Völlig fertig lehne ich an den kalten Fliesen des Treppenhauses und Chris gibt schließlich meinen Finger wieder frei. Gleich werde ich einfach verdampfen, so heiß bin ich. „Guck, da ist er", sagt Chris, zeigt auf meinen Finger und versucht den Splitter dann rauszuziehen. „Mist, jetzt ist er abgebrochen." Ich rolle mit den Augen. „Ich sag's ja, voll mein Tag."
„Ach, jetzt komm. Lass uns erstmal die Sachen hochbringen und dann kümmere ich mich um deinen Finger." Zwanzig Minuten später liegen die Bettteile in unserem Zimmer und wir sitzen im Badezimmer und Chris stochert mit einer Nadel in meinem Finger herum. Seine Zunge war mir da irgendwie lieber. „Aua." Ich ziehe den Finger weg, aber Chris greift wieder nach meiner Hand. „Hab dich nicht so."
Endlich hat er den Splitter aus meinem Finger befreit und ich atme erleichtert aus. Er streicht die Haare aus meiner Stirn und gibt dann einen Kuss darauf. „Du warst sehr tapfer und jetzt zieh deine Bluse aus." „Ähm, bitte was?" Ich springe auf und weiche zurück, als er an meine Knopfleiste greifen will. „Hast du schonmal einen Knopf angenäht?" „Oh." „Das dachte ich mir."
„Ich wechsele eben die Bluse", sage ich schon im Gehen.Als Chris schließlich hinter mir ins Zimmer kommt, rutscht schon der Stoff des Pullis über meinen Rücken. Ich habe es nicht so mit Freizügigkeit, so wie er. Er nimmt die Bluse entgegen und legt sie auf sein Bett, bevor wir uns daran machen mein Bett aufzubauen.
Glücklicherweise war das fehlende Teil nur eine Zierleiste und so lasse ich mich erleichtert auf mein Bett fallen, als plötzlich mein Handy klingelt. „Hallo Mama, wie geht es euch?", nehme ich den Anruf entgegen. Chris verlässt mit meiner Bluse in der Hand das Zimmer, wofür ich ihm sehr dankbar bin. „Gut, ein wenig kaputt, aber wir sind jetzt im Haus und der Umzugswagen ist tatsächlich auch schon da." „Wie geht es Toni?" „Er ist glücklich mit seinem riesigen Zimmer, aber er vermisst natürlich seine Freunde und dich."
„Ich vermisse euch auch", schluchze ich in den Hörer. „Toni sagt, dass du ihm versprochen hast, ihn vor dem Sommer zu holen?" „Ja, das habe ich." „Schaffst du das denn mit dem Geld? Für uns ist das finanziell nämlich momentan nicht möglich." „Mach dir darüber keine Sorgen. Ich bekomme das hin." „Nicolai, ich wusste, dass du es schaffst auf eigenen Beinen zu stehen. Mein großer Junge."
Von mir kommt als Antwort nur ein Riesenschluchzer. Natürlich kommt in dem Moment wieder Chris ins Zimmer. „Nicht weinen, Nicolai", sagt meine Mutter. „Ich weine nicht, meine Augen schwitzen nur. Ich habe euch lieb." „Wir dich auch. Wir sprechen morgen."
Ich werfe das Handy aufs Bett und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. „Keine abfällige Bemerkung über die Mimose, die nach seiner Mami weint?", frage ich Chris. „Nein, nichts geht über die Familie", sagt er nur und reicht mir die Bluse, bevor er es sich wieder mit dem Buch auf dem Bett bequem macht.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Die ganze Aktion mit dem Bett hat soviel Zeit gekostet, dass ich das Training heute vergessen kann. Dafür muss ich nächste Woche dann aber alles geben, denn wir nähern uns der heißen Phase für die Abschlusspräsentation. Die Nacht kommt schneller als erwartet und ich liege mal wieder wach, weil Chris schnarcht.
Gerne würde ich ihm einfach ein Kissen ins Gesicht drücken. Meine Uhr zeigt kurz nach Mitternacht an und so hole ich die Schachtel unter dem Bett hervor und öffne sie. Ein Schokomuffin mit einer Kerze drin, daneben ein Feuerzeug. Ich zünde die Kerze an und schaue eine Weile zu, wie sie runterbrennt. Dann puste ich sie aus. „Happy birthday, Nicolai." Ich fühle mich wie Harry Potter an seinem 11. Geburtstag, nur ohne den Teil mit dem Riesen. Naja, dafür habe ich ja den schnarchenden Typen.
Ich packe das Geschenk aus; ein Flakon Chanel No 5, mein Lieblingsduft. Plötzlich merke ich, dass irgendwas anders ist. Das Schnarchen ist verstummt und ich zucke zusammen, als Chris plötzlich seine Stimme erhebt.
„Was stinkt hier so? Fackelst du hier rum?" Dann höre ich seine Schritte näher kommen und er steht plötzlich vor meinem Bett und betrachtet den Muffin und das Geschenk. „Was wird das hier?" „Heute ist mein 18. Geburtstag." Keine Ahnung, warum er nichts antwortet, sondern nur dasteht und mich anglotzt.
„Dann hast du den Vertrag mit 17 unterschrieben. Also ist er gar nicht gültig."
Das ist das Einzige, was er sagt, dann verschwindet er nach draußen. Als er kurze Zeit später wiederkommt, habe ich mich schon mit dem Gesicht zur Wand gedreht und tue so als würde ich schlafen. Ich kann es nicht fassen. Ich bin gerade volljährig und werde ab morgen obdachlos sein.
Als mein Wecker am nächsten Morgen klingelt, schläft Chris noch friedlich. Keine Ahnung, ob er 'nen Job hat, oder so. Aber ich will nur schnell weg von ihm, vielleicht vergisst er den nächtlichen Vorfall ja, wenn er mich eine Weile nicht sieht. Im Bad herrscht Hochbetrieb und ich kann gerade so noch Mascara auftragen, bevor ich Luke ins Bad lassen muss.
In der Schule angekommen stürzt sich Ashley sofort auf mich. Sie schenkt mir eine coole Strickjacke mit Blümchenmuster und Perlmuttknöpfen. Danach erzähle ich ihr die ganze Scheiße mit dem Zimmer und Chris.
„Naja, gibt Schlimmeres, als 'nen heißen Typen in deinem Zimmer, oder? Wann lerne ich Luke kennen?" „Warte erstmal, ob ich dort, nach heute, noch wohnen bleiben kann. Dann wirst du ihn schon noch kennenlernen."
Nach der Schule und dem Telefonat mit meinen Eltern mache ich mich auf zum Ballettstudio. Das ist für mich, wie nachhause kommen, denn hier habe ich den Großteil meines Lebens verbracht. Es ist ein bisschen wie Familie. Eine, mit der man nicht so viel spricht, denn während des Trainings darf natürlich nicht gesprochen werden.
Aber nach dem Training gehen wir gerne ab und zu in ein Café. In meinem Kurs sind elf Mädchen und vier Jungen, inklusive mir. Von denen hat heute aber leider keiner Zeit und da ich es nicht eilig habe, trödele ich ziemlich rum, bis ich schließlich alleine in der Umkleide bin. Aber das bleibe ich nicht lange, denn unser Hausmeister gesellt sich zu mir.
Ein Typ Anfang 40, mit Sonnenbankbräune und Tattoos und einem Vorstrafenverzeichnis, das wahrscheinlich länger ist, als die Liste der Wörter, mit denen ich täglich beschimpft werde.
Er ist da etwas anders, denn er hat mich noch nicht ein Mal beschimpft, aber vielleicht wäre mir das sogar lieber.
Jedes Mal betrachtet er mich mit diesem lüsternen Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Ein Tutu würde deinen Hintern noch besser zur Geltung bringen", sagt er nun. Ich weiß, ich sollte das melden. Es ist nicht okay, dass er sowas sagt. Es ist sexuelle Belästigung, aber wir alle ignorieren seine Sprüche.
Leider hat er es besonders auf mich abgesehen und das auch noch heute an meinem Geburtstag. Aber ich lasse seinen Spruch unkommentiert und sehe zu, dass ich Land gewinne. Wie gerne ich jetzt nachhause zu meinen Eltern fahren würde, aber auf mich wartet im besten Fall mein verwaistes WG-Zimmer. Im schlechtesten Fall lande ich heute nämlich auf der Straße.
Als ich die Wohnung betrete merke ich sofort das was nicht stimmt, denn Luke und Kate stehen beide im Türrahmen zur Küche. „Nicolai, wir haben mit Chris geredet", sagt Kate ernst.
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Baumkronenschüchternheit
RomanceAchtung! Diese Geschichte wird überarbeitet! „Ich will dir nicht wehtun", flüstert er. „Ich weiß doch längst, dass du es tun wirst. Ich habe mich schon darauf vorbereitet. Also warum vorher nicht ein bisschen glücklich sein?" Der 17-jährige Nicolai...