Kapitel 14 - Jonathan

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Jonathan fühlte sich so zufrieden wie schon lange nicht mehr. Er hatte zwar den ganzen Tag gearbeitet und Sheila nicht mehr gesehen, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, doch es hatte sich gelohnt. Er hatte viel geschafft und er fühlte sich gut. 

Er marschierte durch die noch warme Frühlingsluft zurück zum Haus. Schon von Weitem sah er, dass zwei kleine Gestalten vor seiner Haustür auf der kleinen Steinstufe saßen. Als er näher kam, erkannte er, dass es seine Nichten Duygu und Aaliyah waren. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. 

„Hey ihr zwei, was macht ihr denn hier?", fragte er, als er das Grundstück betrat. Er ging in die Knie, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein. Duygu war inzwischen vierzehn und die kleine Aaliyah würde nächsten Monat vier werden. Dennoch war es beunruhigend, dass sie hier allein vor der Tür saßen. Duygu sah ihn lange und intensiv an, als wollte sie ihm irgendetwas sagen, doch er begriff nicht, was in ihr vorging. 

„Wie seid ihr hier her gekommen? Wo ist eure Mama?", fragte er weiter, woraufhin Aaliyah anfing zu weinen. Schnell umarmte Duygu sie, doch sie schwiegen noch immer. Langsam dämmerte ihm, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war und die beiden womöglich von zu Hause weggelaufen waren. Jonathan erhob sich. 

„Na kommt erst einmal rein und dann erzählt ihr mir, was passiert ist, okay?", fragte er und Duygu nickte. Sie stand auf und zog ihre Schwester an der Hand hoch, damit er die Tür aufschließen konnte. Duygu zog ihre Schuhe im Flur aus und half Aaliyah dabei, auch ihre auszuziehen. Jonathan ging ihnen voran ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Duygu ließ sich ein wenig schüchtern neben ihm nieder, dann zog sie Aaliyah auf ihren Schoß. 

„Weiß eure Mutter, dass ihr hier seid?", fragte er ernst und unwillkürlich wanderte seine Hand zu seiner Hosentasche, um sein Handy herauszuholen. Duygu schüttelte langsam den Kopf. Na super. 

„Dann sollte ich sie anrufen und ihr Bescheid sagen, sie macht sich doch bestimmt Sorgen", sagte er, doch beinahe panisch schüttelte Duygu den Kopf. 

„Nein! Bitte nicht. Kannst du Papa anrufen?", fragte sie und Jonathan bemerkte, dass ihre Stimme zitterte. 

„Okay, ich rufe ihn an, damit sie sich keine Sorgen mehr machen und dann erklärst du mir, was los ist", sagte er bestimmt, dann wählte er Matthias Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln meldete er sich, doch seine Stimme klang ruhig, so als hätte er keine Ahnung, dass seine Kinder von zu Hause weggelaufen waren. Denn das war offensichtlich der Fall. 

„Deine Kinder sind bei mir zu Hause. Sie saßen vor der Tür", sagte er, ohne sich lange mit Begrüßungen aufzuhalten. Er hörte, wie es im Hintergrund raschelte, so als würde Matthias seine Bettdecke zurückschlagen. Immerhin musste es bald neun Uhr sein. 

„Ich komme sie abholen", erwiderte er bestimmt. 

„Okay", sagte Jonathan noch, doch Matthias hatte schon aufgelegt. 

„Papa kommt euch abholen", sagte er und Duygu nickte. „Aber nun raus mit der Sprache. Was ist passiert?", forderte er. Dyugu sah noch eine Weile auf ihre Knie, doch dann hob sie den Blick. 

„Mama und ihr neuer Freund haben sich gestritten. Schlimm. Sie haben sich angeschrien und er meinte, dass wir nicht mehr zu Papa dürfen und dass er jetzt unser Papa wäre. Da habe ich mir Aaliyah geschnappt und bin mit ihr in den nächsten Bus gestiegen", berichtete sie. Jonathan schluckte. Offensichtlich hatte sie Angst gehabt. 

„Hat er dir oder Aaliyah wehgetan?", fragte er und betete, dass es nicht so war. Zu seiner Erleichterung schüttelte sie langsam dem Kopf. 

„Und Mama?", fragte er vorsichtig und zu seiner Erleichterung zuckte Duygu die Schultern. Eine unangenehme Erinnerung drängte sich in ihm auf, denn auch Sheilas Ex hatte sie geschlagen. 

„Sie haben sich so sehr gestritten, dass sie nicht mitbekommen haben, dass wir gegangen sind", fuhr sie fort. Jonathan konnte nicht verhindern, dass er den Kopf schüttelte. Bisher hatte er Esra für eine gute Mutter gehalten, doch das machte sein Bild von ihr irgendwie kaputt. 

„Warum seid ihr nicht zu Papa gegangen? Oder zu Opa?", wollte er wissen, denn eigentlich hätte er erwartet, dass sie eher zu einem von ihnen flüchten würden als zu Sheila und ihm. Duygu seufzte. 

„Mamas neuer Freund hat gesagt, dass er Matthias und Jonas fertig macht, wenn wir noch einmal bei ihnen sind. Ich hatte Angst, dass er glaubt, Papa hätte uns Mama weggenommen und...", setzte sie an, doch dann wandte sie den Blick ab und schniefte. Jonathan legte ihr einen Arm um die Schultern und schüttelte sie sanft. 

„Hey, mach dir keine Sorgen. Das hast du genau richtig gemacht, dass du mit ihr abgehauen bist", versuchte er sie zu beschwichtigen. Sie nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. 

„Und Opa und Lisa sind doch bis Sonntag bei Lisas Eltern. Ich wusste nicht, wo wir sonst hin sollten", erklärte sie. 

„Ihr könnt doch immer herkommen, wenn ihr wollt. Und wir sollten mit Papa und Opa reden, was bei euch zu Hause los ist", sagte er bestimmt und wieder nickte sie. 

„Okay. Ich mag Mamas neuen Freund nicht. Er will nicht, dass wir Papa besuchen. Ich habe mitbekommen, wie Mama und Papa deswegen gestritten haben", berichtete sie. Jonathan nickte, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Er kam sich ein wenig hilflos vor und er war froh, dass Matthias auf dem Weg war. 

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