Die nächsten Tage versuchen wir uns alle irgendwie am Riemen zu reißen, was natürlich schwierig ist, denn wir stehen alle unter Strom.
Toni will so viel Zeit mit seinen Freunden verbringen wie möglich. Wer könnte es ihm verübeln. Ich hingegen, will aber auch nicht mein Training schleifen lassen. Meine Eltern können aber auch nicht einen ganzen Hausstand alleine in Kisten packen.
Also besteht mein Alltag nur aus Schule, Training und Kistenpacken. Treffen mit Ashley fallen da leider flach, dafür begleitet sie mich an einem Nachmittag mit zum Training.
Sie ist im Gegensatz zu mir nämlich total euphorisch, wegen des Einzugs in die WG.
„Und hast du schon deinen Mitbewohner kennengelernt?", fragt sie, während ich auf dem Boden sitze und meine Ballettschuhe anziehe. „Nein, aber der ist garantiert zu alt für dich." „Ach, das Alter ist mir nicht so wichtig, Hauptsache, er ist heiß."
Ich rolle mit den Augen und widme mich weiter meinen Schuhen. „Wie läuft es mit Toni?" Ich zucke mit den Schultern.
Ich denke, Toni ist immer noch sauer auf mich, aber einfach so emotional und körperlich erschöpft, wie ich und hat wahrscheinlich deshalb keine Kraft mich weiter anzufeinden. Trotzdem vermisse ich ihn. Ich vermisse, wie es früher zwischen uns war. Einfach ganz normal, ohne den Schmerz.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?", frage ich Ashley und ziehe dann ein Bündel Geld aus meiner Sporttasche. „Es gibt da eine Special Edition eines Baseballs, den Toni gerne hätte. Würdest du mir den besorgen? Ich muss nach dem Training sofort wieder heim."
Ashley zählt die Scheine in ihrer Hand. „Bist du sicher, dass du das ganze Geld dafür raushauen willst? Ich meine, du wohnt quasi bald alleine." „Wenn Toni und ich uns nicht vertragen, bevor er geht, dann weiß ich nicht, was ich machen soll." „Du kannst dir seine Liebe doch nicht erkaufen."
„Machst du das jetzt, oder nicht?" „Okay, du stellst mir Luke vor und ich besorge dir den Ball!" „Wen?", frage irritiert. „Deinen Mitbewohner. So hieß er doch, oder?" „Klar, wenn ich das gesagt habe."
Während ich mir an diesem Tag die Seele aus dem Leib tanze, um den ganzen Scheiß zu vergessen – was besser klappt als beim Wichsen, vor allen Dingen, weil das Ende etwas erfreulicher ist, da ich meine Fouettes heute besonders gut hinbekomme – besorgt Ashley mir den Baseball.
Leider vergehen die zwei Wochen bis zum Tag X viel zu schnell und als ich an dem Tag vor der Abreise von der Schule komme, wird gerade das Zu-Verkaufen-Schild in die Wiese vor dem Haus geschlagen.
Toni steht bereits davor und schaut dem Mann bei seiner Arbeit zu, doch als er mich bemerkt, geht er rein ins Haus. Ich habe ihn in der letzten Woche abends oft weinen hören. Ich wünschte, wir hätten so ein enges Verhältnis, dass er es zulassen würde, seinen Schmerz mit mir zu teilen. Aber wir sind nunmal beide, wie wir eben sind.
An unserem letzten Abend im Haus sitzen wir auf dem Boden, essen Pizza und trinken Wein. Auch Toni, obwohl man ihm ansieht, dass es ihm gar nicht schmeckt. Aber trotzdem trinkt er zwei volle Gläser.
Meine Eltern schwelgen in Erinnerungen und ich möchte, dass dieser Abend nie endet und zeitgleich möchte ich einfach nur oben in mein Zimmer auf die einsame Matratze und mich meinen Verlustängsten und meinem Schmerz hingeben.
Kurz nach Mitternacht beendet mein Vater das Zusammensitzen und als ich gerade die Nachtischlampe in meinem Zimmer ausknipsen will, kommt meine Mutter zur Tür rein.
„Darf ich?", fragt sie. „Immer." Sie setzt sich zu mir auf die Matratze und streicht mir eine braune Locke aus der Stirn. Ich bin das Abbild meiner Mutter und Toni das meines Vaters.
„Ich bin sehr stolz auf euch beide, weißt du das?" Ich ringe mir ein müdes Lächeln ab. „Und ganz besonders auf dich. Ich weiß, dass du das alles ganz wunderbar meistern wirst. Du musst nur ein bisschen mehr an dich glauben und lass dir von niemanden einreden, du seist nicht gut so, wie du bist. Du bist schließlich mein Sohn", sagt sie und packt mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger.
„Ich werde dich so vermissen, Nicolai." „Ich dich auch, Mama", schluchze ich. Eine Weile liegen wir uns in den Armen und wiegen uns, bevor sie sich von mir löst.
„So und jetzt lese ich dir etwa vor. Kennst du das noch?" Sie hält mit ein Buch mit einer Maus in einem Tütü vor die Nase. „Die Maus, die lieber eine Balletttänzerin sein wollte." Sie beginnt zu lesen und ich weiß, ich bin diese Maus.
Der nächste Morgen startet turbulent, denn der Flieger meiner Eltern und Toni geht am Nachmittag und auf dem Weg zum Flughafen wollen die drei mich noch mit meinem Gepäck an der WG absetzen.
Mein Vater hat einen großen Mietwagen besorgt, damit alle Koffer darin Platz finden und ehe wir uns versehen, sitzen Toni und ich auf der Rücksitzbank und winken unserem Haus zum Abschied.
Die ganze Fahrt schweigen wir vor uns hin. Ich weiß, dass Toni mit seinen Gefühlen kämpft, da er immer wieder zwischen Fenster und seinen Oberschenken hin- und herguckt.
Ich hingegen lasse es einfach laufen und starre geradeaus auf den Hinterkopf meiner Mutter. Dann parkt mein Vater den Wagen in der Nähe meiner neuen Wohnung und er und meine Mutter steigen aus.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, denn Toni sitzt völlig regungslos da. „Also ich habe da noch was für dich", beginne ich und dann wirft Toni sich einfach in meine Arme und die Tränen quellen nur so aus seinen Augen.
„Ich wünschte so sehr, dass du mitkommst würdest. Ich werde es hassen, dort ohne dich zu sein", schluchzt er in meine Halsbeuge. „Ich wünschte, du könntest bei mir bleiben. Ich habe dich so lieb, Toni."
„Ich dich auch, weil du mein Bruder bist. Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, dass du ein Mädchen bist." „Alles gut. Schon längst vergessen. Ich verspreche dir, ich spare jeden Cent und dann hole ich dich über die Feiertage hier her."
„Das würdest du tun?" „Ich gebe dir mein Ehrenwort." Dann überreiche ich ihm den Baseball und er bricht erneut in Tränen aus.
Der Abschied von meinen Eltern ist nicht weniger schmerzvoll, nur nicht so feucht, weil ich bereits alle Tränen geweint habe.
Zwanzig Minuten stehe ich auf dem Gehweg und starre dem Auto nach, was schon längst nicht mehr da ist. Dann mache ich mich mit meinem drei Koffern auf in den vierten Stock.
Kate öffnet mir die Tür, aber diesmal strahlt sie nicht ganz so wie beim letzten Mal, vielleicht ist sie einfach nur erschrocken über meinen Anblick.
Hinter ihr steht ein großer, trainierter braunhaariger Typ und ich strecke ihm meine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Nicolai und du musst Luke sein."
„Nein, ist er nicht", sagt Kate ziemlich zerknirscht. „Nicolai, wir haben ein Problem."
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Baumkronenschüchternheit
RomanceAchtung! Diese Geschichte wird überarbeitet! „Ich will dir nicht wehtun", flüstert er. „Ich weiß doch längst, dass du es tun wirst. Ich habe mich schon darauf vorbereitet. Also warum vorher nicht ein bisschen glücklich sein?" Der 17-jährige Nicolai...