Das leere Marmeladenglas

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„Mama, geh schon ran", murmle ich vor mich hin, während ich am Küchentisch sitze und an meinen Fingernägeln kaue. „Nicolai, ist was passiert?", dringt es durch den Hörer. „Nein, Mama. Mir geht es gut." „Oh Gott sei Dank. Gott sei Dank", stammelt sie und erst jetzt fällt mir auf, dass es bei ihr schon weit nach Mitternacht ist.

Dann berichte ich ihr von Chris' Bein und seinem Zustand. „Die rote Line muss nicht unbedingt ein Zeichen für eine Sepsis sein, aber ihr solltet das auf alle Fälle im Krankenhaus abklären lassen." „Danke Mama, das werden wir." „Pass auf dich auf, Nicolai."

Ich beende das Telefonat und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Chris ist schon wieder halb weggedämmert und so wecke ich ihn erneut.

Er trinkt einen Schluck, aber verschüttete die Hälfte auf seinem T-Shirt. „Chris, du musst ins Krankenhaus", sage ich. Urplötzlich scheint er hellwach zu sein.

„Nein, ich kann da nicht hin...ich hasse Krankenhäuser...meine Schwester...nein." Ich lege meine Hand beruhigend auf sein Bein. „Chris, es ist okay Angst zu haben. Ich werde dich begleiten." Mit großen Augen schaut er mich nun an. „Ich kann nicht ins Krankenhaus. Ich bin nicht krankenversichert."

Mir entgleisen die Gesichtszüge. Ich kann mein Entsetzen gar nicht verbergen. „Warum?" „Weil ich keine Kohle habe. Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein Loser bin. Lass mich einfach noch ein bisschen schlafen."

Dann legt er sich wieder hin und dreht mir den Rücken zu. Ich will nur schreien und heulen. Warum erkennt er nicht, wie ernst die Lage ist? Er ist der Erwachsene, ich bin quasi noch ein Kind. Auf alle Fälle fühle ich mich gerade so.

Ich gehe zu meinem Bett und ziehe den Karton mit dem Marmeladeglas, in dem sich das Geld für Tonis Flug befindet, unter ihm hervor.

Toni wird mich hassen. Er wird nie wieder ein Wort mit mir sprechen. Aber was soll ich tun?

„Zieh dich an. Ich habe das Geld für deine Behandlung." Ich weiß, dass meine Worte kalt klingen. Aber ich bin sauer, verzweifelt, müde, alles zur gleichen Zeit. Die 300 Dollar stopfe ich in mein Portemonnaie und ziehe mich an, bevor ich Chris helfe seine verschwitze Kleidung auszuziehen. Der Weg ins Krankenhaus ist einfach nur schrecklich. Ständig bleibt Chris stehen, in der U-Bahn schläft er mir ein und wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig zur Tür.

Total fertig hieve ich ihn schließlich auf einen der Sitze in der Notaufnahme. „Warte hier. Ich melde dich an", sage ich zu ihm, wobei ich mir sicher bin, dass er nirgendwo hingeht. Ich trete zu der kaugummikauenden Krankenschwester an den Empfangstresen. „Ähm...ich bin hier mit meinem Freund-" „Junge, das hier ist 'ne Notaufnahme. Für Notfälle. Wenn euch das Kondom gerissen ist, ist es jetzt sowieso zu spät. Kommt morgen für 'nen Aidstest wieder. Der Nächste, bitte."

Wie vom Donner gerührt stehe ich da und der Typ hinter mir will sich an mir vorbeischieben. „Entschuldigen Sie, aber mein Freund hat, denke ich eine Blutvergiftung."

„Wir stellen hier die Diagnosen. Versichertenkarte?", blafft sie mich nun an. „Hier ist sein Ausweis, ich bezahle bar."

Sie schüttelt nur den Kopf und reicht mir dann einen Anamnesebogen entgegen. Wir warten bis in die sehr frühen Morgenstunden, bis Chris endlich aufgerufen wird und ich alleine zurückbleibe.

Als Chris schließlich das Behandlungszimmer mit dem Arzt verlässt gehe ich zu ihm. „Es wäre wirklich besser, Sie würden einen Tag hier bleiben." Chris schüttelt nur den Kopf. „Gut, dann nehmen Sie wie besprochen das Antibiotikum. Aber falls es Ihnen schlechter geht, müssen sie auf alle Fälle wiederkommen."

Wir verlassen zusammen das Krankenhaus, aber Chris ist am Ende seiner Kräfte. Ich parke ihn auf einer Bank und eile zur Apotheke, wo ich das Rezept über die Theke reiche und anschließend 150 Dollar. Dann rufe ich uns ein Taxi, denn wir würden den Weg nachhause niemals schaffen und schon sind die nächsten 30 Dollar weg.

Chris bekommt im Taxi einen Nervenzusammenbruch. „Es tut mir so leid, Nicolai. Ich zahle dir jeden Penny zurück", jammert er und wiegt sich mit dem Gesicht in den Händen neben mir hin und her. Es tut mir leid, dass es ihm so dreckig geht und es tut mir leid, dass ich so wenig Verständnis aufbringen kann, aber der Schlafmangel zollt so langsam seinen Tribut.

Hinzu meine Enttäuschung wegen Toni. Irgendwie schleppen wir uns in den vierten Stock. In unserem Zimmer schlurft er zu seinem Bett und ich bereite das Antibiotikum vor und verabreiche es ihm. Dann lasse ich mich erschöpft aufs Bett fallen.

„Mir ist so kalt", kommt es aus der hinteren Ecke des Zimmers. Ich stehe vom Bett auf und schließe das Fenster, dann gehe ich zu Chris und sehe, wie er am ganzen Körper zittert. Ich nehme meine Decke und lege sie über seine und stopfe sie an den Seiten unter seinen Körper.

Ich will ihn in seinem Zustand gar nicht alleine lassen und trotzdem gehe ich ins Bad, um dort stumm zu weinen, weil ich mein Versprechen Toni gegenüber nicht halten werde können.

„Kommst du zu mir?", fragt Chris mit klappernden Zähnen, als ich wieder ins Zimmer komme. Ich trete neben sein Bett. Er sieht gar nicht gut aus. „Kommst du unter die Decke, bitte?" „Du willst, dass ich mich zu dir lege?" „Bitte." Ich ziehe die Jeans aus, krabbele unter seine Decke und schmiege mich an ihn. Meine Arme bahnen sich ihren Weg um seinen zitternden Körper. „Da-n-ke", sagt er nur und ich bin froh, als das Klappern seiner Zähne nach einer Weile aufhört.

Ich selbst bin auch ziemlich fertig und so überkommt mich schließlich, während die Sonne langsam über Seattle aufgeht, die Müdigkeit und ich schlafe neben Chris ein.

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