch nur Menschen, die nichts für ihre Gefühle können. Glaubt mir, für uns beide war es lange Zeit nicht einfach, als wir gemerkt haben, was wir für einander empfinden. Wir hatten große Zweifel, aber irgendwie haben wir es geschafft. Und ich bin froh darüber. Weil Christian ganz abgesehen von der Politik ein wunderbarer Mensch ist. Mit seinem Humor, seiner optimistischen Art, seiner Unbekümmertheit hat er auch mir mal wieder eindrücklich gezeigt, was wirklich wichtig ist im Leben. Manchmal droht man das im Politikbetrieb nicht mehr so deutlich zu sehen. Christian hat mein Leben bereichert, auch wenn ich mir das nie hätte vorstellen können. Und jetzt hat er ein umso größeres Loch in mein Leben gerissen. Es ist für uns alle schwer. Aber das verdeutlicht nur, was ein Mensch Christian ist. Und zumindest ich werde meine Hoffnung auf ein Finden von ihm nicht aufgeben. Dankeschön."

Robert nahm nichts wahr, als er die Bühne verließ. All seine Konzentration lag darauf, seine Emotionen zu kontrollieren. Diese Rede hatte ihn gefordert. Und er war einige Male den Tränen nahe gewesen, so wie es jetzt auch der Fall war. So bekam er nicht mit, wie der Applaus für ihn andauerte. Er hatte es geschafft. Und als Christians Mutter dann seine Hand drückte, da katapultierte Robert sich wieder zurück in die Realität. Er schien Zuspruch zu bekommen für seine Worte. Und er war unfassbar froh, dass er es hinter sich gebracht hatte. Dass seine Gefühle ihn nicht zu sehr von seiner Rede abgebracht hatten. Und dass er noch einmal betonen konnte, wie wichtig Christian für ihn war. Aber gleichzeitig schoss ihm wieder durch den Kopf, was er am vorigen Tag erfahren hatte. Dass möglicherweise ein Anschlag auf Christian verübt wurde. Dieser Gedanke war einfach zu präsent.

Nach einer weiteren Rede, auf die sich Robert kaum konzentrieren konnte, verschwand der Wirtschaftsminister kurz auf eine Toilette. Er brauchte einen Moment für sich. Und den hatte er sich nach seiner Rede sicherlich verdient. Als er einen Blick auf sein Handy warf, wurde ihm direkt bewusst, wie viele Menschen seine Rede verfolgt hatten. Denn er hatte schon einige Nachrichten bekommen, die er kurz überflog.

Andrea
"Deine Rede war wirklich gut! Du kannst ziemlich stolz auf dich sein, dass du es so gut gemeistert hast ;)"

Cem
"Sehr beeindruckend, Robert. Ich glaube du hast die ganzen Liberalen mit deiner Rede abgeholt!"

Claudia
"Robert!!! Was eine Rede. Ich bin ja so erleichtert, wie gut du das gemacht hast. Lass dir gesagt sein, dass du es nicht besser hättest machen können. Wir sind alle stolz auf dich!"

Und nicht zuletzt schaute er sich die Nachricht von Annalena an.

Annalena
"Hab deine Rede gerade gesehen und ich bin wirklich beeindruckt, wie souverän du sie durchgezogen hast. Wie geht es dir jetzt? Wollen wir uns eventuell heute Abend treffen, dann kannst du dir ein wenig deine Gefühle von der Seele reden?"

Robert musste bei dem Angebot leicht grinsen. Er war einfach nur unfassbar erleichtert, dass zwischen Annalena und ihm scheinbar alles gut war. Auch wenn sie nicht nochmal über diese Situation gesprochen hatten, als er sie einfach so geküsst hatte. Aber trotzdem schien es für ihn so, als ob alles in Ordnung wäre. Und ja, er konnte etwas Ablenkung nach diesem Tag sicherlich gebrauchen. Und nach den Informationen, die er Gestern erhalten hatte. Also sagte er Annalena schnell zu und musste mal wieder wirklich wertschätzen, dass sie ihn so sehr unterstützte.

Bevor der Abend jedoch kommen sollte, würde Robert noch einige Zeit bei dem Parteitag anwesend sein. Also sah er ein letztes Mal in den Spiegel, der auf den Toiletten hing und stellte fest, dass er wirklich fertig aussah. Seine Augenringe konnte er mal wieder nicht verstecken und auch seine Haare waren mittlerweile viel zu lang geworden. Naja, das war jetzt auch nicht von größter Relevanz. Deshalb verließ er wieder den kleinen Raum und machte sich so schnell wie möglich auf den Weg zurück zu seinem Platz.

Ob es wohl eine gute Idee war, diese Rede zu halten?

Ich danke euch fürs Lesen und bis zum nächsten Mal!

Zerbrechen - Die Zeit ohne ihn Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt