Es zogen einige Wochen ins Land. Die Spannungen zwischen Wilde und mir wurden sichtlich stärker. Nicht selten gerieten wir aneinander und debattierten heftig. Meist war es der Doktor, der jene Diskussionen stoppte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber er schien eine beruhigende Wirkung auf unseren hitzigen Schreiberling zu haben. Von Tag zu Tag bezweifelte ich immer mehr, dass wir auch nur eine Mission halbwegs unbeschadet überstehen würden.
Knapp anderthalb Monate nach der Szene in der Bibliothek wurden wir alle in das Büro von Sir Robert Caulfield zitiert. Zu diesem Treffen wären wir übrigens beinahe zu spät gekommen, da Wilde wie üblich seinen Rausch aus schlief und dadurch nicht aus dem Bett kam. Wir schafften es glücklicherweise ihn doch noch rechtzeitig halbwegs wach zu bekommen. Zu zwei Drittel nüchtern standen wir also dann mit keinerlei Verspätung im Büro von Sir Robert. Dieser beäugte Wilde scharf. „Freut mich, dass sie alle es, naja halbwegs munter hergeschafft haben", sagte er, erneut mit einem argwöhnischen Blick Richtung Wilde. „Ich habe ein wenig mit ihrem Ausbilder korrespondiert. Mr. Smith scheint überaus zufrieden mit ihnen zu sein- abgesehen von ihrem Gruppenklima. Sie scheinen noch nicht wirklich gut zu harmonieren", meinte er. Wir schwiegen leicht betreten. Es war, als ob wir alle spontan zu Schuljungen mutierten und von dem Lehrer ausgeschimpft werden. Er fuhr fort: „Nun denn, Praxis schweißt wohl bekanntlich am meisten zusammen. Ihre erste Mission steht an! Sie wird vermutlich nicht wirklich anspruchsvoll, doch es gibt ihnen einen Eindruck, wie sie als Team funktionieren müssen." Noch immer schwiegen wir. Hunderte Gedanken flackerten in meinem Kopf. „Wie sollten wir das machen? Wilde und ich auf einer Mission, das kann nicht gut gehen!", dachte ich mir. So wie ich es Harkers Blick entnehmen konnte, dachte er genau das Gleiche. „Was sollen wir machen?", fragte Wilde. Wie von Zauberhand schien der Mann wieder nüchtern zu sein. „Sie werden nach Schottland reisen! Um genau zu sein nach Edinburgh." „Und was sollen wir da?", bohrte er, ja beinahe trotzig nach. Unser Außenminister trifft sich in 5 Tagen mit einem Vertreter einer politischen Bewegung in Schottland. Dieses Treffen soll die unklaren Verhältnisse zwischen der schottischen Bevölkerung und Großbritannien klären. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Schotten immer noch nach Unabhängigkeit streben. Dieses Treffen könnte einen Bürgerkrieg zwischen der schottischen und der englischen Bevölkerung verhindern. Ihre Aufgabe wird es sein, den Minister zu begleiten und für seine Sicherheit zu sorgen." „Babysitter- Wir sollen den Babysitter spielen? Sie degradieren uns ernsthaft zu... Babysittern?", rief Wilde nun empört. Auch wenn ich es nicht laut sagte, war ich etwas empört. „Sie müssen das verstehen, Mr Wilde. Wir können sie nicht in einen tödlichen Einsatz schicken, da sie weder die Praxiserfahrung, die Routine geschweige denn überhaupt miteinander auskommen. Ja, sie werden den Babysitter spielen müssen! Aber darf ich sie daran erinnern, warum sie hier sind? Sie stellen keine Bedingungen, das mache einzig und allein ich! Ich bin derjenige, welcher sagt, was sie zu tun und zu lassen haben und ganz sicher nicht sie, Mr Wilde", sagte er wütend. Wilde schwieg. Er rümpfte wütend die Nase. Sein Kopf nahm eine rötliche Farbe an, man sah ihm gerade zu an, wie es hinter seiner Stirn brodelte. Mit etwas ruhiger Stimme fuhr Sir Caulfield fort: „Also gut, sie werden bereits morgen abreisen. Ihr Zug fährt um 6 Uhr ab Kings Cross direkt nach Edinburgh- und damit meine ich 6 Uhr früh, Wilde."
Pünktlich verließ der Zug am folgenden Tag den Bahnhof Kings Cross, im Gepäck hatten wir eine Menge Müdigkeit und einen schlecht gelaunten Oscar Wilde. „Dieser verfluchte Caulfield, wer glaubt er, dass er ist? Schickt uns zu dieser gottlosen Uhrzeit nach Schottland, um den Babysitter für seinen Diplomaten zu spielen. Sind denen ihre Männer für diesen überflüssigen Job ausgegangen?", machte Wilde seiner Wut Luft. „Sie können es sowieso nicht ändern, Wilde. Ich sehe das genauso wie sie, aber es bringt absolut gar nichts, sich aufzuregen!", sagte ich ihm. Er schwieg. Zu der eintretenden Stille mischte sich das leise Rattern des Zuges. „Wissen sie was, Davy? Sie haben recht", meinte Wilde geradezu freundlich. Ich musste mich zweimal vergewissern, dass ich ihn wirklich richtig verstanden hatte. Er hatte mir tatsächlich recht gegeben. „Ich hab ehrlich gesagt auch nichts gegen einen kleinen Urlaub, bezahlt von Victoria. Was soll schon großartig passieren, richtig?", schmunzelte er. „Kommen sie, Davy, lassen sie uns gucken, was das Bordrestaurant so hergibt. Ich habe Hunger!", sagte er motiviert. „Eine fantastische Idee, Wilde!"
Die mehrstündige Fahrt verflog rasant. Nach ich mir mit Wilde ein reichhaltiges Frühstück genehmigte, holte ich meinen verpassten Schlaf nach. Erstaunlicherweise schlief ich zum beinahe melodischen Rattern des Zuges ziemlich schnell in einen tiefen, aber traumlosen Schlaf. Mehrere Stunden später wurde ich von dem Quietschen der Bremsen geweckt. Ich hatte tatsächlich die gesamte Fahrt über geschlafen. Wir nahmen unser leichtes Gepäck und betraten zu viert den Bahnhof von Edinburgh. Caulfield hatte uns wohl einen ortskundigen Führer für unseren Aufenthalt bestellt, welcher nun irgendwo auf uns warten sollte. Nur gab es dabei ein kleines Problem- Wir kannten uns am Bahnhof Edinburgh nicht aus. Wir liefen also ein wenig unbeholfen durch das Bahnhofsgebäude und den dazugehörigen Vorhof. Nach einer 10-minütigen Odyssee entdeckten wir endlich einen Mann, welcher ein Schild mit meinem Namen hochhielt. Wir gingen auf ihn zu. Der athletische blonde Mann begrüßte uns. „Sie müssen die Herren sein, welche mir von Mr Caulfield angekündigt wurden", sagte er zu uns freundlich. Er hatte einen leichten schottischen Akzent, welcher ihn um ehrlich zu sein noch ein wenig sympathischer schienen ließ. „Sir Caulfield, darauf legt der alte Griesgram großen Wert", strahlte Wilde ihn mit dem wohl sarkastischsten Lächeln an, welches ich je gesehen habe. Irritiert machte der Mann einfach weiter: „O...okay. Mein Name ist Scott McFarlane, sie können mich aber gerne Scottie nennen." „Freut mich, James Davy!", begrüßte ich ihn und gab ihm die Hand. "Der vorlaute Herr zu meiner rechten ist Mr. Oscar Wilde, zu meiner linken Dr. Elias Harker. Und dies ist die Person, wegen der wir überhaupt hier alle zusammen treffen. Der Secretary of State for Foreign Affairs, Joseph Burnwood." Burnwood rümpfte die Nase. Unsicher antwortete Scottie: "S...schön sie alle kennenzulernen." "Würden sie die Güte haben uns zu unserem Hotel zu führen, Mr McFarlane? Dies ist schließlich die Aufgabe, derer Sir Robert sie eingestellt hat", sagte der Minister ungeduldig. Scottie wirkte nun noch irritierter. "Bitte?", meinte er nun nachdrücklich. "S...selbstverständlich, Mr. Außenminister, Sir", stotterte er. Wilde, Harker und ich tauschten verwirrte Blicke aus. Langsam setzte sich unsere kleine Gruppe in Bewegung. Scottie nahm den Koffer von Burnwood, während wir drei unser Gepäck selbst griffen. Der Weg zum Hotel dauerte rund 20 Minuten, auf welcher Burnwood die ganze Zeit zeterte. Ich muss sagen, dass mir dieser Mann bereits in der kurzen Zeit nerviger vorkam als Wilde. Vor allem hatte Scottie unter der Art des Außenministers zu leiden. Er tat mir ehrlich gesagt doch relativ leid. Er sah relativ erleichtert aus, als wir endlich am Hotel ankamen und Burnwood mit seinem Koffer zügig zur Rezeption eilte. Wer konnte es ihm verdenken? "Interessanter Mann, ihr Secretary of State", sagte Scottie. "Er ist etwas harsch, wenn er gestresst ist. Es steht eine Menge auf dem Spiel. Machen Sie sich nichts draus, Scottie. Hier, das ist für sie!", sagte ich zu ihm und drückte ihm eine Pfundnote in die Hand. "D...das kann ich nicht annehmen, Sir", stotterte er. "Doch, können sie. Sie können sich das Sir übrigens auch sparen, Scottie", sagte ich freundlich. Auf seinem Gesicht entstand etwas, was man als leichtes Lächeln entziffern konnte. "Vielen Dank, Si- Mr. Davy. Das ist wirklich sehr großzügig von ihnen. Ich würde sie übrigens morgen um 11 Uhr hier abholen und dann zu besagter Adresse fahren, welche mir Sir Caulfield in seinem Telegramm nannte", sagte er. "Hervorragend, ich danke ihnen." Daraufhin verabschiedete sich Scottie und verschwand kurzerhand in dem Geflecht der Edinburgher Straßen und Gassen. "Was ein aufgeweckter junger Mann", sagte ich. "Interesse Davy? Wir werden ihnen sicher nicht im Wege stehen", schmunzelte Wilde. "Ich bitte sie, Wilde. Mäßigen Sie sich", sagte ich empört. Wildes Lächeln wurde breiter. Er lachte leise in sich hinein.
Den Rest des Tages verbrachten wir in unseren Zimmern. Meine Gedanken schienen mich erdrücken zu wollen. Ich machte mir Gedanken um unsere Truppe. Ich hatte ein ungutes Gefühl, eine Art Vorahnung, dass es nicht so verlaufen würde, die geplant. Dass es nicht so simpel werden würde, wie es Caulfield geplant hatte. Während ich dort auf dem Bett lag, zog langsam ein Gewitter auf. Der Regen peitschte gegen mein Fenster. Über wenige Minuten entwickelte sich das leichte Gewitter in einen regelrechten Sturm. Ich beobachtete das Spektakel der Natur von meinem Bett aus. Der immer dunkler werdende Himmel wurde von Blitzen taghell erleuchtet. Es war ein atemberaubendes Naturschauspiel. Knapp eine Stunde lag ich da und schaute der Natur dabei zu, ihre Macht über die Menschen zu demonstrieren. Es half mir, meine Gedanken wenigstens halbwegs zu vergessen. Nach dem Abendessen blieben Dr. Harker und ich noch wie gewohnt in den Ohrensesseln sitzen, welche um den Kamin des Hotels angeordnet waren. Mit einem Glas Brandy in der Hand beobachteten wir das Flackern der Flammen, hörten dem Knistern des Feuers zu und lauschten dem Peitschen des Regens gegen die Fenster.

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Three Pillars
AventuraDer junge Soldat James Davy staunt nicht schlecht, als er im März des Jahres 1882 zu seinem Vorgesetzten und persönlichen Helden Jonathan Peekhawk zitiert wird. Das britische Empire ist in Gefahr- und er soll helfen es zu retten! Zusammen mit dem da...