Kapitel 20

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Wild prasselte der Regen gegen die riesigen Fensterscheiben meines Zimmers und im nächsten Moment ertönte ein krachender Donner mit dem sich ein heller Blitz über den Himmel zog.
Mein Blick huschte automatisch kurz zu den Fenstern, vor welchen die Bäume vom Wind hin und her gerissen wurden, so dass die Befürchtung entstand, dass sie gleich umkippen könnten.
Schon seit drei Monaten gab es keinen Sturm mehr, der so gefährlich war, wie dieser. Wir alle konnten uns nur glücklich schätzen, dass die Temperaturen mittlerweile zu hoch für Schnee waren.
Seufzend ließ ich mich zurück fallen und lehnte meinen Kopf an die Wand hinter mir an.
Seit dem Kuss vor zwei Tagen, hatte ich es geschafft Rick, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen, aber dieser Zustand konnte sich nicht für immer halten. Irgendwann müsste ich ihm wieder normal gegenüber treten, selbst wenn ich davor Angst hatte und desto früher ich das tat, desto besser war es.

Mein Blick fiel auf meine Gitarrentasche, die schräg angelegt an einer Wand stand. Ich hatte schon seit Wochen nicht mehr gespielt und ich glaubte, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre. Es würde mich ein wenig von meinem Gedankenkarussell ablenken und mir dabei helfen, mir darüber klar zu werden, was mir die ganze Situation mit Rick bedeutete.

Mit einem Ruck war ich aufgestanden und lief nun mit der Tasche rüber in das Musikzimmer. Wie jedes Mal, wenn ich es betrat überzog mich ein Schauer und Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Irgendetwas hatte dieses Zimmer an sich, das es so besonders machte, aber ich kam nicht darauf was.
Mit einer Hand zog ich etwas ungeschickt den kleinen Hocker unter dem Klavier hervor und ließ mich darauf plumpsen. Meine Gitarre nahm ich in Position und fing an zu spielen. Es waren wie immer Töne, die ich ohne nachzudenken, anspielte, aber sie passten perfekt in die Melodie. Es war reine Magie, wie meine Hand jedes einzelne Mal von alleine über diese gespannten Saiten glitt und die Töne zusammen passten, als gehörten sie zusammen und wurden davor nie anders gespielt.
Ich variierte die Melodie immer wieder ein wenig. Erst war sie ruhig und leise und zum Schluss laut und wütend, wie ein Tornado, der gerade eine Stadt zerstörte und mein Gefühl sagte mir, dass diese wilde Melodie perfekt zu meiner jetzigen, misslichen Situation passte.

Irgendwann blieb meine Hand ruhig auf den Saiten liegen und ich ließ die letzten Töne verklingen. Erst jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit meine Augen geschlossen gehabt hatte und öffnete sie. Mein Blick entdeckte eine Silhouette vor mir, deren Augen aus dem Dunklen heraus wild funkelten und ich erstarrte, als ich erkannte, dass es Rick war. Wie programmiert, fing mein Herz im nächsten Moment an wilder zu pumpen, als sich Rick aus seiner Position löste und in das Licht trat.
Seine Haare waren wild verstrubbelt und seine Locken hingen ihm überall ins Gesicht, aber diese Frisur stand ihm um einiges besser als die fein säuberlich zurück gekämmte. Ein kleines Lächeln schmuggelte sich in meine Lippen, als Rick sich eine der Strähnen aus dem Gesicht wischte.

"Emily...", fing er an, aber beendete den Satz nicht.
"Mhm?", gab ich knapp zurück, da ich nicht wusste, was ich noch viel sagen sollte.
Bevor Rick weiter redete, hockte er sich allerdings einfach neben mich auf den kleinen Hocker und mein ganzer Körper spannte sich an. Eigentlich war Rick's Nähe nach einiger Zeit zu etwas Angenehmen geworden, aber der Kuss hatte irgendwas verändert.
"Wir sollten reden...", flüsterte Rick in die Stille. "Ich mein wegen dem Kuss. Du bist mir seit dem aus dem Weg gegangen, hab ich Recht?"

Na toll! Er hat mich ertappt. Wieso konnte ich das auch nicht ein bisschen weniger offensichtlich machen?

"Kann sein...", murmelte ich leise, während ich mich bückte, um meine Gitarre auf dem Boden abzulegen, die ich bis jetzt immer noch in meiner Hand gehalten hatte. Rick griff nach meiner Hand und massierte sie, wie er es schon öfters getan hatte.
"Sag bitte was Emily. Es macht mich verrückt, dass es so still zwischen uns ist. Ich kenne uns nicht so und das macht mir Angst."

Mein Herz machte einen Hüpfer, als seine Stimme nah an meinem Ohr erklang und sein warmer Atem an meinen Ohrläppchen kitzelte.
Rick's weiche Finger wanderten von meiner Hand zu meinem Oberschenkel und er zeichnete mit seinem Daumen erst ein paar Kreise und dann Buchstaben.

"Ich brauche Zeit Rick. Ich weiß aber noch nicht, wie lange diese dauern wird. Kannst du sie mir trotzdem geben?"
Mein Blick war starr geradeaus gerichtet, da ich es nicht wagte ihm in die Augen zu sehen. Wenn ich dies tun würde, würde ich ihm wahrscheinlich wieder sofort verfallen.
Im Augenwinkel nahm ich ein zögerliches Nicken wahr.
"Aber ich versuche, dass ich mich nicht mehr so zurück ziehe. Ist das ein Deal?"
Jetzt war ich an der Reihe und nahm seine Hand in meine.
Es fiel mir schwer ihm normal gegenüber zu treten, aber Rick hatte es verdient und wenn ich es nicht tat fühlte ich mich schuldig.
"Ist okey", flüsterte er in meine Haare und stieß sich vom Hocker hoch.
Ich schluckte einmal schwer.
Im Türrahmen blieb er stehen, lehnte seine rechte Hand daran an und drehte sich zu mir um.
"Trotzdem würde ich dich gerne einladen mit mir wieder in das Studio zu fahren. Ich fahre in einer halben Stunde los. Wenn du in der Garage beim Auto bist, weiß ich, dass du mitkommen willst, wenn aber nicht, dann weiß ich, dass du es nicht möchtest."
Ein Lächeln zierte seine Lippen, aber ich wusste, dass es gezwungen war.
Stumm nickte ich und Rick verschwand aus dem Zimmer.
Erleichtert atmetete ich aus und trat zu dem Fenster. Draußen stürmte es weiterhin, als würde die Welt untergehen.

Einige Zeit stand ich so da und beobachtete, was draußen vor sich ging. Kurz schloss ich die Augen und dachte nach.
Vielleicht wäre es gut, wenn ich mit Rick ins Studio gehe. Ich könnte so herausfinden, was mir das alles bedeutete und Rick und ich könnten uns auch wieder ein wenig näher kommen und zueinander zurück finden. Ich wollte es vor ihm nicht zugeben, aber auch ich vermisse uns. Unsere Art miteinander umzugehen, unsere Spannung, die immer zwischen uns herrschte, einfach alles.

Mit einem Blick auf die Uhr bemerkte ich, dass ich noch zehn Minuten Zeit hatte, bis Rick losfahren würde.
In Rekordzeit machte ich mich frisch und sprintete nach unten in die Garage, wo Rick gerade dabei war einzusteigen. Als er mich erblickte hellte sich seine Miene auf und im nächsten Moment war er auch schon auf der anderen Seite des Wagens, um mir die Tür zu öffnen.

"Ich freue mich", sagte er leise bevor er die Tür hinter mir schloss und meine Mundwinkel verzogen sich zu einem sanften Lächeln.

Tränen der TrauerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt