Willkommen im 21. Jahrhundert

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Im 21. Jahrhundert zu leben bietet viele Vorteile, denn die Menschen heutzutage sind wissbegierig und weltoffen. Jeder kann so sein, wie er ist. Jeder kann lieben, wen er will. Jeder kann das Pronomen tragen, das er möchte. Zumindest in dem Land, in dem ich lebe. Zumindest in der Theorie.

Dies alles trifft allerdings nicht auf den Typen zu, dem meine Demütigung mehr Wert war, als der Kaffee, den er über meinem weißen T-Shirt verteilt hat. Wie ich seinen Zorn auf mich gezogen habe, kann ich nicht genau sagen.

Vielleicht war es nur meine äußerliche Erscheinung, vielleicht auch nur die Tatsache, dass ich gerade ein Ballettstudio verlassen habe.

„Scheiß Schwuchtel, dir sollte man den Schwanz abschneiden. Wärst anschneidend ja eh lieber ein Mädchen."

Ah, jetzt lässt er es mich doch wissen. Ich bin beeindruckt, anscheinend übersteigt sein IQ den von den Leuten, die mich sonst beleidigen, um ganze fünf Punkte, was immerhin eine Steigung von zehn Prozent ist.

Meistens verlässt nämlich nur ein einziges Wort die Lippen meines Peinigers. „Schwuchtel, Arschficker, Missgeburt..." Die Liste ist lang und wenig ruhmreich.

Seine Worte prallen nicht einfach an mir ab. Sie fressen sich, wie ein Borkenkäfer durch die Rinde eines Baumes, in mein Inneres. Natürlich könnte ich was erwidern. Natürlich könnte ich sagen, dass ich ihm den Gefallen nicht tun kann, denn ich mag meinen Schwanz.

Aber ich meide lieber jede weitere Konfrontation, denn schlussendlich würde ich so oder so den Kürzeren ziehen. Also tue ich so, als hätte ich ihn, durch die Musik auf meinen Ohren, nicht gehört und mache mich auf den Weg nachhause.

Gut, dass es so warm an diesem Frühlingstag ist und mein T-Shirt schnell trocknet. Allerdings übertüncht schon bald der Geruch von gegorener Milch das teure Parfüm von Chanel und so will ich einfach schnell raus aus meinen Klamotten.

„Nicolai, wie war der Tag?", begrüßt mich meine Mutter, unmittelbar nachdem ich zur Tür rein bin. „Alles wie immer", antworte ich kurz und knapp. Ihr Blick haftet an meinem T-Shirt, aber sie verliert kein Wort darüber, obwohl ihr natürlich bewusst ist, dass der Fleck nicht meiner Unfähigkeit zu Trinken geschuldet ist.

Aber solange es keine aufgeplatzte Lippe oder Augenbraue ist, hat sie aufgegeben weiter nachzufragen. Ich bin nicht böse drum. Ich weiß, dass es nicht ihrem Desinteresse geschuldet ist, sondern nur ihrer Unfähigkeit, etwas daran zu ändern. Sie kann schließlich nichts dafür, dass die Welt manchmal so ein grausamer Ort ist. Nein, dass die Menschen, die auf ihr leben, so grausam sind.

„Ich muss noch Hausaufgaben machen", sage ich und verabschiede mich auf mein Zimmer. Dort finden meine Sporttasche und der Schulrucksack ihren Weg in die Zimmerecke. Das T-Shirt ziehe ich über den Kopf und es landet auf dem Boden.

Eigentlich sieht das Kaffeecamouflage gar nicht so übel aus. Ich hole meine Stoffmalstifte aus der Schublade und beginne die dunklen Ränder nachzuziehen. Nach einer halben Stunde betrachte ich mein Werk. In meiner Vorstellung sah es irgendwie besser aus. Jetzt wirkt es auf mich nur noch wie eine Erinnerung an eine weitere Erniedrigung.

Ich schmeiße das Shirt auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem sich schon ein Stapel Wäsche befindet, und ziehe das oberste Kleidungsstück — eine Oversized-Bluse — schnell über. Dann ruft mich auch schon meine Mutter zum Abendessen.

Als ich die Treppe runter komme, sitzen sie schon alle am Tisch. Mein Vater, meine Mutter und Toni, mein dreizehnjähriger Bruder. Uns trennen fast fünf Jahre, weshalb unsere Berührungspunkte rar gesägt sind, was aber nicht heißt, dass wir uns deshalb weniger lieben.

Er ist das, was die Gesellschaft wohl als typischen Jungen bezeichnen würde. Er spielt Baseball, zockt oft stundenlang an der Konsole und trägt lässige Klamotten. Ich hingegen tanze Ballett und liebe Mode. Wenn mir eine Bluse in der Frauenabteilung gefällt, dann kaufe ich sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Klar führt dieses Thema des Öfteren zu Streit zwischen uns und auch wenn er es nicht sagt, weiß ich, dass er sich ab und an für mich schämt. Es ist okay, er ist ein Kind, er weiß es nicht besser.

Gierig schlinge ich das Essen in mich rein, denn ich habe den ganzen Tag kaum was gegessen. Mit vollem Magen tanzt es sich nicht gut. Eigentlich bin ich kein großer Esser und achte sehr auf meine Figur. Aber bei dem Salat mit Hähnchenbruststreifen, den meine Mutter mir als Ersatz zu den selbstgemachten Ravioli für die anderen, gemacht hat, kann ich nicht widerstehen.

Eigentlich hätte mich die Tatsache, dass meine Mutter dieses aufwendige Essen mitten in der Woche gekocht hat, schon stutzig machen müssen, aber ich habe nur Augen für den Teller vor mir und so bemerke ich viel zu spät, dass etwas nicht stimmt.

„Papa und ich müssen euch was sagen", beginnt meine Mutter und ich hebe den Blick vom Teller vor mir. „Euer Vater hat einen neuen Job." „Tolle Neuigkeiten! Glückwunsch", sage ich mit halb vollem Mund. „An der Ostküste", spricht sie nun weiter.

„Ab wann?", fragt mein Bruder, während ich mich wieder voll und ganz den Nudeln auf meinem Teller widme. „Schon in zwei
Wochen." „Also geht er alleine?", frage ich erstaunt. „Nein."

Mein Gehirn braucht viel zu lange, um die Information zu verarbeiten, während mein kleiner Bruder anfängt zu plärren. „Ich will hier nicht weg. Ich will bei meinen Freunden bleiben."

„Was? Wir sollen mit?", brülle ich über den Tisch, um Tonis Geheule zu übertönen.
„Nicolai-" „Nein! Das könnt ihr nicht machen", schreie ich und springe von meinem Stuhl auf.

Meine Eltern schauen mehr als erschrocken drein, denn ich schreie nie. Dann zeige ich drohend mit den Fingern auf sie. Auch so eine Sache, die ich eigentlich nie tue, denn ein weiser Mann hat mal gesagt, wenn du mit dem Finger auf jemanden zeigst, zeigen automatisch immer drei Finger auf dich selbst.

„Das könnt ihr uns nicht antun. Das könnt ihr mir nicht antun." „Beruhige dich", redet nun mein Vater besänftigend auf mich ein. „Einen Scheiß werde ich. Ihr wollt doch nur mein Leben zerstören. Ich hasse euch."

Mit diesen Worten fege ich meinen Teller vom Tisch und flüchte die Treppe hochstolpernd in mein Zimmer.

Baumkronenschüchternheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt