Auf zu neuen Ufern

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Vorsichtig ziehe ich den Vorhang ein Stück zur Seite und werfe einen Blick auf den sich füllenden Theatersaal. Ich sehe Chris neben Tante Ruth, wie er sich zu ihr rüberbeugt und mit ihr redet. Ein der vielen Bilder die ich tief in meinem Herzen bewahren werde.

Meine Eltern und Toni sind nicht hier, denn ich werde nicht tanzen. Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist, dass das Risiko mich noch schwerer zu verletzen zu groß ist und dass ich durch einen Unfall auch allen anderen ihre Chance nehmen würde.

Und doch ist es schwer, alle in ihren Kostümen zu sehen, ihre Aufregung zu spüren. Ich bin stolz auf meine Tanzgruppe und zeitgleich unendlich traurig. Es sollte unser gemeinsamer Abschied werden.

Die Tür Seattle Dance Akademie hat sich für mich geschlossen, auf alle Fälle für dieses Jahr. Ich habe mein Bewerbungsvideo bei allen großen Akademien des Landes eingereicht, aber Seattle hat mich abgelehnt. Sie werden heute Abend genügend geeignete Kandidaten finden.

Aber wie heißt es so schön? Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Vor zwei Wochen bekam ich die Briefe aus New York und  L.A.

Nervös hatte ich vor den beiden Briefen gesessen. Chris an meiner Seite und Kate und Luke uns gegenüber. Diese Briefe würde also über meine Zukunft entscheiden. Zuerst öffnete ich den Brief von der New York Dance Academy. Während drei Augenpaare mich fokussierten, wanderte meins über den Text. Dann verschwamm alles vor meinen Augen. „Zusage", presste ich hervor.

„Glückwunsch", jubelten Kate und Luke zeitgleich. „Ich wusste es", sagte Chris und gab mir einen Kuss auf die Wange, während ich mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullis abputzte.

Mit zitternden Händen griff ich nach dem zweiten Brief und schickte ein Gebet gen Himmel, obwohl ich nicht an Gott glaube. Wahrscheinlich wurde es deshalb nicht erhört.

„Auch eine Zusage", sagte ich und die Tränen liefen noch mehr als zuvor. „Ich wusste, dass sie dich alle haben wollen." Ich nickte mit zusammengepressten Lippen.

„Du wirst sie in New York umhauen", sagte Chris. Ein lautes Schluchzen verließ meine Lippen und ich warf mich geradezu in Chris Arme, wo ich meinen Kopf in seiner Halsbeuge vergrub und hemmungslos weinte. Als ich die Auge wieder öffnete waren Luke und Kate fort.

„Ich... Ich wünschte ich könnte mit dir nach L.A. kommen", schluchzte ich. „Aber die Akademie in New York ist Weltklasse... du wärst ein Dummkopf, wenn du deine Chance nicht nutzen würdest."

Immer wieder fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht, um die Tränen, die einfach nicht aufhören wollten zu fließen, wegzuwischen. „Ja...aber ich tue mir und dir damit verdammt weh."

„Ich habe das schon eingeplant, weißt du. Warum nicht vorher ein wenig glücklich sein", sagte er bevor seine Stimme versagte und eine Träne sich stumm ihren Weg über seine Wange bahnte.

Chris hatte mich dazu ermutigt mich meiner Konfliktscheue zu stellen und so endete meine neu gewonnene Stärke in einem von mir erzeugten Konflikt, der größer war, als alle Konflikte zuvor. Weil meine Entscheidung mich an beiden Akademien zu bewerben, immer den Konflikt barg, mich zwischen dem zu entscheiden, was besser für meine Tanzkarriere ist und dem was besser für mein Herz ist.

Welch bittersüßes Ironie, dass es gerade der Mann meines Herzens war, der dafür gesorgt hatte, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben würden.

Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen ist manchmal wirklich schwer. Aber es gehöht zum Erwachsenwerden dazu. Wenn man sich zwischen seiner Leidenschaft und der Liebe zu einem Menschen entscheiden muss, kann man eigentlich nur verlieren.

Und doch weiß ich, dass ich mich richtig entschieden habe. Auch wenn es schwer ist sich das einzugestehen, weil ich Chris von ganzem Herzen liebe und ich nicht weiß, wie ich ohne ihn überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen soll, geschweige denn tanzen soll, so weiß ich, dass die Liebe zu ihm vielleicht nicht für die Ewigkeit ist. Das klingt hart, aber ich bin mir nur bei einer Sache sicher, nämlich dass ich das Tanzen lieben werde so lange ich lebe.

Der Tag meiner Abreise kommt schnell als gedacht. Chris wird noch ein paar Tage in Seattle bleiben, bis auch er die Stadt verlassen wird um nach L.A. zurückzukehren. Auch er wird es sein, der Ashley auf den Abschlussball begleiten wird. Ein Versprechen, das ich leider nicht halten konnten. Aber ich bin mir sicher, alle anderen werden vor Neid erblassen, wenn Ashley dort mit Chris aufschlägt.

Tante Ruth habe ich zum Abschied eine Dauerkarte fürs Ballett geschenkt und ich hoffe so sehr, sie wieder zusehen, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Es wäre ein Traum, wenn sie mich eines Tages am Broadway tanzen sehen würde.

Kate und Luke haben einen Nachmieter für uns gefunden. Genau genommen eine Nachmieterin. Sie meinen, dann gäbe es weniger Drama. Ich bin sehr gespannt.

Chris und ich habe abgemacht, dass wir nicht über unsere Trennung sprechen. Wir haben abgemacht, dass wir erstmal keinen Kontakt haben werden, damit es einfacher für uns ist zu heilen. Wir wissen, dass eine Fernbeziehung nicht funktionieren wird.

Wir haben abgemacht, dass wir uns ein letzte Mal in unserem Zimmer küssen. Ein aller letzter Kuss. Ohne Tränen. Nur Liebe.

Dann küsse ich ihn doch noch einmal vor der Haustür und im Taxi knutschen wir die ganze Zeit.

Keine Tränen am Flughafen, haben wir abgemacht. Kaum, dass wir das Taxi verlassen habe, flenne ich los.

Wir haben gesagt, dass wir nichts bereuen werden. „Ich wünschte ich hätte mich anders entschieden", schluchze ich an seine Brust. „Ich bin froh, dass wir zusammen glücklich waren", sagt er.

Ich glaube nicht an Gott. Aber ich glaube, dass die Ostküste immer der Plan war, aber irgendeine höhere Macht wollte, dass ich einen kleinen Umweg gehe. Jemand wollte, dass Chris und ich uns begegnen.

Ein letztes Mal drehe ich mich um und winke ihm zu und hoffe, dass sich unsere Lebenswege irgendwann ein weiteres Mal kreuzen.

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