... und der Morgen danach

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Nein Nicolai, nein. Fang jetzt nicht an zu heulen. Mit aller Macht kämpfe ich dagegen an... und verliere. Ich vergrabe mein Gesicht in der Bettdecke und werde eingenebelte von Chris Aftershave, aber vor allen Dingen hängt in den Laken der Geruch von Kimberlys billigem Parfüm. Es ist der Duft von Demütigung. Wild prügele ich auf die Matratze ein und verfluche mein verdammtes Herz, das sich nach einem Mann verzerrt, der nur mit mir spielt.

Mitten in der Nacht findet Chris erst wieder den Weg zurück ins Zimmer, aber ich liege immer noch wach. Ich starre gegen die Wand, während er neben meinem Bett stehenbleibt. Ich kann schon die Wärme seine Hände auf meiner nackten Haut spüren, die sich unter die Bettdecke schieben, aber dann geht er einfach weiter und legt sich auf sein Bett. Doch das Schnarchen setzt nicht ein und so liegen wir beide schweigend, jeder mit seinem ganz eigenen Chaos im Kopf, in der Dunkelheit.

Für einen Samstagmorgen bin ich viel zu früh auf den Beinen, aber ich will Chris, so gut es geht, aus dem Weg gehen. Ich habe nicht erwartet, dass schon jemand wach ist und so trifft mich der Eyeliner der durchs Badezimmer fliegt ziemlich unvorbereitet. „Verdammte scheiße", flucht Kate.

Sie will nach dem Eyeliner greifen, aber ich komme ihr zuvor. „Darf ich?", frage ich sie und hebe, nachdem sie genickt hat, ihr Kinn ein Stück an. Dann ziehe ich die Haut an ihrem Auge glatt und zeichne einen perfekten Lidstrich. „Danke, du hast das echt drauf."

Kate betrachtet sich im Spiegel, aber auch das Make-up kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie schlecht sie aussieht. „Was hat dir denn so den Morgen verhagelt?" Sie lässt sich auf den geschlossenen Klodeckel sinken und jetzt erst sehe ich mein erschreckendes Spiegelbild. „Der Abend gestern", sagt sie seufzend. „Kann ich dir was erzählen? Etwas, das unter uns bleibt?"

Ich löse mich von meinem Anblick im Spiegel und setze mich auf den Boden neben sie. „Schieß los." „Also, Luke und ich verstehen uns wirklich super. Wir haben die gleichen Hobbys, lachen über die gleichen Dinge und ich weiß, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann. Naja, irgendwie wünschte ich, dass da mehr wäre, aber er sieht in mir nur eine Freundin und ich wünschte er würde einmal einfach richtig seine Augen aufmachen."

„Oje, und ich schleppe auch noch Ashley an, die sich ihm an den Hals schmeißt." „Ashley ist voll okay und nicht das Problem. Luke ist das Problem." „Und Regel Nummer sechs!", sage ich augenzwinkernd. „Deshalb war der Abend also auch ein Desaster?!"

„Ja, aber nicht nur für mich, oder? Du siehst auch etwas mitgenommen aus." Kate streicht meine braunen Locken zurück, so wie meine Mutter es auch immer macht, wenn sie in Sorge um mich ist. „Chris hat dieses Miststück gestern in meinem Bett gevögelt...woraufhin wir..."

...rumgemacht haben, was rückblickend total absurd ist.

„Euch gestritten habt?", ergänzt Kate meinen Satz. „Ja genau." „Oh, das erklärt einiges." Auf meinen fragenden Blick hin spricht sie weiter. „Der letzte Drink war wohl schlecht und musste raus. Als ich danach in der Küche was zu trinken holen wollte, saß dort der heulende Chris. Der Abend war für uns alle wohl nicht der Bringer."

Ich finde das nicht okay. Mit welchem Recht sitzt er heulend in der Küche? Er war der, der einen Fehler gemacht hat. Es waren seine Küsse, die mich vergiftet haben. So war es und nicht umgekehrt.

Im nächsten Momente steht der Fehler von letzter Nacht auch schon im Badezimmer und ich wünschte, er wäre einfach, der Typ der-nicht-Luke-ist und mit dem ich keine Berührungspunkte habe. Aber es ist leider Chris, der das Herz in meiner Brust eskalieren lässt. Selbst jetzt noch.

„Oh, sorry Mädels", sagt er nur und ist dann auch schon wieder verschwunden. „Komm, wir machen Frühstück." Kate zieht mich hoch, drückt sich feste an mich und vergräbt ihre Nase in meinen Haaren. Ihre Berührung ist für mich okay. Ich habe sie gerne. Ich weiß, dass sie mir nicht wehtun wird.

Als wir gerade mit dem Decken des Tisches fertig sind gesellt sich Luke in bester Laune zu uns. Er plappert fröhlich vor sich hin, während Kate ihr Glas mit der Kopfschmerztablette betrachtet und ich Löcher in den Käse vor mir starre. Dass Chris in die Küche kommt und mir gegenüber Platz nimmt, bemerke ich nur durch das Quietschen der Stuhlbeine über dem Boden. Ich schaue nicht auf, denn ich weiß, dass ich seinem Blick nicht standhalten kann.

Die skurrile Szene wird untermal von meinem dummen Herz, -bumbum bumbum bumbum - das wieder einmal viel zu schnell schlägt.

Chris beendet nicht das Frühstück mit uns und verlässt noch vor mir die Wohnung. Ich packe derweilen meine Sporttasche und mache mich überpünktlich auf den Weg zum Ballettstudio, denn dort steht mir heute noch ein unangenehmes Wiedersehen bevor.

Das Ballettstück, für den Auftritt im Sommer, wird nämlich von allen drei Ballettstudios in Seattle gemeinsam aufgeführt und da kommt dann mein Exfreund ins Spiel. Keine Ahnung wann das war, dass ich ihn geliebt habe, denn nach unserer Trennung hat er mir das Leben zur Hölle gemacht. Es ging so weit, dass einer von uns das Ballettstudio verlassen musste. Er war es, der gegangen ist, denn er war es auch, der mich in meine Essstörung getrieben hat. Ich lege also ziemlich wenig wert auf seine Anwesenheit, aber ich werde sie nicht vermeiden können.

Ich bin froh, dass die Umkleide noch nicht sonderlich voll ist. Heute tummeln sich mehr Jungen dort als sonst. Die Tänzer bei uns tragen schwarze Hosen und weiße Oberteile. Die Tänzer vom Ballettstudio an der Stadtgrenze tragen ganz weiß und die Tänzerinnen rosa und das meines Exfreundes hat ihre Tänzer ganz in schwarz gekleidet. Von ihnen ist noch keiner da. Gott sei Dank.

Doch nach dem Warmmachen sehe ich ihn. Er kommt direkt auf mich zu. „Nicolai", sagt er geradezu freundlich. „Julien." Er mustert mich von oben bis unten. „Gut siehst du aus...hast zugenommen, oder?" Nein, ich lasse mich von ihm nicht wieder manipulieren. Ich höre einfach weg und bringe etwas Abstand zwischen uns.

„Ruhe, bitte! Ich bitte um Ruhe!", ruft eine unsere Tanzlehrerinnen Madame Cortes und urplötzlich herrscht Stille unter den gut 40 Tänzern.

„Es freut mich, dass wir heute alle hier sind, um das Training und die anschließende Auswahl, für den so wichtigen Auftritt für viele von Ihnen, zu beginnen. Sie alle haben in den letzten Monaten schon intensiv an der Choreografie gearbeitet und es ist mir eine Freude, Ihnen heute eine ganz besondere Person vorzustellen. Er und sein Team werden Sie in den nächsten Wochen und Monaten begleiten und eine ganze besondere Choreografie mit Ihnen auf die Beine stellen. Etwas, dass die Ballettwelt noch nie gesehen hat. Ich bitte um einen herzlichen Applaus für Patrick Nebresco."

Der Applaus ist verhalten, denn ich bin nicht der Einzige, der mehr als irritiert ist. Sogar Julien neben mir steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Dann betritt Mr. Nebresco den Tanzsaal und ich traue meinen Augen nicht, das ist doch nicht ...

Baumkronenschüchternheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt