Kapitel 47 - Sheila

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Sheila wachte am nächsten Morgen von lauten Stimmen auf. Nur langsam kamen die Erinnerungen an den letzten Abend wieder hoch. Sie lauschte angestrengt und als sie eindeutig die Stimme ihres Bruders erkannte, sprang sie hellwach aus dem Bett. Jonathans Seite des Bettes war leer, doch sie sah, dass die Balkontür aufstand. Mit schnellen Schritten ging sie nach draußen. Jonathan stand über das Geländer gebeugt da und rief unablässig Matthias Namen. Erst als Sheila ihn am Arm berührte, bemerkte er sie. 

„Was ist los?", fragte sie und warf einen Blick nach unten. Dort saß Matthias auf der kleinen Mauer, die Oskars und ihr Grundstück voneinander trennte. In der Hand hielt er eine Flasche Schnaps, vor ihm auf dem Boden kniete Oskar, der auf ihn einredete und versuchte, ihm die Flasche abzunehmen. Matthias lallte irgendetwas Unverständliches, doch dann schrie er auf einmal los. 

„Du bist an allem Schuld. Nur wegen dir ist alles so beschissen", schleuderte er Oskar entgegen, doch der schien vollkommen unbeeindruckt. Er zog nun energischer an der Flasche und es gelang ihm, sie aus Matthias Hand zu reißen. Dieser beschwerte sich schon wieder und versuchte, von der kleinen Mauer aufzustehen. Doch es misslang ihm und er knallte vornüber auf die Knie. Auf allen Vieren verharrte er eine Weile, dann fiel er seitlich auf die Pflastersteine in ihrer Einfahrt und blieb schluchzend liegen.

 Oskar schüttelte an seiner Schulter, doch Matthias reagierte nicht auf ihn. Hilfesuchend sah Oskar zu ihnen hoch auf den Balkon und noch bevor Sheila schaltete, lief Jonathan wieder nach drinnen. Sie sah ihm nach, wie er in seine Jogginghose stieg, die noch auf dem Boden lag. 

„Geh zu Jonas", sagte er über die Schulter zu ihr, dann verschwand er in Richtung Treppe. Sheila gehorchte und lief mit pochendem Herzen die kleine Treppe nach oben ins Gästezimmer. 

Was zur Hölle machte ihr Bruder sturzbesoffen an einem Wochentag hier? Wie war er hier her gekommen und vor allem, an was sollte Oskar Schuld sein? Sheila betrat die letzte Stufe der Treppe und warf unwillkürlich einen Blick aufs Bett. Sie erkannte nur einen Berg aus Kissen und Decken, doch ein leises Schluchzen verriet ihr, dass Jonas darunter lag. 

„Jonas?", fragte sie behutsam, woraufhin die Decke raschelte und er den Kopf herausstreckte. 

„Ist er weg?", fragte er dann, doch bevor Sheila antwortete, setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. 

„Jonathan und Oskar kümmern sich um ihn. Wenn du ihn nicht sehen willst, musst du es nicht", sagte sie und am liebsten hätte sie ihm die Tränen von den Wangen gewischt. Sie fühlte mit ihm, denn sie wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. Es missfiel ihr, dass sie diesen Vergleich zog, aber Matthias war genau wie Ville damals. Ein schmerzvoller Gedanke durchzuckte sie. 

„Hat er dir gestern wehgetan? Ich meine... körperlich", fragte sie, obwohl sie es sich bei Matthias eigentlich nicht vorstellen konnte. Doch Alkohol konnte schlimme Dinge mit Menschen anrichten. Schnell schüttelte Jonas den Kopf. 

„Nein, er hat mich nicht geschlagen. Aber Worte können auch verletzen", sagte er und Sheila konnte nur nicken. Sie wusste, was er meinte und sie wagte es nicht, ihn nach Matthias Worten zu fragen. Jonas atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf. 

„Kann ich vielleicht bei euch duschen und könntest du mich zur Arbeit fahren? Ich will keine Umstände machen, aber...", fragte er sie und schnell nickte sie. 

„Klar. Und es macht mir überhaupt keine Umstände. Wirklich. Soll ich dir ein Brot oder so einpacken?", fragte sie, doch er schüttelte lächelnd den Kopf. 

„Nein, danke. Ich melde Matthias bei der Arbeit krank, nur falls er danach fragen sollte. Kannst du mir nachher schreiben, wo er ist? Ich will ihm heute noch nicht wieder begegnen", erwiderte er und schnell nickte Sheila. 

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