Wie so oft in letzter Zeit hingen Feivels Gedanken in einer vollkommen anderen Galaxie fest. Statt in Dr. Charlsons Hörsaal befand sich sein Geist noch immer in den Gängen der geheimen Labore unter der Winters Academy bei Jackson. Der schlaksige Hengst war inzwischen stationär aufgenommen worden. Bereits nach der ersten Infusion, war er etwas schwächlich geworden und sein Appetit hatte sich vermindert. Mit Sorge dachte Feivel an all die Behandlungen, die sein Patient noch vor sich hatte, und wie experimentell das ganze Verfahren doch war.
„Hey, Bro", zischte Simon ihm plötzlich zu. Eine gewisse Hektik schwang in seiner Stimme mit.
Feivel schreckte auf und sah desorientiert um sich. „Was ist denn?", flüsterte er erregt.
„Ray starrt uns schon wieder an." So unauffällig wie möglich bewegten sich die Augen des Schecken nach hinten.
Feivel lief es eiskalt den Rücken hinunter. Unwillkürlich schnellte sein Schädel herum und seine Blicke trafen direkt auf diese altbekannt verschlingende, eisblaue Kälte. Raymon Winters. Er hatte den muskulösen Fuchsschecken schon fast wieder vergessen, doch jetzt keimte die Erinnerung an den USB-Stick unweigerlich wieder in ihm auf. Verzweifelt sah er Simon an, aber der verdrehte nur die Augen. Er hatte noch immer keine blasse Ahnung, in welch einer Gefahrensituation sich die beiden befanden.
„Wie soll das nur gut gehen ...", murmelte der gepunktete Hengst nahezu lautlos und wandte sich vorsichtig wieder von Ray ab. Der Stick war wie eine tickende Bombe, die jeden Moment in die Luft gehen könnte.
„Was?" Leise wiehernd hob Simon den Kopf.
„Ach nichts, der Gute wird nur mal wieder seine fünf hassvollen Minuten haben", versuchte Feivel Raymons Verhalten zu erklären. Ohnehin wunderte es ihn, dass er mit seinem Geisel nicht längst zu Prof. Winters gerannt war. Vielleicht hatte er ja Angst vor seiner eigenen Mutter. Oder aber, er plante noch viel grausamere Dinge. Diesem Pferd war alles zuzutrauen. Krampfhaft überlegte Feivel, wie er das Übel doch noch irgendwie abwenden konnte. Sollte er Kira einweihen und sich mit ihr gegen ihr eigen Fleisch und Blut verbünden? Diese ganze Situation überforderte ihn maßlos.
Mit zusammengekniffenen Augen lugte er hinüber zu Simon, der mit ahnungslos gespitzten Ohren Dr. Charlsons Vortrag lauschte. Es kam ihm falsch vor, seinem besten Freund alles vorzuenthalten, aber es war seine Entscheidung gewesen, in die geheime Labortätigkeit der Winters Academy einzusteigen. Nun musste er auch allein die Konsequenzen tragen. Außerdem hatte er Kira versprochen, niemandem davon zu erzählen. Es war sicherlich besser, wenn so wenige Pferde wie möglich Bescheid wussten.
Unruhig nestelte Feivel an seinem Notizblock herum. Anders als sonst, war er nicht bereits übersät von allerlei Formeln, Regeln und Erkenntnissen, die er in der Stunde gewonnen hatte. Ray, der ihm wortwörtlich im Nacken saß, raubte ihm all seine Konzentration.
Der Gedanke an Mallory und Simon versetzte Feivel einen harten Stich ins Herz. Wieder einmal, hatte die Wissenschaft über die Freundschaft gesiegt. Er war nicht traurig über diese Entscheidung, hätte allerdings gerne jemanden gehabt, mit dem er über all die Dinge reden konnte, die ihn beschäftigten.
Da ertönte ein gedämpftes, helles Schnauben hinter ihm. Obwohl ein solches Geräusch in einem überfüllten Hörsaal nicht sonderlich ungewöhnlich war, drehte er sich reflexartig danach um. Gut zwei Reihen weiter oben nickte ihm eine altbekannte Schimmelstute freundlich zu. Feivel zog die Augenbraue hoch und machte ebenfalls einen knappe Kopfbewegung.
Richtig, Clementine, fuhr es ihm durch den Kopf. Er war nicht allein. Auch nicht unten im Labor oder bei den Patienten. Dort gab es neben ihm noch mehr Helfer und Studenten, die Kira in ihrem Plan unterstützten. Aufgeregt wanderten seine Augen durch die Reihen. Jeder hier konnte Teil dieser Organisation sein. Jede einzelne Person in diesem Raum erschien ihm undurchschaubarer wie je zuvor. Von der quirligen Clementine hätte er zum Beispiel niemals erwartet, sie in Kiras Laboren anzutreffen. Es war ihm schleierhaft, wie sie es überhaupt geschafft hatte, das Vertrauen der schwarzen Stute zu gewinnen. Dennoch war er unglaublich froh darüber, in ihr einen Redepartner auf Augenhöhe zu haben. Zusammen könnten sie gegen Ray ankommen. Über die kurze Entfernung die ihn und die freundlich zwinkernde Clementine trennte, spürte Feivel, wie sich langsam aber sicher ein unzerstörbares Band zwischen ihnen aufbaute. Das Band des gemeinsamen Schicksals.
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Das Geheimnis der Winters Academy
Genç KurguDas Blut in seinen Adern gefror. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, die sich bedächtig aus den Schatten löste und in das spärliche Licht trat, das aus den Fenstern der Winters Academy nach draußen drang. „Ray- Raymon, was machst du...