Ich drehte mich verwirrt um. Ich hätte geglaubt, diese Stimme in meinem Leben nie wieder zu hören. "James, bist du es wirklich?", stotterte sie. Ich hatte diese Stimme so lange nicht mehr gehört, und trotzdem hätte ich sie unter Tausenden wiedererkannt. Ich blickte in jene saphirblauen Augen, welche ich sonst immer nur in Schwarz-Weiß beobachtete. Meine Kehle zog sich zu. Ich begann zu stammeln. "L-l-laurel?"
Die Tränen stiegen mir in die Augen, als ich einen Schritt auf sie zu ging und meine Arme regelrecht um sie herum warf. Ich war fassungslos- Im positiven Sinne. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was gerade passierte. Und um ehrlich zu sein, war es mir auch egal. Ich spürte ihre Nähe das erste Mal seit einer Ewigkeit. Spürte ihre Wärme, roch den Geruch ihrer Haare. Nach einer, mir nicht zu definierenden Zeit öffnete ich die Umarmung. Ich blickte auf ihr wunderschönes Gesicht. Es war in echt noch viel schöner als auf der Fotografie. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter, welche ich mit einem Finger auffing. Ich umarmte sie erneut. "Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.", flüsterte ich. "Ging mir nicht anders. Ich dachte, du wärst tot.", sagte sie. Ich blickte sie an. "Wie bitte?" Meine Stirn legte sich in Falten. "Wie kamst du darauf?", fragte ich verwirrt. "Deine Briefe..." Sie stockte kurz. "Sie blieben irgendwann einfach aus. Und dann, einige Wochen später... kam ein Kondolenzschreiben. Es hieß du seist getötet worden.", sagte sie, während eine weitere Träne ihre Wange herunterrollte. Ich führte sie zu einer nahegelegenen Bank. "Ich bin zusammengebrochen. Mit einem Mal fühlte sich alles so fremd an. Ich konnte keine Sekunde länger in unserem Apartment verbringen. Ich musste einfach von dort weg. Zu viele Erinnerungen, welche mich an dich erinnerten. Mir blieb nichts anderes als die Flucht. Ich sammelte das Nötigste zusammen und verließ das Haus. Plötzlich habe ich mich eine halbe Stunde später auf einer Fähre nach Calais wiedergefunden. Ich konnte die Luft dieser Stadt nicht mehr ohne dich atmen." Ich schwieg und griff nach ihrer Hand. Ich verstand ihre Worte und trotzdem konnte ich sie nicht begreifen. Warum schickt man ihr ein Kondolenzschreiben und warum beendete man den Briefverkehr zwischen uns?
Wir saßen da. Wir beobachteten die immer weiter untergehende Sonne. Ich hielt ihre Hand. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter. Auch wenn ich so glücklich wie lange nicht mehr war, fühlte ich mich auch unwohl. Ich wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Dann fiel mir plötzlich der Zettel wieder ein. "Was hast du hier eigentlich gemacht?", fragte ich sie. Sie blickte mich an. Dann griff sie in die Tasche ihres Mantels. Mein Herz blieb kurz stehen, als ich jenen Zettel sah, welchen ich selbst noch vor einiger Zeit in Händen hielt. Er hatte die exakt gleiche Farbe und Größe wie der meine. "Ich habe diese Nachricht hier erhalten.", sagte sie, während sie ihn mir zeigte. Auf ihm stand auch beinahe der gleiche Text wie auf meinem. Auch die Handschrift war identisch. "Wie kommt es überhaupt, dass du in Frankreich bist?", fragte mich Laurel und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich weiß nicht warum, aber ich musste schmunzeln. "Das ist eine lange Geschichte."
Ich begann also zu erzählen. Von Anfang an. Meine Zeit im Armeelager, meine Rekrutierung zu Pillar, Crowley, unserer Mission in Schottland und letztendlich Neron. Immer wieder unterbrach sie mich, da sie meinen Worten nicht ganz trauen konnte. Ich musste zugeben, dass sich das alles so im Nachhinein betrachtet doch sehr obskur anhören musste. Des Öfteren muss ich ihr beteuern, dass ich mir das nicht alles nur ausdachte. Es tat gut, mir das alles von der Seele zu reden. Irgendwann kam ich zu einem Ende. Ich war am heutigen Tag angelangt. Inzwischen war die Sonne komplett vom Firmament verschwunden. Ich lächelte. Ich war noch nie zuvor so glücklich gewesen, wie in diesem Moment. Trotz der anhaltenden Kälte der Nacht war mir warm. Und trotz des schwachen Lichts einer Laterne strahlten ihre Augen saphirblau. Auf ihrem Gesicht sah ich jenes wunderschöne Lächeln, welches ich all die Zeit vermisste.
Langsam näherte ich mein Kopf dem ihren. Sie schloss die Augen. Etwas aus der Übung küsste ich sie vorsichtig. Sie erwiderte den Kuss. Ich nahm ihre Hand. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter, ich meinen auf ihren. So saßen wir einfach nur da. Das erste Mal seit Ewigkeiten war mein Kopf leer. Keine der tausenden Fragen, welche mir zuvor Kopfschmerzen bereiteten, wagte es auch nur im Geringsten, ein Ton von sich zu geben. Keine Fragen. Kein Gedanke. Keine Erinnerung. Kein Schmerz.
Ich war einfach nur glücklich.
Irgendwann blickte ich auf meine Uhr. Es war kurz nach elf. Ganze sechs Stunden waren vergangen, ohne dass ich es mitbekam. Wir standen auf. Sie signalisierte mir, dass sie mit mir mitkommen möchte. Langsam gingen wir den schwach beleuchtenden Weg entlang. Wir verließen den Platz vor dem Eiffelturm und gingen die Hauptstraße entlang. Zumindest dachte ich, es wäre die Hauptstraße- Ich habe bis heute keine sonderlichen Kenntnisse über diese Stadt. Um diese Uhrzeit war nun aber wirklich keine Menschenseele mehr zu sehen. Wir gingen gemeinsam durch die ganzen Gassen und Straßen, durch welche ich noch wenige Stunden zuvor rannte. Erst jetzt nahm ich die Straßen dieser Stadt so richtig wahr.
Nach einer weiteren halben Stunde kamen wir letztendlich an meinem Hotel an. Wilde und Harker hatten mir am Empfang eine Nachricht hinterlassen, dass sie mit dem Abendbrot nicht auf mich gewartet hätten. Ich solle mich morgen bei ihnen melden, damit sie wissen, dass es mir gut geht. Ich nahm die Nachricht zur Kenntnis, aber interessieren tat sie mich wenig.
Laurel blieb die Nacht über bei mir.
Am nächsten Morgen wachte ich bereits früh auf. Sie hatte ihren Arm um mich gelegt, sodass ich mich weder bewegen wollte, noch konnte. Ich fuhr ihr mit meinen Händen durchs Haar. Wie sehr hatte ich das vermisst. Ich spürte ihre Haut auf meiner und es fühlte sich wie der Himmel auf Erden an. Ich blickte an die Decke. Es fühlte sich so unwirklich an. Konnte das alles echt sein? In all dem Unglück und Verderben der letzten Wochen schien mir das Schicksal diesmal wohlgesonnen zu sein. Zudem war mir wehmütig zumute. Ich wusste noch immer nicht, wie sich das alles zusammenfügen ließ. Wer hatte diese mysteriösen Zettel geschrieben? Wer beendete unseren Briefkontakt und was war der Sinn dahinter? Dazu mischten sich die Gefühle, welche ich damals hatte, als ich in dem leeren Apartment stand. Mein Leben hätte eine komplett andere Wendung genommen. Vielleicht hätte ich jetzt schon Kinder? Wer weiß das schon? All diese ungelebten Träume spielten sich vor meinen Augen ab. Ich musste schlucken, um an dem Kloß in meinem Hals nicht zu ersticken.
Und doch musste ich eingestehen, dass ich die letzten Wochen auf eine gewisse Art und Weise genossen hatte. Natürlich jagte ich von einer lebensgefährlichen Situation in die nächste, aber trotzdem erfüllte mich das in vielerlei Hinsicht. Ich beschützte mein Vaterland vor drohenden Gefahren und lernte Dinge, welche ich vorher für physisch unmöglich gehalten hätte. Und trotzdem war da dieser eine Mensch, mein Blick wanderte wieder zu Laurel, für den ich all das aufgeben würde. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf.
In dem Moment ertönte ein Klopfen von meiner Zimmertür. Vorsichtig versuchte ich Laurels Arm von mir zu lösen, ohne sie dabei aufzuwecken. Ich zog mir noch schnell etwas an, bevor ich mich zur Tür begab. Langsam öffnete ich die Tür. Ich erwartete Wilde oder Harker dahinter zu sehen, die ein Lebenszeichen von mir erwarteten. Doch es war etwas gänzlich anderes...
Auf der Schwelle der Tür lag ein weiterer Zettel.
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Three Pillars
AventuraDer junge Soldat James Davy staunt nicht schlecht, als er im März des Jahres 1882 zu seinem Vorgesetzten und persönlichen Helden Jonathan Peekhawk zitiert wird. Das britische Empire ist in Gefahr- und er soll helfen es zu retten! Zusammen mit dem da...