Hart rangenommen

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Mitten in der Nacht werde ich wach. Schweißgebadet, mit wild klopfendem Herz. Ich fühle mich verfolgt, doch bin total orientierungslos in der Dunkelheit. „Was ist los?", fragt Chris von der anderen Ecke des Zimmers und dann erhellt der Schein seiner Nachtischlampe endlich den Raum.

Warum ist er wach? Habe ich etwa geschrien? Nur langsam beruhige ich mich wieder. „Du hast nur schlecht geträumt. Schlaf weiter. Oder willst du zu mir ins Bett kommen?" „Ja", sage ich, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. „Das war ein Scherz", sagt er lachend und dreht sich auf die Seite. Mein scheiß Herz. Ich werde noch drauf gehen, wenn das so weitergeht.

Natürlich kann ich nicht so einfach weiterschlafen, aber irgendwann gegen Morgen gewinnt die Müdigkeit und ich falle in einen tiefen Schlaf.

„Nicolai, du musst aufwachen." Chris rüttelt an meiner Schulter, bis ich schließlich gequält die Augen öffne. „Komm schon, in einer Stunde müssen wir los zum Training." Chris ist schon komplett angezogen und auf dem Sprung raus aus dem Zimmer.

„Chris, kann ich dich was fragen?" „Klar, was gibt es?" Ich druckse rum, denn die Frage ist mir irgendwie unangenehm und eigentlich kenne ich auch schon die Antwort. „Also beim Training, wie schätzt du meine Leistung so ein?" Er schließt wieder die Tür und jetzt ist er es, der rumdruckst.

„Willst du das wirklich wissen?" „Ja", sage ich, obwohl ich weiß, dass die Antwort wehtun wird. „Du bist der schlechteste von den Jungs." Autsch, das tat mehr weh als gedacht. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich starre auf meine Oberschenkel und warte, dass Chris einfach geht. Ich will nicht vor ihm weinen. Er soll sich nicht darin bestätigt fühlen, weil er denkt, dass ich verletzlich und schutzbedürftig bin.

Aber Chris geht nicht, sondern hockt sich vor mich hin, hebt mein Kinn an und dann kann ich es nicht verhindern, dass eine Träne meine Wange hinunterläuft.

„Dein Können ist nicht das Problem. Du bist ein begnadeter Tänzer. Aber das hier ist das Problem", sagt er und tippt gegen meine Stirn. „Du stäubst dich, mit allem was du hast, gegen diesen Tanz. Deshalb klappt es nicht."

„Das stimmt nicht", sage ich, stehe auf und wische mir die Träne aus dem Gesicht. „Doch, das stimmt." Wieder bin ich gefangen in seinem Blick und wieder verliere ich den Kampf und wende mein Augenmerk auf das Muskelshirt, welches er trägt.

„Also habe ich noch eine Chance bei dir?" Er lächelt, denn ihm ist die Zweideutigkeit meiner Frage durchaus bewusst.

Wieder läuft mein Gedankenkarussel in der Stille, die eingetreten ist. Ich fokussiere seine Lippen und versuche mich zu erinnern, wie diese sich auf meinen angefühlt haben. „Wenn du dich in Zukunft wieder auf dein Ziel konzentrierst und nicht auf alles andere."

Mit diesen Worten wendet er sich ab zum Gehen. „Und jetzt komm, mir leeren Magen tanzt es sich nicht gut."

Als wir in die Küche kommen, sind Kate und Luke schon in den letzten Zügen vom Frühstück. „Sorry wegen gestern, hattet ihr trotzdem noch einen schönen Abend?", fragt Chris, als ich ihm gegenüber Platz nehme.

„Ja, wir haben das Beste draus gemacht." Kate strahlt übers ganze Gesicht und Chris und ich lächeln beide in uns hinein. „Und warum bist du so schwer aus dem Bett gekommen?", fragt Luke, während er sich Kaffee nachschenkt und ich ihm meinen Becher hinhalte.

„Ich habe so schlecht geschlafen, weil Chris mich gestern in ein...aua-"

Chris hat nun, neben meinen Füßen und meinem Herz, auch noch mein Schienbein demoliert. „Ähm, also durch die ganze Stadt geschleppt hat." Puh, das war knapp. „Und was habt ihr heute so vor?", fragt Kate fast beiläufig und genehmigt sich einen Schluck Kaffee.

„Oh, ich werde Nicolai heute so richtig hart rannehmen."

Kate schießt augenblicklich der Kaffee zur Nase wieder raus, während Luke sie besorgt anschaut und ich im Erdboden versinke. Chris' Aussage fasst alle meine schmutzigen Gedanken gekonnt zusammen. „Bitte was?", fragt Kate hustend.

„Keine Angst, wir verstoßen dabei nicht gehen Regel Nummer sechs. Ich bin Nicolais Tanzlehrer. Hat er euch das nicht erzählt?"

„Muss mir wohl entfallen sein", knurre ich. „Du tanzt auch Ballett?"
„Nein, Contemporary, HipHop, Latin."
„Was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend zusammen tanzen gehen?", fragt sie begeistert.

„Ich wäre dabei", sagt Luke und schaut dabei nur Kate an. „Und ihr Jungs?"

„Ich weiß nicht", sage ich. Ich war noch nie in einer Diskothek. Ich weiß nicht, ob das was für mich ist und bin nicht gerade scharf drauf, es herauszufinden, wenn Chris dabei ist. Außerdem wird wieder eine Menge Kohle dabei draufgehen.

„Ich komme nur mit, wenn Nicolai auch dabei ist." Na super, wie kann ich jetzt noch nein sagen. „Aber ich habe gar nichts anzuziehen."

„Das trifft sich gut, ich auch nicht. Lass uns vorher shoppen gehen", sagt Kate begeistert. Damit ist es also besiegelt. Ich frage mich, wie ich diesen Tag überleben soll.

Das Training fordert mir mal wieder alles ab. Eine Stunde Balletttraining, mit dem ich im Großen und Ganzen zufrieden bin, und danach zwei Stunden Training mit Chris.

Immer wieder tippt er sich gegen die Stirn, um mir zu verstehen zu geben, dass ich aufhören soll zu denken. Aber ich kann meine Abneigung gegenüber diesem Rumgehopse – tanzen will ich es gar nicht nennen – nicht ablegen. Dieser „Tanz" nimmt mir alles weg, wofür ich stehe.

Aber natürlich gebe ich mir Mühe, denn ich brauche eine der Hauptrollen, damit mich die Leute von der Akademie überhaupt wahrnehmen.

„Besser", sagt Chris am Ende der Stunde in meine Richtung und ich hoffe, er tut es nicht nur, weil wir Freunde sind. Freunde, sind wir das? Ich frage mich schon seit Tagen, was das zwischen uns ist. Aber ich habe noch nicht den passenden Begriff dafür gefunden. Vielleicht bin ich am Ende des Abends schlauer.

Vielleicht schafft dieser Abend endlich klare Verhältnisse.

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