Die nächsten Wochen verliefen äußerst trostlos. Tag ein, Tag aus waren wir mit der geheimdienstlichen Ausbildung beschäftigt. An einem Tag wurden meine rudimentären Kenntnisse in Chemie entstaubt, ein anderes Mal bekamen wir einen groben Rückblick über die frühere Geschichte des britischen Reichs- sowohl Inland als auch in den verschiedenen Kolonien. Etwas interessanter für mich waren allerdings die physischen Fortbildungen. Ob es nun das Stockfechten oder doch das anstrengende Ausdauertraining war- Ich übertrumpfte meine neuen Mitstreiter in jeder Disziplin.
Doch ungeachtet dessen konnte ich am meisten über meine neuen „Freunde" lernen.
Oscar Wilde war genau das, was sein äußerer Eindruck bereits zu scheinen ließ- ein Dandy wie es im Buche steht. Exzentrisch, extravagant und nie darum verlegen, alles und jeden kommentieren zu müssen. Zwar war seine durchweg sarkastische Art relativ erfrischend, doch ging mir sein gesamtes Auftreten nach wenigen Wochen auf die Nerven. Bei jedem angefangenen Thema erwarten zu können, dass man sich auf eine stundenlange Diskussion vorbereiten könne, ist auf Dauer wirklich nervtötend.
Dem konträr war Dr. Elias Harker. Schon im ersten Moment, wo ich ihn sah, hatte ich einen gewissen Respekt vor ihm. Jenes Gefühl wurde nicht nur bestätigt, sondern stieg sogar mit jedem Tag an. Er war ruhig, aber nie um eine Diskussion verlegen. Vor allem mit Wilde führte er das ein oder andere Mal hitzige Debatten, wobei er den exzentrischen Oscar mehr als nur einmal ins rhetorische Aus trieb. Besonders beeindruckend ist allerdings auch sein weit umfassendes Wissen in den Naturwissenschaften. Obwohl er nur Doktor der Medizin ist, sind seine Kenntnisse auch in der Physik und der Chemie mehr als nur beeindruckend. Auch darüber hinaus hatte er zwar seine strikten Prinzipien und eine klare Vorstellung von Werten und der Welt an sich, doch wirkte dies mehr angenehm, als dass es störte. Nicht selten verbrachten wir die Abende bei einem Glas Whiskey vor dem Kamin und philosophierten über die verschiedensten Dinge- insgeheim in der Hoffnung, dass Wilde seinen gewohnten Rausch ausschlief und unsere Unterhaltung dadurch nicht rapide beenden würde. Ich erfuhr eine Menge über diesen interessanten Mann und seine Lebensgeschichte. Er musste als Kind den gewaltsamen Tod seiner Mutter durch seinen Vater mit ansehen und floh daraufhin zuerst nach Österreich-Ungarn und später in die Schweiz. Er hatte bereits eine Menge Erfahrung gesammelt, was mich zutiefst beeindruckte.
Im Gegensatz dazu erfuhr ich so gut wie gar nichts über Wilde. Obwohl er sehr viel spricht, hielt er sich mit persönlichen Informationen doch ziemlich zurück. Zwar bin ich ein absoluter Laie auf dem Bereich der Psychoanalyse, doch machte er auf mich den Eindruck, ein sehr zerrütteter Charakter zu sein. Gehalten von der Fassade des Sarkasmus und der Selbstsicherheit. Trotz dessen ist Oscar Wilde ein wirklich interessanter Mann- Sein Wissen umfasst viele Bereiche und ist als mehr als umfassend zu bezeichnen. Zwar kann er Harker in den Naturwissenschaften nicht das Wasser reichen, doch zeigte er vor allem in den Literaturen und der Geschichte sein immenses Wissen. Auch in den physischen Disziplinen überraschte mich dieser eigentlich eher grazile Mann.
Eines Tages, nach einer der schier endlosen Trainingsstunden, verschlug mich mein Weg in die Bibliothek der Villa. Ich wollte mehr über diesen Mann erfahren. Ich durchkämmte die Regale, bis ich auch einmal auf einen leicht verstaubten Roman stieß. Auf dem Buchrücken waren die Initialen „O. Wilde" zu lesen. Langsam nahm ich das Buch aus dem Regal und blickte auf den Buchdeckel: „Das Bildnis des Dorian Gray". Ich setzte mich auf eine der Bänke, welche überall verstreut in der Bibliothek standen. Das Holz knarrte leicht, als ich mich setzte. In der kompletten Stille öffnete ich die erste Seite. „Starker Rosenduft durchströmte das Atelier, und als ein leichter Sommerwind die Bäume im Garten hin und her wiegte, kam durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders oder der feinere Duft des Rotdorns", las ich leise vor. Ich las weiter. So, dass ich nach wenigen Zeilen nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Ich verlor komplett das Gefühl über die Zeit. Leise blätterte ich durch das Buch und sog die bewegende Geschichte des Dorian Grays in mir auf.
Nach einiger Zeit durchbrach eine Stimme die anhaltende Stille. „Ich hoffe, es gefällt ihnen", sagte eine ruhige Stimme leise. Mir war der Schatten, welcher in das einfallende Licht der Tür getreten war, gar nicht aufgefallen. Das schulterlange Haar ergab eine interessante Silhouette am Boden der Bibliothek. „Wilde, woher wissen sie-?", fragte ich. Langsam trat er näher und sein Gesicht wurde langsam von meiner Laterne beleuchtet. „Ich bitte sie, Davy. Was sollten ausgerechnet sie hier in der Bibliothek zu suchen haben. In ihren schier endlosen Gesprächen mit dem Doktor müssten sie ja schon eine Menge von ihm erfahren haben. Da liegt es nahe, dass sie etwas über mich erfahren möchten. Und der erste Anlaufpunkt ist da natürlich die Bibliothek. Dabei stoßen sie auf meinen einzigen veröffentlichten Roman- und sind selbstverständlich direkt gefesselt von ihm", unterbrach er mich charmant lächelnd. „Ist das nicht ein wenig zu eingebildet?", fragte ich ihn. Er lächelte schmal. „Ich bin mir nur meiner Fähigkeiten im Klaren. Das ist ein Unterschied. Und wenn sie etwas über mich wissen wollen, dann fragen sie doch einfach. Direkt und nicht so indirekt, wie es des Öfteren bereits versuchten!", antwortete er. Ich hielt einen Moment inne. Ich blickte unauffällig ein paar Male zum Buch, dann wieder auf Wilde. „Wer sind sie? Sie sind ein fantastischer Autor, ja, aber wer steckt dahinter? Das was sie der Welt zeigen ist nur Fassade, da bin ich mir sicher. Was verheimlichen sie, Wilde? Wer ist Oscar Wilde?", schoss es auf einmal aus mir heraus. Dies mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit, dass ich mich wenige Momente später selbst über mich wunderte. Ich sah seine Augenbrauen kurz zusammenzucken. Er schmunzelte. „Wer ist Oscar Wilde? Eine wirklich schöne Frage. Aber fragen wir uns das nicht alle? Wer sind wir, wohin gehen wir, woher kommen wir?", sagte er. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Dorian Gray, hier exzentrischer Hauptcharakter, Wilde. Das ist doch keine ausgedachte Figur, das glaube ich ihnen nicht. Dafür sehe ich zu viele Parallelen", antwortete ich nachdrücklich. Er runzelte die Stirn, trotzdem noch weiter lächelnd. Er trat ein Stück auf mich zu und nahm sich das Buch aus meiner Hand. Er blätterte ein wenig darin herum, bevor er es zuschnappen ließ und mir demonstrativ vors Gesicht hielt. „Wissen sie, James Davy. Jeder Autor verewigt sich selbst in seinem Werk- ob in Figuren, Handlungen oder sogar auch Orten. Da bin ich keine Ausnahme. Ich bin verheiratet, habe 3 Kinder. Ja, ich bin exzentrisch. Ja, ich bin etwas sprunghaft. Aber mich mit Dorian zu vergleichen, ist doch etwas weit hergeholt?" Mein skeptischer Gesichtsausdruck verriet ihm, dass ich mit seiner Antwort nicht zufrieden war. „Wenn sie mir nicht glauben wollen, kann ich sie nicht davon abhalten", sagte er. Er legte das Buch in meine Hände und guckte mir dann tief in die Augen. „Aber wir sollten einander in unserer jetzigen Situation vertrauen, können wir das nicht, wird das sehr wahrscheinlich mit unser aller Ableben enden." Man konnte das Misstrauen auf beiden Seiten klar erkennen. „Sie werfen mir vor, dass ich sie nicht direkt frage, was ich wissen will, obwohl sie mir im gleichen Zug eine ebenso verworrene Antwort präsentieren. Und sie werfen mir vor, dass ich ihnen nicht vertraue, wenn sie mir nicht mal so weit vertrauen, mir eine direkte Antwort zu geben." „Viel Spaß noch mit dem Buch, Davy", sagte er nach einigen, äußerst angespannten Sekunden. Danach machte er einen Schritt zurück und verließ danach die Bibliothek. So hatte ich diesen Mann noch nicht erlebt. Ich schien wirklich einen wunden Punkt getroffen zu haben. Einen wunden Punkt, dem ich nur allzu gerne weiter nachgehen wollte.
Wer war Oscar Wilde und warum genau war er ein Teil unserer illustren Truppe? Ein Dandy, der es bereits in Ausbildungszeit schaffte, Spannung unter uns auszulösen. Seine Rolle war mir zu dem Zeitpunkt noch immer schleierhaft. Und auch Elias Harker. Was war seine Aufgabe? Warum wurde er rekrutiert? Und am Ende ich. Ein psychotischer, eigentlich doch ziemlich irrelevanter Army-Soldat. Warum genau wurden wir ausgewählt, wie kam es zur Zusammensetzung von Team-Pillar?
Der Doktor, der Dandy... Und ein Soldat.
![](https://img.wattpad.com/cover/296851575-288-k311591.jpg)
DU LIEST GERADE
Three Pillars
PertualanganDer junge Soldat James Davy staunt nicht schlecht, als er im März des Jahres 1882 zu seinem Vorgesetzten und persönlichen Helden Jonathan Peekhawk zitiert wird. Das britische Empire ist in Gefahr- und er soll helfen es zu retten! Zusammen mit dem da...