Es dauerte eine Weile, bis Dr. Charlson und der Pfleger verschwanden und Kira allein zurückblieb. Mit gesenktem Kopf stand die Friesenstute da. Die sonst aufrechte und autoritäre Haltung hatte sie verlassen. Stattdessen wirkte sie plötzlich verbraucht und alt. Sie musste mehr durchgemacht haben als die meisten andere Pferde. Ihr Mann war gestorben und sie trug die Verantwortung für solch eine große Institution wie die Winters Academy - inklusive der Last der dahinter steckenden Geheimnisse.
Schnell schüttelte Feivel sein Mitleid ab. Er war aus einem anderen Grund hier. Endlich hatte er die einmalige Chance sie alleine und verletzlich anzutreffen. So gemein es klingen mochte, es kam ihm im Moment gerade recht, dass sie ein wenig neben der Spur zu sein schien. Tief einatmend richtete er sich auf. Jetzt oder nie.
In strammer Haltung, baute er sich hinter der noch immer bis auf einen schmalen Spalt geschlossenen Tür auf. Ein leises Wiehern verließ seine Lippen, um Kiras Aufmerksamkeit zu erregen. Überrascht drehte sie sich in seine Richtung und wischte sich hastig und verwirrt über das Gesicht.
Mit einer dramatischen Geste stieß Feivel die Tür an, sodass sie nahezu in Zeitlupe aufschwang und der Stute offenbarte, wer ihr da gegenüber stand. Knarzend bewegte sich das Metallobjekt beiseite. In Feivels Ohren brandete ein tosendes Rauschen auf. Es gab kein Zurück mehr.
„Feivel, was machst du denn hier?" Mit schräggelegtem Kopf und einer hochgezogenen Augenbraue musterte die Rappstute ihn. Vorwurfsvoll blitzten ihre Augen ihn an. Hätte sie keine vier Hufe gehabt, hätte sie sicherlich unterstreichend die Arme in die Hüften gestemmt. Eigentlich dürfte er um diese Zeit gar nicht hier sein.
Ein allerletztes Mal atmete Feivel durch und versuchte sich gänzlich auf die Situation zu konzentrieren. Diesmal durfte er keine Schwäche zeigen. Er musste Kira davon überzeugen, dass er die Wahrheit verdient hatte.
Bestimmt tat er einige Schritte auf die dunkle Stute zu, bis er letztendlich nahezu direkt vor ihr stand. Als er sprach, versuchte er so gut es ging, keine Miene zu verziehen. „Professor Kira Winters." Eisern presste er die Worte hervor. „Wir müssen reden."
Als hätte man einen Hebel umgelegt, wich Kiras anschuldigender Ausdruck aus ihrem Gesicht. Mit einem Mal formten sich ihre Züge zu einer harten Wand, an der alles abzuprallen schien. Schlagartig war jegliche Form des Gefühls von ihr gewichen. Wie ein Roboter nickte sie. „Ich glaube, du könntest Recht haben."
Ohne weitere Zeit zu vergeuden oder Feivels Reaktion abzuwarten, packte sie seinen langen Mähnenschopf und zerrte ihn in einen der Laborräume hinein.
Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, stieß sie ihn unsanft von sich, sodass er taumelnd das Gleichgewicht suchen musste. Sobald er sich wieder gefangen und seine zugegebenermaßen ziemlich zittrigen Beine sortiert hatte, gelang es ihm, zu Kira aufzublicken. Aufrecht stand sie da, erhobenen Hauptes und noch immer mit dieser versteinerten Maske über dem Gesicht. So verharrten sie einen Moment, musterten sich gegenseitig und versuchten verbissen die Absicht des jeweils anderen zu ergründen. Es fiel nicht schwer, sich anzublicken, doch zugleich war es so, als läge eine unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Irgendwann hielt Feivel es nicht mehr aus. Er hob den Blick und richtete ihn direkt in Kiras funkelnde und auf eine skurrile Weise dennoch stumpfe, rauchschwarze Augen.
„Was ist die Wahrheit?", platzte es aus ihm heraus. „Die Wahrheit über Jacksons Tod und das, was wir hier tun?" Eigentlich hatte er nicht geplant, gleich so direkt mit der Tür ins Haus zu fallen, doch es schien ihm die einzige Möglichkeit, Kira deutlich genug klarzumachen, was er wollte. Und das war nur eines: Die Wahrheit.
Scharfes Schnauben drang aus den Nüstern der nachtschwarzen Stute. Ihr Schädel wandte sich abwehrend und gespielt interessiert zu einigen Gerätschaften, die auf der Fensterseite des Raumes aufgereiht waren. Feivel erkannte einige hochwertig wirkende Mikroskope und ein ziemlich großes Konstrukt, das ein Massenspektrometer sein könnte. Eines musste man der Winters Academy lassen, was die Forschung anbelangte, war sie top ausgerüstet.
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Das Geheimnis der Winters Academy
Fiksi RemajaDas Blut in seinen Adern gefror. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Gestalt an, die sich bedächtig aus den Schatten löste und in das spärliche Licht trat, das aus den Fenstern der Winters Academy nach draußen drang. „Ray- Raymon, was machst du...