Totentanz

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In meinem Zimmer angekommen, verriegle ich die Tür und rutsche dann mit meinem Rücken an ihr herab. Erst höre ich noch Tonis Wehklagen eine Etage tiefer, bevor mein eigenes Schluchzen so laut wird und es übertönt.

Meine ganze Welt, alles für das ich lebe, soll in zwei Wochen einfach ausradiert werden. Mit dem Ärmel meiner Bluse wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

„Nicolai?", höre ich die Stimme meiner Mutter, gefolgt von einem Klopfen, an der Tür. „Geh weg", schluchze ich und ziehe die Nase hoch. Dann höre ich sie ganz deutlich auf der gleichen Höhe auf der anderen Seite der Tür. „Wir finden eine Lösung, da bin ich mir sicher."

„Gar nichts findet ihr. Ihr habt das einfach ohne uns entschieden." „Es tut mir leid, wir hätten das vorher mit euch besprechen müssen. Machst du die Tür auf?"

„Nein." „Okay, das ist okay. Ich habe dich lieb, Nicolai." Dann höre ich, wie sie vor der Tür wieder aufsteht. „Mama? Ich habe dich auch lieb." „Ich weiß, mein Schatz."

Ich schmeiße mich aufs Bett und nehme mein iPad. Dann mache ich eins meiner Lieblingsballettstücke Giselle auf YouTube an. Die Qualität ist mies, aber das ist im Moment egal.

Ich sehe zu, wie sich Giselle zu Tode tanzt. Vielleicht sollte ich genau dies tun. Sterben bei dem, was ich am liebsten tue. Aber ich fürchte so einfach werde ich nicht aus der Sache rauskommen.

Ich kann nicht verstehen, wie meinen Eltern meine Träume einfach egal sein können. Sie wissen ganz genau, dass ich seit Jahren daraufhin arbeite, an der Ballett-Dance-Academie hier in Seattle angenommen, und zu einem professionellen Balletttänzer ausgebildet zu werden.

Mich trennen nur noch ein paar Monate von meinem Schulabschluss und dem lebensverändernden Auftritt an der Ballettschule. Trennten! Ich sollte wohl in Zukunft den richtigen Terminus verwenden, denn meine Träume sind Geschichte, nur noch ein Teil meiner Vergangenheit.

Wenn ich jetzt mit meiner Familie an die Ostküste gehe, dann wirft mich das meilenweit zurück. Ich müsste mir ein neues Ballettstudio suchen und dann ganz regulär am Auswahlverfahren der Akademie im Sommer teilnehmen. Ich würde einfach in der Masse untergehen.

Ich brauche diesen Auftritt von meinem Ballettstudio, denn jeder weiß, dass eine Großzahl der Tänzer sich so für eine Ausbildung qualifizieren.

Meine Gedanken drehen sich nur im Kreise. Ich fühle mich hilflos und unfähig etwas an der Situation zu ändern. Total erschöpft schlafe ich schließlich ein und werde dann am Morgen unsanft von einem Hämmern gegen meine Tür geweckt.

„Nicolai, wach auf! Du musst zur Schule." Doch ich bleibe reglos auf meinem Bett liegen. Ich werde heute nirgendwo hingehen.

„Ich bleibe zuhause, mir geht es nicht gut", rufe ich nur und greife dann nach dem auf dem Nachtisch liegenden Handy. Ich schreibe Ashley, meiner besten, und so ziemlich einzigen, Freundin.

Ich bin gut in der Schule, was meine Mutter auch wohl veranlasst hat, keine Welle zu machen, weil ich heute blau mache. Obwohl es nicht gelogen ist, dass es mir schlecht geht. Doch ich hätte mich schon irgendwie zur Schule schleppen können.

Ich trage immer noch die schwarze Hose und die beigefarbene Bluse, mit den viel zu langen Ärmeln von gestern, als ich ins Bad schlurfe und auf Toni treffe. Er sieht genauso beschissen aus, wie ich mich fühle.

Wortlos kommt er auf mich zu und drückt mich. Das passiert nicht häufig. „Gehst du nicht zur Schule?", fragt er bei meinen Anblick.

„Nein, wozu?", frage ich und betrachte mich im Spiegel. So beschissen, wie ich aussehe, bekommt mich heute bestimmt keiner zu Gesicht. „Ich will meine Freunde sehen", sagt Toni nur und ich merke, wie er versucht dagegen anzukämpfen, dass die Tränen in seinen Augen hochsteigen, jedoch schließlich den Kampf verliert.

Dann stürmt er noch mit der Zahnpasta am Mund nach draußen, weil er nicht will, dass ich ihn so sehe. Er tut mir leid. Vielleicht verliert er was viel Wertvolleres als ich und trotzdem tue ich mir selbst am meisten Leid.

Als ich in mein Zimmer zurückkomme ist der Stapel Wäsche auf meinem Stuhl nicht mehr da, das Bett gemacht und das Fenster weit geöffnet. Ich sehe, wie mein Vater Toni zum Schulbus begleitet, obwohl das nicht nötig ist, denn dieser hält unmittelbar vor unserem Haus. Dann höre ich, wie die Haustür wieder ins Schloss fällt.

Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und genieße noch eine Weile meine Ruhe, denn ich weiß, dass ich heute noch das ein oder andere nervenaufreibende Gespräch führen werde.

Gegen Mittag schlurfe ich nach unten in die Küche. „Gut, dass du kommst. Deine Mutter und ich möchten mit dir reden", sagt mein Vater.

Wir haben eigentlich ein gutes Verhältnis, aber trotzdem ist es manchmal schwierig zwischen uns. Er kommt damit klar, dass ich „anders" bin, schließlich hat es sich nach und nach abgezeichnet, dass ich schwul bin und mich die meisten stereotypische Dinge nicht interessieren.

Er konnte sich also daran gewöhnen und musste nicht, von einen auf den anderen Tag, das Bild, was er von seinem Sohn hatte, revidieren.

„Ist gut", sage ich nur und nehme mir dann ein paar Himbeeren und einen Joghurt aus dem Kühlschrank, bevor ich mich zu ihnen an den Tisch setze.

Das Szenario vom Vorabend schießt mir durch den Kopf. Meine hilflosen Eltern mit zwei heulenden Teenagern. „Nicolai, wir können verstehen, dass die Situation gerade für dich nicht einfach ist."

„Was heißt gerade für mich?", fragte ich und kann den zickigen Unterton in meiner Stimme kaum unterdrücken. „Du bist fast volljährig und hast dir schon deinen Lebensplan zurechtgelegt."

„Ja, aber eure Pläne gehen ja vor. Warum kannst du nicht einfach deinen jetzigen Job behalten? Warum konntest du nicht wenigstens bis zum Ende des Schuljahrs warten?", frage ich in der Hoffnung, dass sie diese Option noch nicht in bestacht gezogen haben.

„Meine Firma schließt den Standpunkt hier in Seattle, deshalb wurde ich an die Ostküste versetzt", sagt mein Vater. „Konntest du dir nicht hier einen neuen Job suchen?"

„Nicolai, du stellst dir alles immer so einfach vor." Ich merke wieder, wie ich richtig wütend werde und sich meine Augen mit Tränen füllen.

„Wenn du auch nur ein Tag  ich wärst, wüsstest du, dass nichts einfach für mich ist." Ich kann die Träne, die mir über die Wange läuft, gar nicht schnell genug wegwischen. Jetzt sieht mich meine Mutter wieder mit diesem mitleidigen Blick an, den ich nicht ausstehen kann.

„Das wissen wir, mein Schatz und deshalb haben dein Vater und ich auch nochmal gesprochen." „Heißt das, wir bleiben hier?"

„Nein, Nicolai. Du bleibst hier."

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