Kapitel 2

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Am nächsten Tag lief ich ein wenig in der Stadt herum.
Die Menschen um mich herum nahm ich kaum wahr und ich merkte nicht, wie ich immer wieder gegen Passanten lief. Währenddessen ging mir das Treffen von gestern Abend nicht mehr aus dem Kopf.

Die unbarmherzige Kälte des Januars drang durch meine dicke Kleidung in mich hinein und brachte mich zum Zittern doch trotzdem lief ich weiter und blieb kein einziges Mal stehen. Vorbei an den riesigen Gebäuden, an Bahnhöfen, Shopping Malls und Wohnhäusern trugen mich meine Beine, bis ich ein wenig außerhalb vom Stadtzentrum angelangte.

Ich wusste nicht wohin ich lief bis ich plötzlich am Grab meines Bruders stand.
Völlig durchgefroren stand ich davor und beugte mich langsam hinunter. Mittlerweile waren es drei Jahre her, dass dieser Unfall ihn aus dem Leben riss und doch fühlte es sich wie gestern an.
Meine Finger griffen auf den Stein und fuhren über die eingravierten Buchstaben.

Lyam Ethan Jonson
*11.2.2003
†21.12.2017

Immer in unseren Herzen.

Auf seinem Grab stand ein Bild von ihm, welches ich in die Hand nahm und an mich drückte. Eigentlich war ich der Meinung, dass ich mittlerweile gut über seinen Tod hinweggekommen bin aber jetzt, wie ich wieder einmal hier sitze, merkte ich, dass es längst nicht so war, denn die Trauer durchbohrte mich gnadenlos.

Ich merkte, wie mein Atem bei dem Anblick seines Grabes und seines Bildes schneller wurde, nein raste.
Meine Sinne waren taub und es rauschte in meinen Ohren. Meine Beine fingen an, wie wild zu zittern und ich konnte mich nicht mehr auf ihnen halten, weshalb ich umkippte. Mein Herz pochte, sodass ich das Gefühl hatte es würde gleich aus meiner Brust hinausspringen.
Meine Gedanken waren ein wildes Durcheinander und drehten sich wie ein Karussell während ich erfolglos versuchte die Erinnerungen und Emotionen zu verdrängen.
Die Dunkelheit drohte mich zu übernehmen und panisch versuchte ich gegen meine Tränen anzukämpfen, doch ich war komplett machtlos gegen sie.

Vor meinem inneren Auge tauchte Lyam auf, wie er sich als kleiner Junge auf die Wiese fallen ließ und den Hügel hinabrollte. Lachen erfüllte den stillen Sommertag. Ich saß im hohen Gras und beobachtete ihn, wie er wieder hochgerannt kam und als er sich schwer keuchend neben mir fallen ließ, wuschelte ich ihm durch sein Haar.

"Na Käferchen"
"Emilyyyy", rief er laut lachend und schlug meine Hand weg.

Ich blinzelte und versuchte die Bilder aus meinem Kopf verschwinden zu lassen.
Schnell stellte ich das Bild an seinen ursprünglichen Platz zurück und ich merkte wie meine Augen anfingen zu brennen. Die Tränen sammelten sich und im nächsten Moment liefen sie an meinen Wangen hinunter wie ein Wasserfall. Ich vergrub meinen Kopf in meinen Knien und schlang meine Arme um diese.
Ich musste elendig aussehen, wie ich am Boden vor diesem Grab saß und mir die Seele aus meinem Körper heulte.

Plötzlich spürte ich wie sich eine Hand auf meinen Rücken legte und wendete meinen Kopf nach hinten.
Mein Blick traf auf eine junge Frau in meinem Alter. Kastanienbraune Haare, von der Kälte rosafarbene Backen, rote Lippen und ein weiches, rundliches Gesicht.
Ihre grün, grauen Augen musterten mich freundlich aber in ihrem Blick lag ein Funken von Sorge.

"Hey du. Geht's dir gut?"

Schniefend und mit rot verweinten Augen blickte ich sie an.
Langsam schüttelte ich meinen Kopf.

"Komm her"

Sie zog mich an der Hand hoch und umarmte mich einfach. Ohne darüber nachzudenken, dass ich gerade in den Armen einer wildfremden Person lag, grub ich mein Gesicht in ihre Armbeuge.
Die Tränen wollten nicht aufhören und ronnen unbarmherzig an meiner Wange hinab.
Die Hand der fremden Frau strich langsam über meinen Rücken.
Obwohl ich sie nicht kannte fühlte es sich gut an. Es fühlte sich geborgen an, wie sie einfach dastand und still ohne nachzuhaken für mich da war.

Tränen der TrauerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt