Ich bin der letzte in der Umkleide. Immer noch versuche ich zu verarbeiten, was zuvor im Tanzsaal passiert ist. Nicht mal ein „danke" ist Julien über die Lippen gekommen, aber immerhin zur Abwechslung auch keine feindseligen Worte.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir, drehe mich um und sehe in Chris strahlendes Gesicht. „Herzlichen Glückwunsch! Du hast es verdient." Seine Hand wandert in meinen Rücken und ehe ich mich versehe drückt er mir einen Kuss auf den Mund.
Überrascht weiche ich ein Stück zurück, aber nur soweit, wie es seine Hand in meinem Rücken zulässt. „Lass, uns das feiern. Nur wie beide", flüstert er mir ins Ohr.
Mein ganzer Körper steht in Flammen. Seine Worte jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken. Aber ich will nicht wieder eine schnelle Nummer, die mich gebrochen zurücklässt. Ich kann das nicht mehr. Ich brauche jemanden der mich liebt, nicht jemand, der nur meinen Körper begehrt. Nein, diese Vorstellung finde ich inzwischen mehr als abstoßend.
„Tut mir leid, ich hole gleich meinen Bruder vom Flughafen ab." „Oh... naja, dann halt ein anderes Mal", sagt er und weicht zurück. Ich fühle mich, als hätte ich ihm einen Korb gegeben, dabei habe ich nur die Wahrheit gesagt. „Was ich mich frage, warum hast du das mit Julien gemacht?"
„Baumkronenschüchternheit."
„Was für 'ne Schüchternheit?" Meine Wangen werden rot und mir wird warm, noch wärmer als zuvor. Das ist sehr persönlich. Ich dachte er wäre schon dahinter gekommen, wie ich ticke.
„Ich habe Angst vor Konflikten. Ich gehe ihnen aus dem Weg, um mich selbst zu schützen."
Er schaut mich an, als hatte ich den Verstand verloren. Auf alle Fälle deute ich so seinen Blick. „Aber jetzt musst du gegen ihn antreten. Das macht doch keinen Sinn." „Für mich schon. Vielleicht ist es der einzige Weg das Kriegsbeil zu begraben. Ich meine, wie groß wäre die Konfrontation gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass er es nicht verdient hätte?"
„Baumkronenschüchternheit", flüstert er in meine braunen Locken, als er mich zu sich ran zieht. „Du bist wirklich unglaublich."
Nervös trete ich von einen Fuß auf den anderen. Toni ist spät dran. Was wenn er ins falsche Flugzeug gestiegen ist? Was, wenn das hier eine Kevin-allein-in-New-York-Nummer wird? Doch dann sehe ich seine schwarzen Schopf mit der Baseballcap. „Hey", sagt er als er mich umarmt. Mein „Hey" besteht nur aus Geschluchze.
„Nicolai, du heulst doch jetzt nicht etwa?!" Anscheinend habe ich ihn mehr vermisst, als mir bewusst war. „Schön, dass du da bist." „Was machen wir?" „Alles worauf du Lust hast." „Können wir Pizza essen gehen?" „Klar."
Den ganzen Weg zurück in die Stadt plaudern wir wie Freunde, obwohl wir das nie waren. Ja, wir sind Brüder und wir haben uns immer auf eine Art und Weise geliebt, aber freundschaftlich war es nie zwischen uns. Die Distanz hat uns verändert. Zum Guten.
Wir gehen Pizza essen, wobei Toni nach seiner, auch noch die Hälfte von meiner verschlingt. Die halbe Portion, die sich Bruder nennt, ist ganz schön groß geworden. In der WG stelle ich ihm dann den anderen vor und Chris bietet ihm sofort sein Bett an und räumt seinen Kram dann ins Wohnzimmer.
Die nächsten Tage trete ich beim Training kürzer und verbringe lieber meine Zeit mit Toni. Nur wenn er bei Freunden ist, fahre ich ins Tanzstudio. Obwohl wir jede freie Minute miteinander verbringen und abends oft noch stundenlang reden, gehen die Tage bis zur Abreise viel zu schnell vorbei.
Ich habe ihm ein paar Sandwiches gemacht und gehe gerade zurück in meine Zimmer, als ich ihn und Chris reden höre. „Und freust du dich auf zuhause?", fragt Chris. „Mhm, hätte glaube ich auch gerne 'ne eigene Bude, so wie Nicolai. Eltern können ganz schön nerven."
Daraufhin kommt ein Mischung aus Schnaufen und Lachen von Chris. „Hör mal. Ich sehe wie mein Bruder dich anschaut und mein Bruder hat nur das beste verdient. Also wenn du ihm wehtust, dann tue ich dir weh."
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen und zeitgleich steigen mir die Tränen in den Augen hoch. Mein kleiner Bruder hat also die Eier mich zu beschützen. Ich weiß, er wird es hassen, aber ich werde ihm vor seiner Abreise sagen, dass ich ihn liebe. So wie er es mir durch diese Worte zu Chris gesagt hat.
Als ich vom Flughafen nachhause komme liegt die Wohnung im Dunkeln. Ich höre Kates Kichern vom Ende des Flures und muss grinsen, weil Luke und sie immer noch so tun, als wären sie kein Paar.
Ich gehe an der Küche vorbei und sehe das glühende Ende einer Zigarette. Vorsichtig bahne ich mir meinen Weg durch den Raum und trete zu Chris raus auf den kleinen Balkon. „Hey, was machst du hier?", frage ich. Warum auch immer.
„Nachdenken." Dann führt er wieder die Zigarette zu den Lippen. „Dann lasse ich dich mal alleine." Chris greift nach meinem Handgelenk. „Nein, bleib ruhig... Ich mag deinen Bruder." „Ja, Toni ist in manchen Dingen so viel erwachsener als ich." Chris schnipst die Zigarette über den Balkon und ich stütze mich auf der Brüstung ab und sehe ihr zu, wie sie zu Boden fällt.
„Er hat mir 'ne Ansage gemacht." Ich grinse in mich hinein. „Ich weiß."
„Du hast gelauscht?" „Nennen wir es einen unglücklichen Zufall."
Plötzlich legt er seine Hand auf meine, die immer noch auf der Brüstung ruht und ich wende mich ihm zu. „Du weißt, dass ich nach dem Workshop wieder nach L.A. gehe... und dass du hier in Seattle bleibst."
„Ja", hauche ich ihm entgegen und bin mir nicht sicher, ob er es überhaupt hört. Er legt seine Stirn an meine.
„Ich will dir nicht wehtun", flüstert er. „Ich weiß doch längst, dass du es tun wirst. Ich habe mich schon darauf vorbereitet. Also warum vorher nicht ein bisschen glücklich sein?"
Ich spüre seinen heißen Atem im meinen Gesicht. Mein Herz schlägt Purzelbäume in meiner Brust. Dann löst sich seine Stirn von meiner und er nickt. „Komm mit", sagt er und streckt mir die Hand hin.
„Ich komme gleich nach." Während Chris in der dunklen Wohnung verschwindet, fülle ich meine Lunge mit der kalten Nachtluft. „Danke, Toni", flüstere ich in die Dunkelheit hinaus, bevor auch ich in unser Zimmer zurückkehre.
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Baumkronenschüchternheit
RomanceAchtung! Diese Geschichte wird überarbeitet! „Ich will dir nicht wehtun", flüstert er. „Ich weiß doch längst, dass du es tun wirst. Ich habe mich schon darauf vorbereitet. Also warum vorher nicht ein bisschen glücklich sein?" Der 17-jährige Nicolai...