Kapitel 19

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Rick

Mit verschränkten Armen stand ich vor den riesigen Fenstern im Wohnzimmer und starrte hinaus in den frühen Morgen. Gerade ging die Sonne auf und färbte den Himmel rot-orange. Mit ihr erwachten ebenfalls die ersten Vögel. Mittlerweile war es Anfang März, der Schnee war, bis auf einzelne Haufen, geschmolzen und alles fing an frühlingshaft zu werden. Während dort draußen die Vögel glücklich sangen, herrschte tief in mir drinnen ein verdammt riesiges Gefühlschaos.
Was hatte ich da nur getan? Wieso hatte ich sie einfach so geküsst ohne sie zu fragen? Wieso, wieso, wieso.....

Ich atmete tief durch weil mir schlecht wurde und würde mich am liebsten einmal übergeben. Also öffnete ich die riesige Terassentür und trat nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Tief atmete ich einmal durch. Der frühe Morgen war meine Lieblingszeit. Zu diesem Zeitpunkt war alles um einen herum noch so still und allein die Farben, die am Himmel spielten, waren es wert so früh wach zu sein.
Jetzt, als ich nach draußen trat, merkte ich, wie die Luft langsam immer wärmer wurde, obwohl es erst früher März war. Der Frühling konnte wohl nicht mehr fern sein.

Elani und Emily schliefen noch, aber wenn ich sagen würde, dass es mich störe, würde ich lügen.
Eine Weile lief ich durch den riesigen Garten und versuchte meine Gedanken ein wenig zu zügeln, was aber nicht gerade erfolgreich war. Sie drehten und drehten sich und wollten nicht aufhören. Sie vernebelten mir meine Sicht. Über mir zwitscherten glücklich die Vögel, aber ich konnte es nicht wahrnehmen.
Am liebsten würde ich mich mit mir selber prügeln, um mich zurück in die Realität zu bekommen. Es hätte niemals in diese Richtung gehen sollen. Verdammt! Alles ist außer Kontrolle geraten.

Schreiend bückte ich mich und boxte einige Male in die, vom Schnee aufgeweichte, Wiese. Erst als das Geräusch mein Ohr erreichte, realisierte ich, dass dieses von mir kam und betete sofort, dass ich die zwei Mädels nicht geweckt hatte.
Vor mir entdeckte ich die kleine Schaukel, die unser Vater damals noch selber gebaut und in meiner und Elani's Kindheit eine große Rolle gespielt hatte. Mit meiner Handfläche strich ich langsam über die hölzerne Sitzfläche und sah dabei meinen Vater vor mir, wie er am Boden kniete, ich kletternd an seinem Rücken, während er einen Nagel nach dem anderen in das Gestell schlug. Mein kleines drei-jähriges-Ich hatte es wohl lustig gefunden, meinen Vater zu nerven und hielt ihm immer wieder mit den kleinen Händchen die Augen zu. Damals wusste ich nicht, dass ich seine Augen nicht einmal halb verdeckt hatte, da meine Hände einfach zu klein waren, aber er hatte trotzdem jedes Mal mitgespielt. Irgendwann ließ er sich nach hinten fallen und rangelte mit mir über die Wiese. Laut lachend blieben wir irgendwann liegen.

Wieso musste dieser scheiß Alkohol immer alles kaputt machen?

Erschöpft ließ ich mich auf der Schaukel nieder und rieb mir meine Schläfen, als plötzlich ein Windzug um mich strich und kurz meine Locken aufwirbelte. Mit sich trug er einen, mir allzu bekannten Geruch. Mum!
Ich wusste, dass die meisten Menschen mich für verrückt hielten, wenn ich ihnen dies erzählte, aber ich glaubte an Geister. Ich glaubte daran, dass Personen nach einem Tod nicht einfach verschwanden, sondern, dass ihre Seelen, ihre Geister, immer noch unter uns waren und über uns wachten, indem sie uns immer wieder ein Zeichen schickten, so wie Mum es bei mir tat.
Ich hob meinen Blick und nahm den Duft, förmlich in mir auf. Vanille...ihr Lieblingsshampoo. Seit ihrem Tod verwendete ich das gleiche Shampoo.

"Hey Mum...", flüsterte ich bedächtigt und hob meine Hand leicht in den Wind. "Ich hab einen verdammt großen Fehler gemacht."
Ich schluckte kurz.
"Ich muss mit dir Reden."
Nach diesem Satz wurde der Wind stärker und ich musste kurz lächeln.
"Ich habe jemanden kennengelernt. Emily ist ihr Name und sie ist besonders. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so ist, wie sie. Sie ist einfach anders, als alle anderen Mädchen und schon seit dem ersten Treffen in dieser Bahnhofshalle weiß ich das, aber ich war mir dies wohl nicht wirklich bewusst. Jeden Tag raubt sie mir meinen Verstand und ich komme jedes Mal um, wenn ich sie sehe. Dieser Drang, ihr nahe zu sein, meine Lippen auf ihre zu legen, sie an mir zu spüren, wird so groß, dass es mir Angst macht, Mum."
Der Wind wurde leiser und ich wusste, dass sie mir gerade zuhörte.
"Dieses verdammte Spiel hätte ich niemals anfangen sollen. Es macht alles, was wir haben zu einer riesigen Lüge. Unsere ganze Beziehung, die Spannung, die jedes Mal zwischen uns herrschte, wenn wir uns sahen und einfach mich.
Es machte mich, Rick, zu einer Person, die ich nicht wirklich bin.
Wenn ich ihr die Wahrheit sage, weiß ich nicht, wie sie darauf reagiert. Ich könnte dieses Spiel auch einfach im Stillen beenden, aber irgendwann würde es ans Licht kommen und alles zerstören."
Ich seufzte auf und ließ meinen Kopf nach hinten sinken, welcher allerdings im Leeren landete.
"Was soll ich nur tun Mum?"
Als Antwort raschelten die Blätter in den Bäumen.
"Es würde mir das Herz brechen Mum! Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wird diese Situation verzwickter und mit jeder Sekunde, die verstreicht, lüge ich sie weiter an. Je länger ich sie anlüge, desto größer wird die Gefahr, dass wenn die Wahrheit ans Licht kommt, sie mir den Rücken zukehrt und das würde mein Herz nicht ertragen."
Nach dem Satz schloss ich die Augen und der Geruch von Vanille wurde stärker, intensiver. Ich wusste sofort, was sie mir damit sagen wollte: Sie würde mich dabei unterstützen, egal was ich tat und für was ich mich schlussendlich entschied. Sie würde dabei sein, an meiner Seite sein und nicht weg weichen. Niemals.

"Danke Mum...", flüsterte ich leise und hob noch einmal die Hand in den Wind bevor er abebbte.

Tränen der TrauerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt