Mit schnellen, aufgeregten Schritten bewegte sich Feivel durch die sterilen, weißen Gänge des Geheimtraktes der Winters Academy. Der hellblaue Polyesterkittel fühlte sich auf seinem Fell ungewohnt und fremd an. Sich so tief unter der Erde zu befinden, versetzte ihn in ein mulmiges Gefühl.
Heute würde Kira ihn in die Arbeit mit den Krebsrisikopatienten einführen. Obwohl Feivel nicht sonderlich gerne mit Pferden arbeitete, sondern sich eher für die Forschungen interessierte, war er unglaublich nervös. Unruhig zuckten seine Ohren hin und her, stets darauf bedacht, seine Umgebung genauestens abzuscannen. Der abgeschiedene Forschungsbereich war wesentlich weitläufiger, als Feivel bei seinem ersten Besuch realisiert hatte. Neben den Zellen verborgen sich unter den Mauern der Uni zahlreiche Behandlungsräume und Labore.
„Hier entlang." Mit einer ausladenden Kopfbewegung lotste Prof. Winters ihn die verschachtelten aber dennoch ziemlich geräumigen Gänge entlang. Hunderte Türen zweigten in diverse Richtungen ab, wobei jede einzelne von ihnen den Zugang zu einem ganz eigenen Reich der Forschung bot.
Mit klappernden Hufen bewegte sich Feivel hinter der Rappstute her. Heute ging es hier wesentlich geschäftiger zu als neulich Abend als er das erste Mal dort war. Rumorende Maschinen und gedämpfte Stimmen hallten von den eintönigen Wänden wieder. Ab und zu kreuzte das ein oder andere bekittelte Pferd ihren Weg. Kira grüßte kurz und auch Feivel rang sich ein knappes Nicken ab. All die Personen, die sich hier unten herumtrieben, hatte er noch nie zuvor in seinem Leben getroffen. Weder in der Winters Academy noch anderswo. In diesem geheimen Labortrakt war eine ganz eigenen Forschertruppe zusammengestellt worden. Unbekannte aber definitiv vielversprechende Gesichter, bestimmt dazu, die Welt zu verändern. Und Feivel war mitten unter ihnen.
Unwillkürlich machte sich ein bedrückendes Gefühl in ihm breit. Vielleicht war seine Zeit hier begrenzt. Sobald Ray gegenüber seiner Mutter auch nur ein Wort über seinen und Simons Einbruch verlor, waren sie geliefert. Schon den ganzen Tag über zermarterte der Hengst sich darüber den Kopf, wie er seinem Widersacher den USB-Stick entwenden konnte. Dieser Beweis musste unbedingt vernichtet werden. So lange er sich in Raymons Hufen befand, stellte er eine nicht unwesentliche Gefahr für Feivel und seinen Freund dar.
„Wie du weißt, wirst du heute einen unser ersten Probanden der Krebsimpfungsstudie betreuen", erklärte Kira mit einem Lächeln.
Nahezu sofort kehrte Feivels Aufregung zurück. Mit geblähten Nüstern beobachtete er seine Dozentin dabei, wie sie eine der Türen aufschob. Beschriftet war diese mit „Behandlungsraum 029". Dieser Gang wirkte im Gegensatz zu den übrigen freundlicher und auf irgend eine Weise natürlicher, was wohl daran lag, dass hier die Patienten von außerhalb untergebracht waren.
Sobald die weiße Tür beiseite geschwungen war, wurde ihr Blick auf einen von unnatürlich hellem Licht erleuchteten Raum eröffnet. Darin befand sich ein großes Krankenbett, einige Transfusionsbehältnisse sowie vereinzelte Schränke, in denen sich ordentlich aufgereihte Medikamente und Akten stapelten. Auf dem Bett hockte ein schlaksiger, graubrauner Hengst. Eigentlich sah er recht gesund aus, doch hinter seinen kurzen Mähnenfranzen blitzten die dunklen Augen besorgt vor sich hin.
Feivel trat vorsichtig hinter Kira ein und zog die Tür mit einer routinierten Bewegung zu. Zu seiner Überraschung waren sie nicht nur zu dritt in diesem Zimmer. Neben seiner Dozentin, dem Patienten und ihm, war eine stämmige Schimmelstute anwesend. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen und kritzelte irgendetwas auf ein Klemmbrett, das sie auf einem Tischchen neben dem Bett abstützte. Da sie ebenso wie Feivel einen hellblauen Kittel trug, schloss er darauf, dass es sich bei ihr auch um eine Art Praktikantin handelte. Als die Stute bemerkte, dass die beiden Personen eingetreten waren, schwang ihr breiter Kopf herum. Lange hellbraune Mähne, die zu dicken Zöpfen geflochten war, fiel ihr über den perlmuttschimmernden Hals.
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Das Geheimnis der Winters Academy
Teen FictionDas Blut in seinen Adern gefror. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, die sich bedächtig aus den Schatten löste und in das spärliche Licht trat, das aus den Fenstern der Winters Academy nach draußen drang. „Ray- Raymon, was machst du...