„Und weißt, du warum das eine Scheißidee ist?" Ich bin wie erstarrt, während er mit einem Finger über mein Schlüsselbein fährt.
„Weil du dabei nur verlieren kannst. Eines Tages wirst du morgens aufwachen und ich werde weg sein. Einfach so, weil das meine Art ist, die Dinge zu beenden und deinen Namen werde ich wahrscheinlich schon vergessen haben, bevor das Flugzeug in L. A. gelandet ist. Jetzt weißt du, wie ich bin."
„Nein, so bist du nicht." Er greift zu meinen Schultern und schüttelt mich. „Wach auf, Nicolai. Genau so bin! Ich reiße alle mit in den Abgrund."
„Du tust mir weh", wimmere ich und nun lässt er meine meine Schultern los. „Fuck", schreit er und dann versenkt er seine Faust in dem Kleiderschrank neben mir.
Chris ist so geschockt, dass er geradewegs durch die Tür geschlagen hat, dass ich die Gelegenheit nutze und aus unserem Zimmer flüchte. Noch im Gehen ziehe ich mir die Schuhe an und eile dann zur Wohnungstür heraus.
Was war das? Ich bin sowas von durch den Wind. Wie konnte die Stimmung plötzlich so kippen? Das da oben ist doch nicht Chris. Das ist nicht mein Chris.
Nach kurzer Zeit klingelt schon mein Handy. Chris natürlich. Vielleicht ist er wieder zur Besinnung gekommen. Doch ich entfliehe lieber noch ein bisschen der aufgeheizten Stimmung zuhause. Ich kaufe mir einen Smoothie, den die Verkäuferin mir nur widerwillig vor Ladenschluss gemacht hat. Dann schlendere ich nachhause und versenke den Smoothie schließlich doch im Müll, weil ich einfach nichts runterbekomme.
Leise öffne ich die Zimmertür, in der Hoffnung, dass Chris vielleicht nicht da ist. Aber weit gefehlt. Kaum, dass ich zur Tür rein bin, stürzt er sich auf mich. „Nicolai, geht es dir gut?"
„Ja", sage ich genervt. „Hast du...also hast du-" „Gekotzt? Nein!"
Er kommt auf mich zu, aber ich weiche ein Stück zurück. Will er jetzt meinen Atmen kontrollieren, oder was? „Halt dich einfach von mir fern...bitte."
„Nicolai, es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich rede nicht gerne über meine Schwester."
Ah, jetzt war seine Schwester also das Problem und nicht die Tatsache, dass er offensichtlich wirklich ein Arschloch ist. Aber ich sage natürlich nichts. Bloß nicht noch eine Konfrontation.
Ich nehme mein Schlafzeug und ziehe mich um. „Du, der Kleiderschrank ist kaputt", stammelt er, als ich mich gerade zudecke. „Bitte behebe den Schaden, bevor du eines Morgens nicht mehr da bist und meinen Namen vergessen hast."
Das Adrenalin pumpt nur so durch meine Adern. Selten hatte ich so viel Courage. „Nicolai, ich werde dich niemals vergessen. Tut mir leid. Sag doch bitte was!" „Mach bitte das Licht aus, ich habe morgen Schule."
Ich weiß, dass er wachliegt und das auch noch tut, als ich Stunden später einschlafe, denn sein nervtötendes Schnarchen bleibt aus.
Dank Chris vermassele ich die Klausur am nächsten Tag. Das wird garantiert nur ein C. Ich ärgere mich und lasse meinen ganzen Frust über Chris an Ashley aus. Ein bisschen leid tut sie mir schon. „Chris, Chris, Chris! Hast du auch noch ein anders Thema?"
Leider hat sie recht. Alle Gedanken kreisen nur um ihn, dabei sollte ich mich auf andere Dinge fokussieren. Auf das Training, die erste Auswahlrunde und auf den immer näher rückenden Besuch von Toni. Darauf freue ich mich am meisten. Endlich wieder meinen kleinen, nervtötenden Bruder um mich haben. Andauernd schickt er mir Fotos vom Baseball. Er ist nun in der Stammanschaft und nicht mehr Ersatzspieler. Er setzt seinen Fokus anscheinend besser als ich.
Doch die ganze Woche ist es schwierig zu erkennen, ob ich beim Tanzen Fortschritte mache oder nicht, denn Chris hat übele Laune und quält uns bis zum Erbrechen. Es geht soweit, dass sogar Julien ihn um eine Pause bittet. Aber Chris schnauzt ihn nur an, sagt, wenn er eine Pause bräuchte wäre er hier fehl am Platz.
Sowieso hat er es besonders auf ihn abgesehen. Nicht, dass ich Mitleid habe, aber ich habe den Eindruck, Chris mischt sich in meine Kämpfe ein. Wobei ich nie kämpfe, ich sitze die Dinge am liebsten aus.
Sein Laune zuhause ist nicht besser. Es ist nicht so, als würde er es an mir auslassen. Zu mir ist er relativ normal, wenn in unserer Beziehung überhaupt irgendwas normal ist. Ich möchte den Chris von Samstag zurück. Ich will wieder mit ihm unter die Dusche und alle negativen Erinnerungen wegwaschen. Dann soll er sich wieder zu mir ins Bett kuscheln, aus welchen Gründen auch immer. Aber das scheint alles meilenweit entfernt, wenn es nicht sogar ausgeschlossen ist.
Nach einem Streit mit Kate in der Küche knallt diese zum ersten Mal so richtig die Tür. Bombenstimmung. Da verkrieche ich mich lieber früh ins Bett.
Spät in der Nacht werde ich wach. Chris scheint noch nicht zu schlafen, denn ich höre sein Schnarchen nicht. Aber ich höre ihn, wie er sich im Bett rumwälzt und leise wimmert, als hätte er einen Alptraum. Zwanzig Minuten höre ich mir das Schauspiel an, dann stehe ich auf und gehe zu seinem Bett und schalte die Nachttischlampe an. Seine braunen Haare kleben ihm schweißgetränkt im Gesicht. Das Kopfkissen ist nass und es haben sich kleine Wassertropfen auf seiner Haut gebildet.
„Chris, wach auf!", sage ich, doch seine Lider zucken nur weiter nervös, aber er öffnet nicht die Augen. Ich greife an seinen Arm – seine Haut unter meinen Fingern scheint zu glühen – und rüttele ihn. „Was ist los? Wo bin ich?", fragt Chris verwirrt, dämmert dann aber schon wieder weg.
„Chris...hey, aufwachen. Du fieberst." Seine Atmung geht schnell, als hätte ich ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen, aber sie beruhigt sich nicht, obwohl er mich nun anschaut. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Mir geht es nicht gut", sagt er.
„Ich hole mir was zu trinken." Er setzt sich im Bett auf und als er seine Beine auf den Boden stellt, habe ich plötzlich ein Deja-vue. Mich beschleicht die Vermutung, dass das hier nicht nur eine Grippe ist. „Leg dich bitte nochmal hin. Ich hole dir was zu trinken."
Chris deckt sich sofort wieder zu, aber ich schlage die Decke zur Seite und löse das Pflaster an seiner Wunde. Ich bin kein Arzt, aber das sieht nicht gut aus und die rote Line an seinem Bein verheißt auch nichts Gutes.
„Chris, seit wann ist das so?" Er sieht mich nur fragend an. „Chris, ich glaube du hast eine Sepsis." „Eine was?" „Eine Blutvergiftungen...Keine Panik", sage ich eher zu mir selbst, denn ich weiß nicht, was ich tun soll und Chris scheint zu verpeilt, um selbst eine Entscheidung zu treffen.
„Ich hole dir dein Wasser. Bin gleich zurück." Dann eile ich mit meinem Handy raus in die Küche, um meine Mutter anzurufen. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist.
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Baumkronenschüchternheit
RomanceAchtung! Diese Geschichte wird überarbeitet! „Ich will dir nicht wehtun", flüstert er. „Ich weiß doch längst, dass du es tun wirst. Ich habe mich schon darauf vorbereitet. Also warum vorher nicht ein bisschen glücklich sein?" Der 17-jährige Nicolai...