Ödipuskomplex

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In meiner Vorstellung war Tante Ruth eine alte, immer schlecht gelaunte Dame. Aber in Wirklichkeit ist sie so wie ich. Ja, vielleicht bin auch ich ab und zu eine nörgelige Rentnerin. Ich meine, wer ist das nicht? Doch in ihr steckt eine Balletttänzerin, so wie in mir. Vielleicht habe ich diesen Besuch gebraucht, um wieder ein wenig Hoffnung zu schöpfen.

„Na, wieder da?", stellt Chris das Offensichtliche fest. Er liegt auf dem Bett, mit einem Buch. Aber es ist nicht das immer gleiche, zerfledderte Buch, sondern mein Buch, das mit der balletttanzenden Maus. „Gibt das her! Das ist meins", sage ich und entreiße es seinen Händen. „Reg dich ab! Wollte nur mal sehen, was du so liest. Was soll ich sagen. Passt zu dir."

Ich funkle ihn wütend an und greife nach seinem Buch, das auf dem Nachtisch liegt und hebe es hoch. „Westside Story, war ja klar", sage ich abfällig und schmeiße es zurück auf den Nachtisch. Doch dann rutsch ein Foto heraus und landet auf dem Fußboden.

Chris will danach greifen, aber ich bin schneller. Das Foto zeigt eine jüngere Version von Chris, eine ohne Tattoo. Neben ihm steht ein Mädchen mit haselnussbraunen Haaren und dunklen Augen. „Ist das deine Schwester?", frage ich, während mir Chris das Foto entreißt. „Ja", sagt er nur mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich hätte wetten können, dass sie mir ähnelt, aber ich habe blaue Augen und dunkelbraune Haare und auch ist meine Gesichtsform ganz anders als ihre. „Sie sieht mir gar nicht ähnlich." „Warum sollte sie?" „Weil du gesagt hast, dass ich dich an sie erinnere."

Er macht es sich auf dem Bett gemütlich und steckt das Foto zurück in sein Buch. „Ich meinte, vom Wesen. Sie war genau so zerbrechlich, wie du es bist." „Ich bin nicht zerbrechlich", protestiere ich. Er schnaubt verächtlich aus.

„Meinst du, ich mache mit dir rum, wenn du meiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten bist, Idiot? Denkst du, ich habe 'nen Ödipuskomplex?"

Dann dreht er sich auf die Seite und meine Konfliktscheue verhindert es, ihm Freuds Werk Der Untergang des Ödipuskomplexes nahezulegen. Dann wüsste er, dass er absoluten Bullshit redet.

Wütend schmeiße ich mich aufs Bett. Das nennt er rummachen? Die Zunge hat er mir in den Hals gesteckt, mehr nicht.

Am nächsten Tag rede ich zum ersten Mal, nach der misslungenen Party, wieder mit Ashley. Das ganze Wochenende habe ich auf ihre Nachrichten nicht reagiert. „Es tut mir so leid, Nicolai", beteuert sie nun schon zum bestimmt hundertsten Mal. „Du wusstest, wie sehr ich Chris mag und dann steigt er mit diesem Miststück ins Bett."

„Ich habe den Kontakt zu ihr abgebrochen, mehr kann ich nicht tun. Aber vielleicht war der Wink für dich auch ganz gut." „Was soll daran gut sein?" „Naja, offensichtlich steht er nicht auf Jungs." „Ja, offensichtlich nicht."

Aber ich erzähle ihr nicht, was danach passiert ist. Sowas tut doch kein heterosexueller Mann. Auch nicht, wenn er Chris heißt und mir nur einen reinwürgen wollte. Was ich Ashley aber erzähle, ist, dass Chris nun mein Tanzlehrer ist und dass sie die Finger von Luke lassen muss.

„Das ist kein Problem, er ist nett und sieht auch nicht schlecht aus, aber, oh man, ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was er erzählt hat", sagt sie lachend. Ich bin froh, dass mit Ashley wieder alles in Ordnung ist, denn mir schwant, dass ich sie in der nächsten Zeit noch brauchen werde.

Das Training läuft die ganze Woche schleppend. Das einzige Lob bekomme ich von meiner Tanzlehrerin beim klassischen Ballett, aber in den Stunden mit Chris fällt immer der gleiche Satz. „Noch mal von vorne." Immer und immer wieder. Hinzu kommt Juliens Feindseligkeit.

„Hast du irgendwelche Zuckungen, oder was soll das darstellen?", fragt er, als Chris uns gerade den Rücken zugedreht hat. „Naja, mit ein paar Kilos zu viel auf den Rippen tanzt es sich halt nicht gut", schiebt er hinterher. Daraufhin passiert es zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder. Mein sowieso schon karges Mittagessen findet seinen Weg in den Müll.

Vor dem Ballettstudio fängt mich Chris ab. Ich habe meine Hände in den Taschen vergraben, denn ich bin komplett gefrustet. Die aufbauenden Worte von Tante Ruth sind längst verbraucht und ich will nur meine Ruhe.

„Es wäre gut, wenn man uns außerhalb des Ballettstudios vielleicht nicht zusammen sieht", sage ich, während er versucht mit mir Schritt zuhalten. „Warum?"

„Ich will nicht, dass jemand weiß, dass was zwischen uns ist." „Zwischen uns ist ja auch nichts." Ich stöhne genervt auf. „Dass wir uns kennen, meine ich." Dann läuft er weiter neben mir her, als hätte es das Gespräch nicht gegeben.

„Du und dieser Julien, ihr versteht euch nicht besonders gut, oder?" „Verstehst du dich mit all deinen Ex-Freundinnen gut?" „Er ist dein Ex?", platzt es aus ihm heraus. „Dachtest wohl, ich wäre noch 'ne Jungfrau, was?" Er lacht und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf schüttelt.

„Nein, keine Ahnung. Doch, vielleicht dachte ich das tatsächlich. Aber ich meine, hätte ich das gewusst, dann hätten wir euch nicht in eine Gruppe gesteckt. Ich werde da ab jetzt ein Auge drauf haben." „Du musst mich nicht beschützen. Er klopft nur dumme Sprüche, sonst nichts."

Jetzt hält er mich am Oberarm fest und zwingt mich zum Stehenbleiben. „Was sagt er?" Ich will es ihm nicht sagen, denn dadurch gewinnen Juliens Worte nur an Macht. „Raus mit der Sprache." Chris Blick durchbohrt mich regelrecht. Ich kann diesem Blick nicht standhalten, ich würde meine eigene Mutter verraten, wenn er mich so ansieht.

„Dinge über meine Figur halt." „Er sagt dir, dass du zu dick bist?" Ich zucke mit den Schultern und tue so, als hätten Juliens Worte keine Wirkung auf mich. „Dir ist doch hoffentlich klar, was er damit bezwecken will?" „Natürlich ist mir das klar. Ich habe den ganzen Scheiß schonmal durchgemacht", sage ich viel zu laut.

„Tut mir leid, ich wollte nicht schreien."
„Du hast eine tolle Figur, lass dir da nichts anderes erzählen." „Ich habe dir gesagt, keine Komplimente mehr", sage ich mir hochrotem Kopf. „Okay, keine Komplimente, aber auf dich aufpassen werde ich trotzdem. Und jetzt holen wir dir erstmal was zu Essen, denn wie ich dich einschätze, hast du das heute ausgelassen."

Ich gebe mich geschlagen. So lange, wie Chris hier in Seattle ist, ist es sinnlos, gegen meine Gefühle anzukämpfen, denn es kostet zu viel Kraft und es bringt nichts, denn so oder so kreisen alle meine Gedanken sowieso immer nur um ihn.

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