Schubladendenken

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Der Kloß, der sich in meinem Hals bildet, nimmt mir jegliche Möglichkeit zur Artikulation, aber meine Eltern warten geduldig auf meine Reaktion. „Ihr lasst mich einfach zurück?", presse ich schließlich hervor.

„Nein Nicolai, aber es war doch dein Wunsch hier zu bleiben."

Nichts haben sie verstanden, einfach gar nichts.

„Mein Wunsch war, dass alles bleibt, wie es ist und jetzt soll ich hier ganz alleine wohnen?"

Ein Lächeln legt sich auf die Lippen meiner Mutter. „Nein, natürlich nicht. Wir haben mit Tante Ruth gespro-" „Nein, nicht Tante Ruth", schreie ich und springe erneut vom Tisch auf.

„Ihr wisst ganz genau, wie sie ist. Sie wird mich nur runterziehen. Sie ist-" „Bevor du weiterredest, solltest du vielleicht mal drüber nachdenken, wer deinen Ballettunterricht seit jeher bezahlt", erinnert mich mein Vater. Beschämt lasse ich mich wieder auf den Stuhl sinken.

„Wir haben uns schon gedacht, dass du so reagieren wirst. Deshalb haben wir noch einen anderen Vorschlag für dich. Die Tochter einer Freundin hat noch einen freien Platz in ihrer WG. Wenn du willst, könntest du dort gleich vorbeifahren", schlägt meine Mutter vor.

„Ich soll bei Fremden wohnen?" „Nicolai, was willst du? Du willst hier bleiben, aber nicht bei Tante Ruth, aber in eine WG willst du auch nicht. Du wirst in nicht drei Wochen volljährig. Vielleicht solltest du endlich lernen auf eigenen Beinen zu stehen", sagt mein Vater entnervt, steht dann einfach auf und verlässt das Wohnzimmer Richtung Keller.

„Überleg es dir, Schatz. Wenn du willst, fahre ich dich in einer Stunde zur WG." Meine Mutter legt ihre Hand auf meine, aber nur kurz, dann wirft sie mir einen traurigen Blick zu und als sie in die Küche geht, höre ich ihr lautes Schniefen.

So fühlt man sich also, wenn einem die Pistole auf die Brust gesetzt wird. Ich starre auf den Joghurt vor mir, auf den mir der Appetit gehörig vergangen ist. Ich will diese Entscheidung nicht treffen. Ich will nicht die Verantwortung dafür tragen. Ich kann mich doch nicht einfach gegen meine Familie entscheiden.

„Zieh dich um. Ich fahre dich dann", sagt meine Mutter mit brüchiger Stimme. „Danke, Mama", antworte ich erleichtert, betrete die Treppe nach oben und werfe noch einen Blick auf meine Mutter, die in der Küche steht und ihre Hände auf der Arbeitsplatte abgestützt hat.

Dann sehe ich ihre Tränen, die vor ihr auf die Arbeitsplatte tropfen. Ich wünschte ich wäre so stark wie meine Mutter, die mir die Entscheidung abgenommen hat, obwohl sie sich wünscht, dass ich mit ihnen komme.

Oben in meinem Zimmer ziehe ich mich um. Ich entscheide mich für eine dunkle Jeans und ein Bandshirt, das Toni mir zum Geburtstag geschenkt hat und welches ich mir nie selbst gekauft hätte. Dann ziehe ich noch die ungetragene Kaputzenjacke drüber. Schön verkleidet sehe ich aus und unwohl fühle ich mich auch. Deshalb findet jetzt noch ein bisschen Make-up und Mascara den Weg in mein Gesicht. Viel besser.

Als ich nach unten komme, mustert mich meine Mutter. Nicht mit dem mitleidigen Kaffeefleckblick, sondern mit einem überraschten Blick, der in einen wissenden umschlägt.

Ich bin nicht dumm. Auch wenn ich dazu stehe, wie ich bin, weiß ich, wie die Leute mich ansehen und dass es manchmal besser ist, einer von vielen zu sein und in der Menge unterzugehen.

„Gut siehst du aus", sagt sie. „Nicht wie du, aber gut." „Danke, Mama." „Aber sie sollten dich nehmen, wie du bist. Das war also nicht nötig." Ich nickte nur und sie drück mich kurz - viel zu kurz -  an sich.

Meine Mutter fährt raus aus dem Vorort in dem wir wohnen, direkt rein in die City und kommentiert die ganze Zeit lautstark den Verkehr, wahrscheinlich um kein gezwungenes Gespräch mit mir führen zu müssen. Dann hält sie in zweiter Reihe vor einem Mehrparteienhaus.

„Ich kann hier leider nicht parken. Hast du dein Ticket dabei? Dann treffen wir uns nachher zuhause." Wieder nur ein Nicken. Ich bin sowas von nervös und stehe total neben mir. „Okay, viel Erfolg. Sei einfach du selbst."

Diese Worte gibt sie mir mit auf den Weg, als ich aussteige und dann dem wegfahrendem Auto hinterherschaue. Nachdem ich die Klingel für die Wohnung im vierten Stock betätigt habe, begrüßt mich oben angekommen eine junge Frau Mitte 20. Sie trägt sportliche Kleidung und hat ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Hey, du musst Nick sein. Ich bin Kate, komm doch rein." „Hallo Kate, ich bin Nicolai." Ich hasse es, wenn mir Leute Spitznamen geben, ich bin schließlich kein süßes Haustier.

„Okay Nicolai, dann zeig ich dir am besten mal die Wohnung." Ich folge ihr durch den langen Flur, von dem mehrere Zimmer abgehen. Der erste Raum neben der Eingangstür ist die Küche, ihr gegenüber das Bad. Dann folgt ein kleines Wohnzimmer und daneben dann das Zimmer, was ich bekommen soll. „Und wie gefällt es dir?"

Ich sehe mich im Zimmer um. Neben einem Bett, einem Schreibtisch, einem Schrank und einer Kommode ist es leer. Nicht vieles was man mögen oder nicht mögen könnte. Es ist okay. „Gefällt mir sehr gut."

„Super, die beiden anderen Räume sind mein Zimmer und das von Luke, also uninteressant für dich. Dann lass uns in der Küche noch etwas quatschen. Du gehst noch zur Schule?"

„Ja genau, aber die Miete zahlen meine Eltern." „Machst du oft Party?" „Nein, eher selten", sage ich und setze mich auf den Stuhl in der Küche, den sie mir angeboten hat. Mit „eher selten" meine ich eigentlichen nie, aber ich will ja nicht, dass sie denkt, dass ich ein Langweiler bin.

„Irgendwelche Hobbys?" „Ich tanze." „Oh cool, HipHop, oder was?" „Ballett!"

Ich merke, wie es in ihrem Kopf arbeitet und sie alles, was sie über mich zu wissen glaubt, wieder revidieren muss und sich nun ein ganz neues Bild in ihrem Kopf zusammensetzt. „Ah, okay. Gott sei Dank. Gibt nichts Schlimmeres, als zickigen Frauenbesuch von männlichen Mitbewohnern am nächsten Morgen."

„Ich kann dir nicht ganz folgen. Was haben die Frauen denn mit dem Ballett zu tun?" „Ähm, also sorry, ich dachte... tut mir so leid, Nicolai."

Ich grinse sie nur an. Ich liebe es Leute bei ihrem Schubladendenken zu ertappen. Ich passe in diese Schublade allerdings ziemlich gut.

„Du bist echt fies. Ich mag dich. Ich glaube du bist ein umgänglicher Mensch. Hast du noch Fragen?" Ich schüttele den Kopf, denn ich brauche dieses Zimmer nur zum Schlafen und will keine Freundschaften fürs Leben schließen. „Na dann los, unterschreib den Vertrag, bevor ich es mir anders überlege."

Dann schiebt sie mir das Dokument unter die Nase. Den Vertrag, der meine Zukunft besiegeln soll. „Lies ihn in Ruhe durch", sagt sie mein Zögern falsch deutend. 

Als ich mich zwanzig Minuten später mit meinem Exemplar des unterschriebenen Vertrags auf der Straße wiederfinde, könnte ich vor Stolz platzen und zeitgleich ist mir kotzübel.

Es ist vergleichbar mit dem Gefühl auf der Achterbahn, wenn man in Hochstimmung ist und es einen im nächsten Moment in die Tiefe zieht. Mein Magen fühlt sich an, als hätte man ihn nach außen gestülpt.

Mit einem schiefen Lächeln komme ich zur Haustür rein und halte den Vertrag wie eine Trophäe in die Höhe. „Mein kleiner Junge steh jetzt auf eigenen Beinen", sagt meine Mutter, umarmt mich und vergräbt ihre Nase in meinen brauen Locken.

„Glückwunsch", sagt mein Vater nur. Dann fällt hinter mir die Tür ins Schloss. Ich drehe mich um und Toni mustert mich argwöhnisch. „Was ist hier los?"

Ich würde am liebsten auf mein Zimmer flüchten, denn die nächste Eskalation ist nicht mehr fern.

„Toni, Schatz. Dein Bruder hat gerade einen Mietvertrag unterschrieben, er wird nicht mit uns kommen." Automatisch kneife ich die Augen etwas zusammen, denn ich weiß was nun folgen wird.

„Er darf hier bleiben? Und ich muss mit euch gehen? Warum bekommt Nicolai immer das, was er will? Er bekommt immer eine Extrawurst. Alles dreht sich immer nur um ihn. Und warum? Nur weil er im falschen Körper geboren ist!"

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