Kapitel 1

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Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor meinem Mund als ich vor die Tür trat und ich fröstelte. Ich wickelte mich enger in meine dicke Winterjacke und zog meine Mütze weiter in mein Gesicht bevor ich im tiefen Januarschnee losstampfte.

Meine Gitarrentasche hing schräg über meiner Schulter und meine Hände waren in meinen Jackentaschen versteckt.
Es war schon dunkel, als ich auf dem Weg zum Bahnhof war, obwohl es erst 18:00 am Abend war. Immer wenn ich Zeit hatte, spielte und sang ich ein wenig auf der Straße. Jetzt, wenn es so kalt war, bevorzugte ich allerdings die Wärme in der Bahnhofshalle.

Die Musik war alles für mich, sie war mir schon wichtig seit dem ich klein war und ich sang schon seit ich denken konnte. Sie beruhigte mich und war immer da, egal was passierte. Nach diesem schrecklichen Unfall, war sie alles was mir geblieben war und nur sie konnte mich am Leben halten. In meinen eigenen kleinen Songs packte ich all meinen Schmerz und Leid, das mich jeden Tag bis an mein Ende quälte. Die Musik war meine einzige Möglichkeit meine Gedanken und Emotionen freien Lauf zu lassen.

Die kleinen Straßenlaterne erleuchteten den Weg so, dass ich wenigstens noch sah wo ich hintrat, während ich zitternd am Wegrand entlanglief. Ich merkte, wie meine Tasche leicht von meiner Schulter rutschte und zog sie höher. Zum Glück lag der Bahnhof nicht weit entfernt und ich konnte ihn in der Ferne erkennen. Wie von alleine, als wäre es programmiert, wurden meine Schritte nach und nach schneller. Je näher ich dem Bahnhof kam, desto schneller wurden sie.

Am Bahnhof angekommen trat ich durch die riesige Eingangstür in die Bahnhofshalle. Menschenmassen strömten durch sie. Menschen, die es eilig hatten, Menschen, die einfach nur weg wollten, Menschen, die sich ihren Weg hindurch bahnten und auf niemanden Rücksicht nahmen. Was alles hatten sie gemeinsam? Ja sie nahmen die Umwelt nicht wahr. Sie nahmen sich gegenseitig nicht wahr. Und genau das wollte ich mit meiner Musik ändern. Ich wollte ihnen zeigen wie schön doch unsere Umgebung sein kann, wenn man wenigstens nur ein offenes Auge dafür hätte.

Die Halle selber war ein sehr pompöser Bau. Sie musste schon ungefähr 150 Jahre alt sein und anstatt einer normalen Decke fand man eine Glaskuppel, welche untertags die Halle hell erleuchtete.
Ich stellte mich ein wenig abseits neben eine Bank und breitete meine Tasche darauf aus. Jedes Mal, wenn ich sie öffnete, hatte ich das Bild meines kleinen Bruders vor meinem Gesicht. Lyam hatte sie mir zu meinem 15. Geburtstag geschenkt und war jedes Mal stolz, wenn ich ihm darauf vorspielte. Immer wenn ich spielte, tat ich es für ihn. In Erinnerung an ihn.

Ich ließ meine Hand langsam über das glatte Holz streichen bevor ich sie sanft und vorsichtig am Gurt packte und sie mir über die Schulter hing.
Erst spielte ich ein paar Akkorde, um mich warmzuspielen.
Bis jetzt würdigten mir die vorbeigehenden Menschen nicht einmal einen Blick aber dies änderte sich schlagartig als ich den ersten Ton meines Liedes anspielte und anfang die ersten Töne zu singen.

You flooded every room
with sunshine,

You turned every annoyance
into the opposite.

Nordic nobility,
Your gentle kindness,

Your irrepressible pride.
Life is not fair.

Je weiter ich kam, desto mehr Menschen sammelten sich nach und nach in einem Halbkreis um mich. Ich sang ein Lied nach dem anderen und immer wieder erntete ich Applaus, wenn ich den letzten Ton verklingen ließ.
Mein Blick ruhte die ganze Zeit auf den Menschen und ich sah einen nach dem anderen an bis ich bei einem jungen Mann angelangte.

Braune Locken, markantes eckiges Gesicht, fast eisblaue Augen, von der Kälte gerötete Wangen, dicke Winterjacke, graue Jeans, rote Sneaker und sehr wahrscheinlich ungefähr so alt wie ich. Er stand da und beobachtete mich mit einem starren Blick. Er wirkte beeindruckt.

Meine Hand ruhte noch ein paar Sekunden auf den Gitarrenseiten bevor ich das Wort erhob: "Es gibt nun eine kurze Pause von ungefähr 10 Minuten. Danach geht es weiter."
Ein leicht enttäuschtes Raunen ging durch die Menge und sie löste sich auf während ich meine Gitarre in die Tasche legte.

Ich trank einen Schluck und ging noch schnell auf die Toilette bevor ich weitermachen wollte. Als ich allerdings aus dem kleinen, stinkenden Raum trat sah ich etwas, was mich erstarren ließ.
Der Mann von vorher, der mich genau gemustert hatte, hatte mein Songbook offen in der Hand!

Wut durchströmte mich und ich sprintete auf ihn zu.
"Was fällt dir ein!", schrie ich ihn an. Ich war außer mir und riss ihm das Notizbuch aus der Hand.
"Was denkst du wer du bist, dass du einfach in privaten Dingen rumschnüffeln darfst?!", meine Augen funkelten wütend und der Fremde taumelte verwirrt von mir weg.
"Es tut mir leid aber deine Songs haben mich so begeistert. Da wollte ich noch mehr von ihnen hören."
"Das gibt dir noch lange nicht das Recht einfach in meinen Sachen rumzuschnüffeln!"

Denkt der wirklich er würde mit so einer billigen Entschuldigung davonkommen?

"Ich sagte doch, dass es mir leidtut.", er hob beschwichtigend die Hände.
"Blah Blah Blah! Denkst du, du kommst so davon? Sicher nicht!", Ich schnaufte wütend.
"Ja ok es war ein Fehler.", pampte er mich an.

Ich legte mein Songbook zurück in die Gitarrentasche und schloss den Reißverschluss bevor nochmals jemand auf die Idee kam darin rumzuschnüffeln. Dann wendete ich mich wieder ihm zu.

"Wenn ich dich nochmals erwische, dass du darin rumzuschnüffelst werde ich nicht mehr so freundlich sein!"
"Ist ja schon gut aber ich versteh trotzdem immer noch nicht warum du deswegen so ein Theater machst! Deine Songs sind genial!" Er wurde lauter und fixierte mich mit seinem Blick.

"Vielleicht sind sie genial. Aber sie sind genauso privat. Du kannst sie hören, wenn ich sie spiele und mehr nicht! Hast du das jetzt verstanden?"
Der Fremde sagte nichts sondern starrte mich einfach nur an.

"Dieses Getue ist so sinnlos.", murmelte er leise aber noch so dass ich es hören konnte.
"Was hast du da gerade gesagt!? Ist das dein verdammter Ernst!? Es geht hier um mich, mein Songbook und meine Songs!", dabei betonte ich das Wort mein extra laut.
"Und ich kann bei meinen Angelegenheiten tun was ich will!"
"Du kannst mich Mal!, motze er mich an und drehte sich auf seinen Absätzen um bevor er laut stampfend davonlief.

Feigling!

Die Lust zum Spielen war mir vergangen und ich packte meine Sachen zusammen.
Ich konnte es immer noch nicht fassen, wie sich dieser Idiot verhalten hatte.
Zitternd vor Wut verließ ich die Bahnhofshalle und stampfte nach Hause.

Tränen der TrauerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt