Andächtig schritt John Winters durch die Menge der Pferde. Aller Aufmerksamkeit war ungeteilt auf den grauen Hengst gerichtet. Voller Überraschung und Furcht starrte auch Feivel durch die offene Tür zu ihm hinüber. Niemals in seinem Leben hätte er geglaubt, dieses Pferd jemals leibhaftig zu erblicken. Was war geschehen? War er die ganze Zeit doch noch am Leben gewesen und hatte im Untergrund an seinen Projekten weitergearbeitet? Doch wieso? Wusste Kira davon? Tausende Fragen schwirrten in Feivels ohnehin bereits vollkommen überforderten Gehirn auf und nieder.„Wie kann das sein ...", murmelte Kira mehr zu sich selbst. Dem am Boden liegenden Serum schenkte sie keine Beachtung mehr. Alle Blicke klebten einzig und allein an dem Pferd, das sich da gerade durch den Gang in ihre Richtung schob. Johns Fell schien stumpf und glanzlos, dennoch strahlte er eine gewisse Stärke aus. Seine Haltung war aufrecht und die Schritte entschlossen.
„Kira!", hallte es auf einmal durch die Gänge. Aufmerksam und zugleich geschockt spitzten sich die Ohren der Stute.
„Hast du meine Frage nicht gehört?" Johns Stimme klang seltsam brüchig, aber noch immer kraftvoll. „Was geht hier vor?"
„Ich ...", nahezu verlegen senkte Kira den Kopf. Voller Ehrfurcht wanderte ihr Blick zu dem grauen Hengst, der inzwischen mittig des Gangs zum Stehen gekommen war. Die Reihen der zahlreichen Pferde um ihn herum hatten sich aus ihrem Schweigen gelöst und waren in heftiges Gemurmel ausgebrochen. Jeder fragte sich, wie es sein konnte, dass John nach all den Jahren noch immer am Leben war.
„Du wirst diesen unschuldigen Hengst nun auf der Stelle frei lassen!" Selbst aus dieser Entfernung strahlte John eine immense Autorität aus.
„Was?" Sowohl Feivel als auch Kira starrten ihn ungläubig an. War er es nicht gewesen, der die ganze Rassenvernichtungsidee ins Leben gerufen hatte?
„Du hast mich schon verstanden, Kira", grollte John. „Lass ihn gehen." Sein Ton war befehlend. Der Tumult um ihn herum schwoll an. Doch selbst das konnte diesen Hengst nicht aus der Ruhe bringen. Wie ein Fels in der Brandung verharrte er an Ort und Stelle und starrte mit blickte ruhig mit zugleich starr und kalt zusammengekniffenen Augen zu Kira hinüber. Diese hatte mittlerweile wieder an Haltung gewonnen. Ihr bis eben noch eingeschüchtert eingefallener Körper richtete sich auf. Mit gekräuselten Nüstern wieherte sie: „Warum? Woher der plötzliche Sinneswandel?" Plötzlich klang sie grimmig und gereizt.
„Ach weißt du ..." Mit einem Mal wurde John leiser. Der feurige Ausdruck seiner Augen, den Feivel von alten Fotos kannte, war gewichen. Er wirkte plötzlich alt und gebrechlich. „Wenn man mehrere Jahre Zeit hat, über so etwas nachzugrübeln, kann man seine Meinung leicht ändern", seufzte er müde.
Noch immer misstrauisch musterte Kira ihn. Keiner von beiden wagte, sich weiter zu nähern und so stierten sie sich gegenseitig aus der Ferne an.
„Wo warst du überhaupt?", schoss Kira säuerlich. „Ich dachte, du wärst tot."
„Das war ich auch ...", begann John. Es wurde totenstill. Jeder wollte wissen, was der totgeglaubte Hengst zu sagen hatte. Teils interessiert, teils ängstlich ruhten die Blicke sämtlicher Anwesenden auf ihm.
„Ich bat einen Pfleger meines Vertrauens meinen Körper einzufrieren und auf diese Weise zu konservieren." Leises Schnauben entwich Johns Nüstern. "Es hat ein knappes Jahr gedauert, bis die Wissenschaft weit genug war, um mich wieder zu erwecken. Letzten Endes war ich zwar wieder zurück ins Leben geholt worden, aber meine Organe waren zu geschwächt, um eigenständig arbeiten zu können. Doch wie ihr mich kennt, wollte ich nicht aufgeben." Einige nickten. Feivel schluckte schwer. Kaum konnte er fassen, dass etwas Derartiges tatsächlich möglich sein sollte. John fuhr fort: „Unter Schmerz und Leid kämpfte ich bis zu dem heutigen Tag, an dem ich endlich von den Maschinen befreit werden konnte." Ein Beben durchlief seinen Körper.
„Aber ..." Stumm scharrte Kira am Boden. „Wieso wusste ich nichts davon? Immerhin bin ich deine Frau!" Sie schlug einen vorwurfsvollen Ton an und peitschte aufgebracht mit dem Schweif. „All die Zeit, war ich in dem Glauben, du seist von uns gegangen. Immer war ich erpicht darauf, dein Vermächtnis zu Ende zu führen, wie ich es dir versprach."
„Ich bin stolz auf dich", sagte John unvermittelt und schnitt der Stute damit sanft das Wort ab. „Nur wenige Pferde hätten deinen Mut und deine Stärke besessen, dies tatsachlich zu tun."
Augenblicklich schwand all die Wut und Enttäuschung aus Kiras Gesicht. „John ..." Sie lächelte. „Es ist leicht, etwas für jemanden zu tun, den man liebt."
John schwieg. Ruhig und nahezu regungslos stand er da.
„Komm endlich her, John!", rief Kira ihm nahezu euphorisch zu. „Ich habe dich so sehr vermisst und jetzt bist du endlich wieder da!"
Doch John rührte sich nicht. Aus irgendeinem Grund, wagte der graue Hengst keinen weiteren Schritt in die Nähe seiner Frau.
Verwirrt riss diese den Kopf hoch. „Was ist los?" Verwundert sah sie zu ihm hinüber. Auch der Tumult um sie herum erhob sich wieder. Feivel war unschlüssig, was die ganze Situation zu bedeuten hatte.
„Lass erst den Hengst frei", befahl John Winters auf einmal in kühler und düsterer Tonlage.
Kiras Züge verhärteten sich. „Niemals", zischte sie. „Es hat mich so viel Zeit und Mühe gekostet, dieses Mittel anzufertigen und Feivel in diese Lage zubringen. Jetzt kann ich unmöglich alles wieder abblasen." Erbost griff sie nach der noch immer aufgezogen am Boden liegende Spritze. Augenblicklich begann Feivels Herzschlag sich zu beschleunigen. Für einen Moment hatte er tatsächlich Hoffnung gehabt, er sein gerettet. Doch nun flammte all die verdrängte Angst erneut in ihm auf. Instinktiv presste er sich an die kalte Unterlage, auf der er noch immer festgebunden war.
John antwortete nicht. Kein weiteres Wort kam mehr über seine Lippen, stattdessen funkelte er Kira finster an. Die Stute nahm einen verkniffenen Ausdruck an. Mit einem Ruck fuhr sie zu Feivel herum, die Spritze aufgezogen und bereit, ihm den Inhalt ohne weiteres Zögern in die Blutbahnen zu jagen.
Die Augen des Studenten weiteten sich voller Panik. Adrenalin rauschte durch seine Adern, doch es gab keine Möglichkeit zur Flucht.
Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verharren, stürzte Kira auf ihn zu. „Du bist nicht John", rief sie verbissen zu dem grauen Hengst hinter ihr. Dieser stieg unvermittelt auf die Hinterbeine und stieß ein gellendes Wiehern aus. „Halt, Kira! Hör auf!"
Sie achtete nicht darauf und knurrte stattdessen: „Ich hab' dich durchschaut. Wer immer du bist, John Winters bist du nicht." Böses Schnauben. Dann stieß sie die Nadel in Feivels Hals. Eiskalt und ohne Gnade. Er schrie auf, aber es war zu spät. Stechend blieb die Nadel tief unter seiner Haut stecken. Ein brennendes Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus, als das Serum in seine Blutbahnen eintrat und sich pulsierend in seinem Kreislauf verteilte.
„Nein!" John löste sich aus seiner Starre. Mit einem Mal klang seine Stimme nicht mehr tief und durchdringend sondern schrill und hysterisch.
Der letzte Gedanke, der Feivel überkam, war jener, dass ihm diese Stimme seltsam bekannt vorkam. Jedoch wurde er bereits kurz darauf von undurchdringbarer Schwärze überflutet, die ihm erdrückend den Atem nahm. Ein reißender Strudel, der all seine Sinne schwinden lies. Verzweifelt versuchte er die Augen offen zu halten, doch es gelang ihm nicht. Auf einen Schlag schien alles wie ausradiert. All seine Gedanken, Gefühle und die Umgebung ein einziges Nichts. Eine undurchdringbare Hülle der Dunkelheit brach auf Feivel ein. Es war, als würde er unmittelbar über die Schwelle des Todes gerissen werden.
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Das Geheimnis der Winters Academy
Novela JuvenilDas Blut in seinen Adern gefror. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, die sich bedächtig aus den Schatten löste und in das spärliche Licht trat, das aus den Fenstern der Winters Academy nach draußen drang. „Ray- Raymon, was machst du...