Familie kann man sich nicht aussuchen

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„Es ist meine Schuld, oder?", fragt er und legt seine Hand auf meinen Unterschenkel.

„Wie kommst du denn darauf?" Er knibbelt nervös mit seinen Fingern an meiner Hose rum. „Naja, du hast gesagt, dass heute nicht dein Tag war und dann dachte ich es lag daran, was heute in der Dusche passiert ist."

Ich schüttele den Kopf. „Nein, daran hat es nicht gelegen. Obwohl ich schon gerne wüsste was das war." „Wettschulden?", sagt er, nimmt die Hand von meinem Knie und steht auf. „Holst du allen Leuten, bei denen du Wettschulden hast, einen runter?"

Ist es unüberlegt diese Frage zu stellen und riskiere ich damit einen von mir so gefürchteten Konflikt? Vielleicht. Aber was soll heute noch passieren? Vielleicht verliere ich erneut die Kontrolle. Vielleicht verliere ich sie aber auch erst morgen. Oder ich finde heraus, was das zwischen uns ist und kann einen Haken dahinter setzen. Wenigstens eine Sache in meinem ganzen Chaos ordnen.

„Nein, natürlich nicht. Ist nicht so als würde ich sowas ständig machen. Wir sind Freunde-" „Mit gewissen Vorzügen?!", ergänze ich. „Braucht das Ganze denn einen Namen?", fragt Chris und lässt sich auf sein Bett fallen. „Es ist einfacher für mich, die Dinge einzuordnen, wenn sie einen Namen haben." „Und für mich ist es schwer das zu definieren. Tut mir leid."

Bin ich für dich mehr als ein Freund? Empfindest du etwas für mich? So wie ich für dich? Das sind die Fragen, die ich ihm am liebsten stellen würde, aber nicht zu fragen wage, weil ich mich vor der Antwort fürchte.

„Wie äußert sich deine Essstörung?", fragt Chris nun und wechselt somit, zu meinem
Bedauern, das Thema. „Im besten Fall achte ich nur sehr darauf was ich esse." „Und im schlechtesten Fall?" Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe, während seine Frage schwer im Raum hängt. Gleich wird er den letzten Funken Achtung vor mir verlieren.

„Im schlechtesten Fall stopfe ich mich voll und übergebe mich anschließend." Ich schaue zwischen meinen Beinen auf den Boden und blinzele, um die Tränen zurückzuhalten. Die Stille hängt noch schwerer in der Luft, als seine Frage zuvor.

„Und heute ist der zweite Fall eingetreten?" „Nein", kommt es viel zu schnell über meine Lippen und auch der Tonfall bei diesem einen Wort ist komplett falsch gesetzt. Jemanden am Telefon zu belügen ist einfacher, als von Angesicht zu Angesicht. Obwohl ich es schon tausendmal gemacht habe. Jedoch kennt mich Chris nicht besonders gut. Vielleicht gibt er sich damit zufrieden und lässt mich endlich in Ruhe.

„Warum hast du das getan? Weil ich dich kritisiert habe?", fragt Chris und kommt auf mich zu. Ich springe vom Bett auf und straffe die Schultern, damit ich mich nicht so kümmerlich fühle, wie ich bin. „Ich habe dir doch gesagt, dass nichts passiert ist."

Doch meine Tränen strafen meine Worte Lügen. Seine starken Arme schließen sich um meinen Oberkörper und ich lege meinen Kopf an seine Brust, während meine Tränen nur so laufen. „Ich will nachhause", wimmere ich. „Du bist zuhause."

„Nein, ich will zu meiner Familie. Ich brauche sie so sehr." Seine warmen Hände streichen beruhigend über meinen Rücken, während ich mich mit meinen Händen in sein Oberteil kralle. Irgendwann passt sich meine Atmung seiner ruhigen an und ich realisiere langsam, dass ich die Fassung verloren habe. Das ist mir noch nie vor jemand Fremdem passiert. Ich schäme mich so sehr und würde mich am liebsten irgendwo verkriechen.

Aber Chris nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und zwingt mich ihn anzuschauen. Ich kenne diesen Blick, er hat mich schon so oft getroffen. Mitleid.

„Nicolai, hast du dich heute übergeben?" Ich schließe die Augen, presse die Lippen auf einander und nicke. Ich höre, wie er schwer ausatmet. Auch das ist mir durchaus bekannt. Enttäuschung.

„Aber du willst mir nicht sagen, warum?" Ich reiße mich los, mein Gesicht ist schmerzverzerrt. „Nein, weil du bist so toll und ich verliere wegen eines Wortgefechts gleich die Kontrolle."
Er löst sich von mir und atmet verächtlich aus.

„Jetzt sage ich dir mal was. Ich bin nicht der tolle Typ für den du mich hältst. Ich habe meine Schwester im Stich gelassen, als sie mich am meisten gebraucht hat. Ich bin 29 und halte mich mit Gelegenheitsjob über Wasser. Dann teile ich mir mit einem 18-jährigen das Zimmer, weil ich es alleine kaum bezahlen kann und dann ficke ich auch noch eine seiner Freundinnen, obwohl ich eigentlich scharf auf ihn war... Jetzt weißt du Bescheid."

Ich bin unfähig, etwas zu sagen. Die erste Sache die mich schockiert ist sein Alter. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass er schon so alt ist. Dass er wenig Kohle hat, war mir irgendwie klar. Dass er seine Schwester im Stich gelassen hat, kann ich nicht wirklich glauben. Da ist bestimmt noch mehr, aber das kann ich ihn jetzt nicht fragen.

Dann ist da noch die Sache, dass ich offensichtlich eine größere Anziehung auf ihn habe, als er zugibt. Aber warum stößt er mich dann immer von sich? Ist ihm nicht klar, dass mich das zerstört?

„Julien, oder? Er ist schuld!" Sein ganzer Blick hat sich verändert. Gerade konnte ich gefühlt durch seine Augen in sein Inneres schauen und jetzt ist da nur noch Wut. „Ja, wir hatten Streit-" „Ich wusste es. Ich werde ihn sowas von fertig machen."

Schnell überbrücke ich den Abstand zwischen uns und lege eine Hand auf seine Brust. „Wir hatten Streit, aber das ...das was passiert ist, habe nur ich zu verantworten. Bitte hilf mir, Chris, dass es nicht nochmal passiert", schluchze ich. Er zieht mich wieder an sich und spricht dicht an meinen Ohr.

„Was kann ich tun?" „Behandele mich einfach, als wäre ich kein Freak." „Du bist kein Freak."

Er nimmt mein Gesicht wieder zwischen seine Hände. Ich schließe die Augen und wünsche mir nur seine Lippen auf meinen. „Kate, Luke und ich sind jetzt deine Familie, okay? Wir passen auf dich auf."

Ich öffne meine Augen und nicke. „Möchtest du kuscheln?" Ich sehe ihn argwöhnisch an, denn sein letztes Angebot war eine Finte. Aber er zieht bereits die Hose aus und steigt in mein Bett.

„Komm her, Susi." „Ich mag keine Spitznamen." Er zuckt mit den Schultern, während auch ich meine Hose ausziehe, bevor ich zu ihm unter die Decke krabbele.

„Okay Susi, damit wirst du leider leben müssen, denn Familie kann man sich halt nicht aussuchen."

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