Kapitel 23

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Vor ungefähr drei Jahren

Im Schneidersitz saß ich auf der kahlweißen Decke, des Krankenhausbettes und scrollte gelangweilt durch die Sender am kleinen Fernsehen. Ich wartete gerade auf meine Mutter, die in den nächsten Minuten auftauchen sollte, denn sie war noch kurz bei Lyam bevor sie zu mir stoßen würde.
Ich wurde von den Ärzten nicht zu ihm gelassen, weil diese der Meinung waren, dass ich noch zu schwach war und Lyam ebenfalls nicht zu viel Besuch bekommen sollte, auch wenn es ihm schon deutlich besser ging und längst aus dem Koma zurückgeholt worden war. Pro Tag durfte nur entweder Mum oder Dad zu ihm und ihn für eine halbe Stunde besuchen. Heute war Mum wieder an der Reihe.

Seit über einer Woche war ich nun schon in dieser Hölle gefangen und hatte kein einziges Mal meinen Vater gesehen, was mich allerdings nicht gerade wunderte, denn seit Lyam geboren wurde, spielte ich nur die zweite Flöte bei ihm. Lyam war sein kleiner Schatz, sein Liebling, sein Ein und Alles und das ließ er mich nicht gerade sanftmütig spüren. Eine Vater-Tochter-Beziehung, wie andere Väter sie mit ihren Töchtern hatten, hatten wir nicht. Ich konnte nur davon träumen.

Genervt ließ ich mich zurückfallen, als ich einmal alle Sender durch hatte und dabei nichts für mich gefunden hatte. Fast zwei Wochen in einem Krankenhaus zu liegen, war der reinste Horror und langsam gingen mir die Beschäftigungsmittel aus.
Mum hatte mir zwar einige Bücher vorbeigebracht, aber ich hatte all diese schon durchgelesen. Teilweise zwei Mal.
Ich musste sie unbedingt bitten neue vorbeizubringen.

Gelangweilt starrte ich an die kahle, sterile weiße Decke, als die Tür leise klackte.
Meine Mum huschte herein und drückte mir einen Kuss auf meine Stirn.
"Hallo Mäuschen."
"Hey Mum." Ich streckte ihr meine Hand als Begrüßung entgegen und sie strich kurz darüber.
"Wie geht's dir heute?" Mum streifte mir eine Strähne aus dem Gesicht und zog sich einen der weißen Plastikstühle näher, um sich darauf fallen zu lassen.
"Gut, gut", nuschelte ich.
"Aber ich bin unwichtig. Wie geht es Lyam?"
"Er wird jeden Tag stärker Süße. Die Ärzte denken, dass sie ihn bald auf die Normalstation verlegen können."
Sie lächelte mich an und ich konnte ihr ansehen, wie glücklich sie darüber war, dass ihr Sohn sich ins Leben zurückgekämpft hat.
"Ich bin so froh."
"Und ich erst Emily", antwortete sie und zog dabei etwas aus ihrer kleinen Handtasche, welche allerdings, man glaubte es kaum, unendlich viel Platz bot.
Meine Augen weiteten sich freudestrahlend, als ich erkannte, was sie in der Hand hielt.
"Zwei neue Bücher!"
"Ich hab sie dir besorgt, bevor ich ins Krankenhaus bin." Meine Mum lachte amüsiert und übergab sie mir.
"Meine heiligen Schätze", hauchte ich und strich über die Cover.
Mum schüttelte belustigt mit dem Kopf, während sie ihre Tasche nun auf dem Boden abstellte.
Es tat jedes Mal gut, wenn meine Mum vorbeikam und ich konnte wenigstens für ein bis zwei Stunden vergessen, dass ich eigentlich im Krankenhaus lag.
"Übrigens Emily", sagte Mum als sie gerade den Kopf hob.
"Deine Ärzte sind sehr zuversichtlich, dass du in den nächsten Tagen entlassen werden kannst."
Bei diesen Worten vollführte ich einen kleinen Freudenhüpfer und strahlte Mum an.
"Es wird alles wieder gut. Ich komm endlich hier raus und Lyam darf bald von der Intensivstation. Etwas Besseres kann es in diesem Moment nicht geben Mum!"
Sie lächelte mich als Antwort an und sie musste nicht reden, damit ich wusste, dass sie genauso dachte, wie ich.
Ich rutschte an die Bettkante und umarmte sie glücklich.

Allerdings trügte der glückliche Schein, denn nach ungefähr drei Stunden, in denen Mum schon bei mir saß, kam ein Arzt auf leisen Füßen in mein Zimmer, als ich gerade mit Mum dabei war, meine schon durchgelesenen Bücher zusammenzukramen.
Mein Blick schoss automatisch zu ihm und durch meinen Kopf huschten Fragen, ob ich noch eine Untersuchung hatte, die ich vergessen hatte.
Allerdings trat er nicht zu mir, sondern zu meiner Mum und zog sie ein wenig auf die Seite. Beide flüsterten miteinander und der Blick des Arztes war ernst, als hätte er eine schlechte Nachricht, die er uns nun überbringen musste.
Ich rutschte aus meinem Bett und tappte auf wackeligen Füßen zu den beiden Personen.
Anscheinend war ich doch noch nicht so sicher auf meinen Beinen, wie ich zuvor dachte.
Meine Mum legte mir einen Arm um die Taille, um mich ein wenig zu stützen, allerdings lag ihr Blick auf dem Arzt der vor uns stand.
"Mrs. Campbell, Miss Campbell. Ich muss ihnen leider etwas mitteilen." Er unterbrach kurz und sah uns abwechselnd in die Augen.
Schon bevor er weiterredete wusste ich, dass es sich um Lyam handelte.

"Was ist mit ihm?" Meine Stimme war heiser und ich wagte nicht den Arzt vor mir anzusehen.
"Es tut mir leid Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ein unentdecktes Blutgerinnsel hat sich in den Blutbahnen des Gehirns von Lyam gelöst. Bei der Not-Op kam es zu Komplikationen, die er nicht überstanden hat."

Bei diesen Sätzen stand die Welt vor mir still und ich spürte, wie mir jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Ein schwarzer Nebel umhauchte mich und vernebelte mir all meine Gedanken. In Zeitlupe nahm ich wahr, wie der Arzt meiner Mum noch kurz die Schulter tätschelte und sich dann zu mir wandte. Ich stieß allerdings seine Hand von mir, während meine Beine unter mir nachgaben und ich am Boden landete. Mein ganzer Körper bebte, als ich anfing zu weinen und irgendwann mischten sich laute Schluchzer darunter.
Schließlich wandelte sich das Weinen zu einem Schreien. Ich schrie meinen ganzen Schmerz aus mir heraus und schlug mit Fäusten auf den Boden ein, bis diese wund waren.
Ich hörte nicht auf zu schreien bis ich heiser war.
"Nein", stieß ich leise aus. "Das kann nicht wahr sein. Er ist nicht tot! Nicht Lyam!"

Der Arzt, der uns die Nachricht überbracht hatte, stand immer noch in meinem Zimmer und legte mir seine Hand auf die Schulter. Dieses Mal ließ ich es zu.
Ich drehte meinen Blick und sah meine Mum, wie sie erstarrt mit entsetzten, schmerzenden Blick ins Leere starrte und sich keinen Millimeter bewegte.

"Es tut mir leid", flüsterte die männliche Stimme neben mir.
"Nein!", keuchte ich. Zu mehr hatte ich keine Kraft mehr. Die Dunkelheit und die Kälte machten sich in meinem zitternden Körper breit während mein Herz in tausend Teile zerbrach.

Lyam war weg....für immer....ich würde ich nie wieder lebend sehen.

Und dann traf die schmerzhafte Erkenntnis mich wie ein Messerstich.

Mein kleiner Bruder war tot.

Tränen der TrauerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt