Kapitel 10

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Feivels gesamter Körper zitterte. Mit langen Schritten bewegte er sich über das dämmrige Unigelände, wobei er Mühe hatte, genug Luft zu bekommen, da sein Körper in all der Aufregung offenbar vergessen hatte, wie der Atemmechanismus funktionierte.

Die rote Abendsonne tauchte die Statue der liegenden Acht, die nahezu bedrohlich den Hof zierte, in einen majestätischen Schein. Wie ein glühender Feuerball stand die Sonne über den Zinnen der Winters Academy und versank mit langsamer Trägheit dahinter. Es war, als würde sie von den kantigen Dächern der Gebäude verschlungen.

Mit knirschenden Hufen trat der unscheinbare Hengst an die gläserne Tür des Treffpunkts. Das kleine, gusseiserne „C" verriet ihm, dass er sich an der richtigen Stelle befand. Ein kühler Luftzug lies ihn Frösteln. Zögerlich schob er die schwere Flügeltür zur Seite und trat ein. Wie üblich starrten ihn die schwarz-weiß Bilder der Wissenschaftler aus ihren leeren Augen an. Heute wirkten die Photographien besonders düster. Vor allem über John Winters' Gesicht zeichnete sich ein markanter Schatten ab. Fast schon hatte Feivel das Gefühl, der verstorbene Hengst würde ihn aus seinem Bild heraus beobachten, ihn mit kritischer Miene prüfen.

Ein Schauer lief Feivels Rückgrat hinab. Mit einem flüchtigen Blick auf die große, silberne Uhr, die über Albert Einsteins irrem Photo prangte, vergewisserte er sich, dass er noch ein paar Minuten Zeit hatte, bis Kira hier erscheinen würde. Sie erwartete ihn um Punkt Acht genau hier, aber jetzt standen die Zeiger erst auf fünf vor.

Unsicher darüber, was er in der übrigen Zeit noch tun sollte, verlagerte Feivel sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Langsam atmete er aus und beobachtete ein paar tanzende Staubkörner dabei, wie sie durch die rötlich schimmernde Luft stoben.

„Du bist ja schon hier!", klang auf einmal eine leicht kratzige, aber dennoch unverkennbar weibliche Stimme an seine lässig herunter hängenden Ohren.

Augenblicklich war wieder jede Faser Feivels Körpers angespannt. Seine Ohren schnellten nach vorne und er reckte die Brust. Hastiger als beabsichtigt, fuhr er zu Kira herum. Die zottige Mähne der Friesenstute verdeckte die Hälfte ihres kantigen, schwarzen Gesichtes. Dennoch war das lebhafte Blitzen ihrer dunklen Augen deutlich hinter den Strähnen auszumachen. Mit einer geübten Bewegung schleuderte die Professorin ihren Schopf beiseite. Ihr dunkelblauer Laborkittel warf dabei markante Falten und Feivel fiel ein klimpernder Schlüsselbund auf, der schlicht und glänzend neben ihrer ID-Karte herunterhing, die eine kleine Photographie nebst winzigem Text zeigte und in bereits leicht verkratztem Plastik eingefasst war. Anders als seine eigene, war sie mit edlen, goldenen Streifen versehen, neben denen das Logo der W.A.S. abgedruckt war.

„Lass uns gehen", forderte Kira den Hengst mit einem Lächeln auf. Die feinen Haare ihrer Nüstern wurden von den durch die erstaunlich schlierenfreie Glasfassade dringenden Sonnenstrahlen erleuchtet.

„Okay", brachte Feivel hervor, ehe er ihr wortlos folgte. Die unangenehme Hitze der Aufregung stieg in seinem Körper auf, als sie die Gänge der Uni entlang schritten. Immer wieder schaute er sich fast schon paranoid nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie bemerkte. Doch das Gebäude war wie leergefegt. Kein Pferd war weit und breit zu erblicken. Die meisten von ihnen hockten vermutlich entweder über irgendwelchen Lernsachen in ihren Zimmern oder vergnügten sich bei seltsamen Partys in der Stadt. Ein mattes Schmunzeln umspielte Feivels Lippen. Simon zählte zu keiner dieser beiden Gruppen. Nach dem Abendessen war der kleine Schecke sofort wie tot ins Bett gefallen. Heute war wohl ein anstrengender Tag für ihn gewesen. Zumal Dr. Baker vorhin auch noch auf die grandiose Idee kam, seine armen Studenten mit einer unangekündigten schriftlichen Überprüfung quälen zu müssen.

Mit einem leisen Klicken öffnete Kira die große Tür, die zu den Laboren führte. Feivel hatte nicht gesehen, wie der Vorgang erfolgte, aber er vermutete, dass es hierfür eine ähnliche Schlüsselkarte gab wie für die Zimmer.

Das Geheimnis der Winters AcademyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt