Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Ray die kleine glänzende Kette mit dem Stick, die er vor seinen Nüstern auf und ab baumeln ließ. Um ein Haar wäre es diesem Feivel gelungen, ihm das Beweisstück abzuknöpfen. Nachdenklich legte der gescheckte Hengst den Kopf in den Nacken. Würde es ihm wirklich etwas bringen, diesen Mistkerl bei Kira zu verpfeifen? Oder würde sie sich am Ende gar auf dessen Seite schlagen, sodass er selbst als der Dumme dastand?
Mit einem aufgewühlten Knurren pfefferte Ray den USB zurück in seine Nachttischschublade.
„Alles klar, Bro?", fragte Rick auf einmal mit seiner krächzenden Stimme. Wie üblich fläzte sich der ungepflegte, zerzauste Apfelschimmel auf der Couch in Rays Zimmer und zockte irgendein dämliches Videospiel. Eigentlich wäre er von der Verwaltung zusammen mit Feivel und Simon in ein Zimmer gesteckt worden, aber kurzerhuf hatte er sich bei seinem Kumpel eingenistet. Im Gegensatz zu den restlichen Studenten besaß Ray nämlich ein ganzes Haus auf dem Gelände der Winters Academy. Es hatte eben doch seine Vorteile, wenn die Eltern sich der Wissenschaft verschrieben hatten.
„Davon verstehst du nichts", schnaubte er gezwungen. So gern er diesen Typen auch hatte, sein Hirn taugte einfach zu überhaupt nichts. Da brauchte er sich gar nicht erst die Mühe zu machen, ihm die Sachlage zu erklären zu versuchen.
Ein knappes Nicken von Rick, dann galt seine gesamte Aufmerksamkeit wieder der ratternden Spielkonsole.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlug Ray seinen Huf auf das Bettlaken, wo er schmutzige Spuren hinterließ. Irgendwie musste er sich abreagieren. Langsam aber sicher begann das Blut in seinen Adern zu kochen. Es wurmte ihn, einfach nur tatenlos hier herumsitzen zu müssen, während Feivel von Kira die erstklassigste Förderung kassierte, die man sich nur vorstellen konnte. Sogar in das Geheimprogramm seines verstorbenen Vaters war dieser seltsame Punktehengst eingeweiht worden. Und das stand einzig und allein Pferden zu, die Kiras vollstes Vertrauen genossen.
Seine Aggressionen unterdrückend sprang Ray auf. Er brauchte jetzt dringend etwas Bewegung, sonst würde er hier noch irgendetwas oder jemanden zusammenschlagen. Und wenn das passierte, konnte er den Respekt seiner Mutter vollkommen vergessen.
„Ich bin kurz weg", rief er dem gammelnden Rick noch zu, ehe er seine Zimmertür hinter sich zuknallte und das Haus verließ. Im Normalfall hätte er dem Schimmel aufgetragen, auf das Haus und seine Sachen aufzupassen, aber dazu war er gerade einfach zu wütend. Dank der Hintertür musste er wenigstens nicht auch noch das Unigelände mit all diesen nervtötenden Pferden überqueren, um gänzlich nach Draußen zu gelangen.
Mit erregt tänzelnden Hufen sog Ray die erfrischend kühle Luft ein. Es war heute leicht neblig und ein nasser Dunst hing über den Hügeln und Wäldern, die Tuesday umgaben. Einmal mehr war er froh, nicht direkt in der Stadt zu leben. Hier in der Wildnis, wo alles noch voll von unberührtem Gras und wuchernden Hecken war, gefiel es ihm wesentlich besser.
Wie von selbst setzten sich seine vier Beine in Bewegung und preschten mit immer größerer Beschleunigung über das Sumpfland dahin. All die Energie der hitzig und flammend in ihm brodelnden Wut auf Kira und Feivel, strömte in Rays ausladende Galoppsprünge. Sein Schweif war aufgestellt und wehte im kühlen Wind. Schneller und schneller schoss er über die weiten Wiesen und Felder. Er verfolgte kein bestimmtes Ziel, wollte einfach entfliehen von all der Schwere des Alltags. Scharfer Wind brachte seine Augen zum tränen und ließ seine Sicht verschwimmen. Kraftvoll stieß er sich immer und immer wieder vom Boden ab und schwebte förmlich über die Landschaft hinweg. Wie ein Blitz sauste er dahin. Seine Umgebung zerfloss zu einem graugrünen Strudel. Da waren nur noch er und sein gleichmäßiger Herzschlag, der kraftvoll gegen seine Brust pochte.
Mit jedem Meter, den er sich weiter von der Winters Academy weg bewegte, wurde er ruhiger und gelassener. Sein Atem ging regelmäßiger und alle Konzentration lenkte sich auf seine wirbelnden Hufe. Von Galoppsprung zu Galoppsprung ordneten sich Rays umherfliegenden Gedanken, bis nur noch ein einzelner, pulsierender Strang vorhanden war. Langsam aber sicher knüpfte sich ein dichtes Netz daraus. Ein klarer Plan entstand in seinem Kopf, formte sich in seinem Gehirn wie eine Tonfigur vom Groben zum Feinen.
Er musste seiner Mutter zeigen, dass er auch dazu in der Lage war, produktive Beiträge zu ihrem Programm zu leisten. Sonst würde sie weiterhin ihre Lieblingsstudenten über ihren eigenen Sohn stellen. Die Lässigkeit, mit der Ray sein Studium bisher angegangen hatte, musste aufhören. Ab heute würde er sich intensiver auf die Stunden vorbereiten, wieder aktiver in der geheimen Forschung werden, sich in Kiras Programm einschleusen, neue Ideen einbringen. Etwas tun, was Feivel nicht tat. Schneller sein, besser sein, sich als wichtiger beweisen.
Inzwischen nur noch gemächlich zwischen den Bäumen umherjoggend, nickte der Fuchsschecke siegessicher. Der USB-Stick, der wohlgehütet von Rick in seiner Nachtisschublade ruhte, konnte ihm bei seinem Vorhaben sicherlich dabei behilflich sein, Feivel auszuschalten.
Ein entschlossenes Schnauben drang über Rays Lippen, als sich eine düstere Ergänzung des Plans in seinem Gehirn formte.
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Das Geheimnis der Winters Academy
Novela JuvenilDas Blut in seinen Adern gefror. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, die sich bedächtig aus den Schatten löste und in das spärliche Licht trat, das aus den Fenstern der Winters Academy nach draußen drang. „Ray- Raymon, was machst du...