Der Zweck heiligt die Mittel

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Die drei Wochen bis zum nächsten Entscheid - den über die wenigen Hauptrollen - vergehen wie im Flug.

Am Freitag vorher gehen wir abends mit Kate und Luke aus. Ein Doppeldate sozusagen. Doch ich bekomme die beiden nicht oft zu
Gesicht, denn ich habe nur Augen für Chris. Seine Hand ruht gefühlt den ganzen Abend auf meiner Hüfte. Wir tanzen und lachen und auch, wenn ich mir beim Tanzen nicht gerne Vorschriften machen lasse, überlasse ich Chris den ganzen Abend die Führung.

Ich fühle mich sicher in seinen Armen. Niemand wagt es mich auch nur schräg anzugucken. Auf den Toiletten zieht er mich dann plötzlich in eine Kabine, nur um sich über mein enges Oberteil aufzuregen, welches er selbst ausgesucht hat, bevor wir eine Nummer schieben. Sowas habe ich nie zuvor gemacht. Es ist aufregend, aber lieber habe ich Chris in meinem Bett.

Ich mag es wenn die Leidenschaft uns überkommt, wenn wir uns im Ballettstudio mit unseren Blicken ausziehen und dann zuhause nicht schnell genug aus den Klamotten kommen.

Außerdem liebe ich es, wenn wir im Bett liegen und meine Lippen schon wund vom küssen sind und wir uns gegenseitig streicheln und er die liebsten Dinge zu mir sagt. Komplimente, die ich endlich annehmen und akzeptieren kann.

Am Sonntag bin ich sehr nervös, aber ich weiß, dass ich bereits eine größere Rolle tanze und das wahrscheinlich für die Aufnahme für die Dance Academy reicht, aber eine Hauptrolle wäre natürlich ein Traum.

Der Rahmen in dem wir vortanzen ist dieses mal kleiner. Nur jeweils zehn Jungen und Mädchen haben sich qualifiziert. Aber kaum, dass die Juroren den Raum beteten, ist die Anspannung wieder da. Ein Kribbeln im Bauch. Nicht so eins, das ich habe, wenn ich an Chris denke. Ein unangenehmes, welches Übelkeit verursacht.

Ich gehe zu Charlotte meiner Tanzpartnerin und sie nickt mir aufmunternd zu, bevor die Musik einsetzt und wir zu tanzen beginnen. Ich lasse sie gut aussehen, das ist mein Job und so habe ich den Kuss auf die Wange, als sie tatsächlich eine Hauptrolle ergattert auch mehr als verdient.

Dann Herzklopfen. Hat es auch für mich gereicht? Doch ich höre nur den Pulsschlag, der in meinen Ohren rauscht und dann sehe ich Chris, der mich in die Arme schließt. Das Rauschen lässt nur langsam nach. „Du hast es geschafft", jubelt Chris neben mir. Ich bin völlig perplex und begreife es erst, als ich in die lächelnden Gesichter der Juroren blicke und dann in das hasserfüllte Gesicht von Julien. Ich schüttele seinen Blick ab. Ich darf mir das jetzt nicht von ihm kaputt machen lassen.

„Wir treffen uns draußen und dann gehen wir zur Feier des Tages aus, okay?", flüstert Chris. „Okay, ich beeile mich." In Windeseile stürme ich in die Umkleide und gehe nur für eine Katzenwäsche unter die Dusche.

Eigentlich würde ich den Moment auskosten und ihn nochmal Revue passieren lassen, während das warme Wasser in meinen Nacken prasselt, aber jetzt will ich nur schnell zu Chris. Doch ich habe meine Rechnung ohne Julien gemacht. Dieser glaubt anscheine, dass wir noch eine offen haben.

„Na, das hast du ja schön hingekriegt", sagt er, während ich mein Zeug in die Sporttasche stopfe. „Danke, das finde ich auch." Er kann mich mal kreuzweise. „Hältst du jetzt eigentlich jedem den Arsch hin?" Kurz zucke ich zusammen, aber dann setze ich meinen Weg fort.

„Erst lässt du dich vom Hausmeister ficken und dann von Chris." Seine Worte stoßen auf taube Ohren. „Ich rede mit dir!", brüllt er durch den ganzen Flur. Kurz vor der Treppe drehe ich mich um. „Ich aber nicht mit dir."

Dann weiß ich nur noch, wie mein Herz eine Etage tiefer rutscht und sehe Juliens entsetztes Gesicht, seine Hand die nach mir greifen will, aber es ist zu spät. Die erste Stufe verfehlend, falle ich nach hinten und ich merke noch wie mein Ellenbogen hart auf die Treppe aufschlägt, bevor alles schwarz wird.

Als ich die Augen wieder aufschlage, sehe ich in das müde Gesicht von Tante Ruth. Ihr Kopf ruht auf den Händen, die sie auf einen Gehstock gestützt hat und sie hat die Augen geschlossen. „Wo bin ich?", krächze ich und langsam kommt meine Erinnerung wieder.

„Nicolai, endlich bist du wach", sagt Tante Ruth. Jetzt erscheint Ashley im Zimmer, die sich sofort auf mich stürzt. „Gott sei Dank geht es dir gut", schluchzt sie. „Aua, ganz so gut wohl nicht." Dann schaue ich in Chris braune Augen, der mit zwei Becher Kaffee hinter Ashley das Zimmer beteten hat. Er scheucht Ashley vom Bett und nimmt ihren Platz ein.

„Ich habe mir so Sorgen gemacht. Julien hat dich die Treppe runtergestoßen. Ich werde ihn-" „Nein Chris, das war ein Unfall." „Nein, hör auf. Ich will nichts von Baumkronen oder Schüchternheit hören. Du musst diesen Konflikt nicht austragen. Das werde ich für dich tun."

„Chris, ja wir hatten Streit, aber er hat mich nicht gestoßen. Okay? Ich schwöre das beim Leben meiner Familie." Er nickt. „Ich hatte so Angst um dich." Er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge und schluchzt. „Chris, geh nach Hause. Ich weiß, wie schwer es für dich ist hier zu sein." Er schüttelt den Kopf und greift nach meiner Hand. „Ich bleibe bei dir. Mit dir schaffe ich alles."

Zwei Tage später werde ich entlassen und ich kann es gar nicht abwarten endlich wieder zu tanzen und mich für den Auftritt vorzubereiten, schließlich drängt die Zeit. Auch in der Schule warten noch ein paar wichtige Prüfungen auf mich. Mein Tag ist also bis oben hin mit Terminen bespickt und so fällt es mir anfangs nicht auf, dass was mit meinem rechten Fuß nicht stimmt.

Nach einem Sprung schreie ich schließlich so laut auf, dass sich alle zu mir umdrehen. Aber ich kann so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben und schlucke nun vor dem Training unzählige Schmerztabletten und Tape meinen Fuß.

Chris streitet nicht mit mir darüber. Er sagt mir nur, dass er es für einen Fehler hält. Aber er hat auch noch nie für sein Ziel so hart gekämpft wie ich und wie sagt man so schön? Der Zweck heiligt die Mittel.

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