Freund oder Feind?

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Ich wachte am folgenden Tag ziemlich früh auf. Als ich aus meinem schmalen Fenster blickte, stand der Mond noch am Himmel und warf mir seinen silbrigen Schein ins Gesicht. Ich hatte die Nacht kaum ein Auge zugetan. Zu viel ging mir durch den Kopf. Der Sturm an Gedanken in meinem Kopf war schlichtweg zu laut. Erst dieses Treffen, was mir allein schon Kopfschmerzen bescherte, dann die Sache mit dem Bild und letztendlich dieser Mann. Allister Crowley spukte wie ein Phantom in meinem Kopf herum, sodass ich keinen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte. Ich blieb noch einen Moment liegen, versuchte Herr über meinen eigenen Kopf zu werden. Diese schreienden Gedanken in den Griff zu bekommen und zu strukturieren. Doch in diesem Moment überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, war schier unmöglich. Es vergangen einige Minuten, bis ich mich langsam aufrappelte. Ich streckte mich, bevor ich aufstand. Ich kleidete mich an. Danach griff ich nach der Taschenuhr meines Vaters. Ich drückte auf den Knopf, welcher den Deckel der Uhr aufschnappen lies und das Ziffernblatt freigab. Die Zeiger standen genau auf 5 Uhr. Mein Blick fiel auf die Fotografie, welche im Deckel der Uhr eingeklemmt war. Es war ein Familienfoto. Eine Frau mit einem Kind im Arm, etwas distanziert ein Mann im Frack. Zu dem Zeitpunkt konnte noch keiner ahnen, was für ein Schicksal ihnen bevorstand. Von dem Reichtum, welches dieses Bild ausstrahlte, würde kurz darauf nichts mehr zu erkennen sein. Aber diese Zeit ist lange nicht mehr. Die wenigen Erinnerungen verblassen Stück für Stück. Doch mich hält nichts mehr daran. Weder an meinen Vater, welcher kurz nach meiner Geburt verstarb, noch an meiner Mutter, die ein Jahr darauf aus Trauer starb. Ich ließ die Uhr zuschnappen. Ich verlies das Gebäude, um erneut einen Spaziergang zu unternehmen. Ich ging die gleiche Strecke wie am Abend zuvor. Gerade als ich an der kleinen Erhöhung ankam, an welcher ich Crowley am Vorabend begegnet war, erhob sich die Sonne über den Horizont. Es bot sich mir ein atemberaubendes Panorama. Ich konnte mir mein Lächeln nicht verkneifen, da ich letztendlich nun doch rechtbehielt. Auf die Nacht folgt wiederum der Tag. Das musste Ironie des Schicksals sein, dass ich genau zu jenem Zeitpunkt dort ankam. Ich beobachtete, wie die Sonne sich immer weiter empor erhob und mir von Sekunde zu Sekunde weitere Sonnenstrahlen das Gesicht benetzten. Es war angenehm, diese Wärme auf meiner Haut zu spüren. "Das ist magisch, Mr Crowley", sagte ich leise.

Ich ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen. Mein Blick blieb an einer kleinen Pappkarte hängen, welche halb im Boden vergraben war. Ich bückte mich und befreite sie von dem Dreck. Allein als ich die Initialen am unteren rechten Eck der Karte las, blieb mir das Herz für eine Sekunde stehen. Auf der Karte stand hervorgehoben: "Sie sind berechenbar, Davy. A. C." Mit einem Mal fühlte ich mich sehr unwohl. Nervös blickte ich mich um. Unfreiwillig hörte ich seine Stimme in meinem Kopf: "Sie müssen mit ihrer Entscheidung im Reinen sein." Das beängstigte mich, um ehrlich zu sein. Er hatte es geschafft mich zu manipulieren. Sich in meine Gedanken zu pflanzen. Und trotzdem hatte er recht. Nur ich konnte mein Schicksal in die Hand nehmen. Kein Sir Caulfield, kein Colonel Peekhawk dürfe das entscheiden. So stand ich dort. In mich versunken, abwägend was ich nun eigentlich wollte. Zugleich konnte ich noch immer diesen mysteriösen Allister Crowley nicht einschätzen. War er nun Freund oder Feind? Zum einen war er unheimlich, wie er Dinge schlussfolgerte oder meine Taten prophezeite. Zum anderen machte er einen eigenartig sympathischen Eindruck. Auch wenn seine Aussagen teils mehr als kryptisch waren, schafften sie es, mich noch Stunden später ins Grübeln zu bringen. Ich atmete tief durch. All diese Gedanken waren zu schrill, als dass ich ordentlich denken konnte. Die Sonne war nun vollends aufgegangen. Ich hörte bereits die Fanfaren aus dem Lager klingen. Ich musste mich langsam beeilen, nicht zu spät zum Morgenappell zu gelangen.

Das vormittägliche Training ließ ich über mich ergehen. Gegen Mittag wurde ich von Colonel Peekhawk angesprochen und zu ihm ins Büro zitiert. Diesmal war ich mit ihm allein im Raum. Ich musste zugeben, dass ich nun etwas angespannter war als am Vortag. "Zuallererst möchte ich mich bei ihnen entschuldigen, Mr Davy. Ich hatte sie gestern nicht angemessen behandelt. Man sollte in eine mögliche Zusammenarbeit nie mit einem ungelösten Disput gehen.", meinte der Colonel. Ich war einigermaßen überrascht. Auf mich machte Colonel Peekhawk nicht den Eindruck, als ob er sich nicht oft entschuldigen würde und viel öfter welche annehmen müsste. Verunsichert nahm ich seine Entschuldigung an. "Haben sie sich denn schon entschieden?", fragte er mich. Mir war klar, dass diese Frage kommen würde, und doch war ich immer noch unsicher. Ich schwieg. Er schwieg. Doch in meinem Kopf war es laut, unerträglich laut. Es schienen sich meine Gedanken regelrecht zu streiten. Ich versuchte Ordnung zu schaffen, was mir allerdings schwerlich gelang. "Ich kann sie verstehen, Davy. Wenn man nicht weiß, was man will. Doch die Zeit drängt. Caulfield muss reagieren, unser Land muss reagieren. Keiner würde ihnen einen Vorwurf machen, wenn sie ablehnen. Aber ich bin ehrlich zu ihnen, ich sehe in ihnen weit mehr als einen einfachen Soldaten. Sie könnten zu höherem bestimmt sein." Ich war erneut überrascht. Er schien ein Vertrauen in mich zu hegen, welches ich nicht so ganz ergründen konnte. Ich atmete tief ein. Dieser Atemzug fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an. "Ich bin dabei!" Diese drei Wörter kosteten mich eine Menge Überwindung. Nun war es still in meinem Kopf. Ungewohnt still. Ein Gefühl von Unsicherheit machte sich breit. Ich habe einen Schritt in eine neue, mir komplett fremde Richtung gemacht. Wie ich es erwartet hatte, fühlte es sich weder angenehm noch wirklich schlimm an. Wie gesagt, ich war unsicher. Erst jetzt bemerkte ich das aufkommende Lächeln in Peekhawks Gesicht. "Ich wusste doch, dass ich mich auf sie verlassen kann, Davy!" Ich nickte ihm halb lächelnd zu, obwohl sich das Lächeln auch eher gespielt anfühlte. "Dann würde ich ihnen empfehlen, jetzt zu packen. Ich erwarte sie morgen früh um halb 7 Uhr am Eingang des Lagers." Ich konnte meinen Ohren nicht glauben. Zuerst glaubte ich, dass ich mich verhört hatte. "Wie bitte? Meinen sie das ernst?" Ich sah seinem Gesicht an, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war. "Ja, ich meine das ernst. Sie werden den anderen Teammitgliedern vorgestellt. Außerdem werden auch sie den schnöden Formalien nicht aus dem Weg gehen können. Auch darüber hinaus: Ihre neue Ausbildung wird sich komplett von ihrer Jetzigen unterscheiden. Diese wird ebenfalls durch einen Experten in London erfolgen. Sie werden vermutlich diese Einrichtung als Soldat niemals wiedersehen.", sagte er ruhig. Das war alles ein wenig viel für mich. Ich solle diesen Ort verlassen, tatsächlich ein komplett neues Leben anfangen. Dies war nun mehr als beängstigend. Als ich den Raum verließ, musste ich tief durchatmen. Dieser Ort war mir niemals ein Zuhause gewesen und doch raubte es mir den Atem, in dem Gedanken, ihn nun verlassen zu müssen. Doch ich musste damit klarkommen. Ich hatte mich dazu entschieden, ich musste jetzt damit klarkommen. Ich ging zu meinem Zimmer. Noch nie kam es mir so groß vor. Mit jedem Gegenstand, den ich in meine Tasche packte, fühlte es sich immer unnatürlicher an, jetzt diesen Ort zu verlassen. Zwischendurch musste ich mich auch kurz setzen, da ich es nicht mehr ausgehalten hatte. "Was würde ich mir antun? Was würde das für mein Leben bedeuten?"

Am Abend bekam ich nichts von dem, sowieso schon dürftigen Essen herunter. Danach machte ich mich erneut auf einen kleinen Spaziergang. Ich unterlies es, erneut die Stelle aufzusuchen, an welcher ich Crowley am Vortag begegnet war. In der Nacht konnte ich kaum schlafen, und wenn, dann wurde ich von einem Albtraum nach dem anderen heimgesucht. Immer wieder wachte ich schweißgebadet auf. Die Stille meines Zimmers formte sich in der Dunkelheit zu leise wispernden Stimmen. Mein Kopf war kurz vor dem Platzen. Mein Herz pumpte hörbar. Mein Hemd war komplett durchnässt und haftete klamm vor Schweiß an meinem Oberkörper. Ich zitterte am ganzen Körper. Das Atmen fiel mir schwer. Es breitete sich eine Leere in mir aus, welche mich immer weiter in meinem Körper gefangen fühlen ließ. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Es kostete mich Kraft, an meine bereits gepackte Tasche zu gehen. Tief unter Kleidungsstücken vergraben fand ich ihn- den Bilderrahmen. Ich nahm ihn in meine Hand und guckte auf das Foto. Ich merkte, wie mein Puls schlagartig abnahm. Ich kam langsam zur Ruhe. Es war irgendwie paradox- das Foto was mir wenige Stunden zuvor die Luft geraubt hatte, gab sie mir jetzt wieder. Ich schloss die Augen. Trotzdem sah ich das Foto noch immer vor mir. Ich drückte das Bild nun ganz fest an mich. Ich wusste, wie lächerlich ich mich verhielt, und doch half es. Ich legte mich in mein Bett und versuchte mich schemenhaft an ihre Stimme zu erinnern. An ihren Gesang. An alles von ihr. Ich war so vertieft, dass ich langsam, aber sicher einnickte. Die Albträume blieben nun aus.

Am Morgen wurde ich abrupt von den lauten Fanfaren geweckt. Nun waren sie begonnen, die letzten Stunde an diesem Ort. Ohne mich von irgendwem zu verabschieden, stand ich schließlich pünktlich um 6:29 Uhr am Tor des Lagers, in welchem ich nun meine letzten Wochen verbrachte. Dort wartete bereits Peekhawk mit einer Droschke auf mich. Sie wurde von einem stattlichen schwarzen Hengst gezogen. Da mein Gepäck nicht sonderlich schwer war, konnte ich die Tasche einfach unter der Sitzbank verstauen, während der Kutscher bereits dem Pferd die Peitsche zu spüren gab. Während der mehrstündigen Fahrt schwiegen uns Peekhawk und ich mehr an, als dass wir uns unterhalten würden. Ich lies meinen Blick durch die vorbeieilende Landschaft streifen, soweit es mir durch die verdreckten Fenster möglich. Die Wälder, die Bäume, die Menschen, die wie in einem Bruchteil einer Sekunde an mir vorbeirasten machten für mich einen friedlichen Eindruck. Mit jedem Meter mit den wir unserem Ziel immer näher kamen, stieg meine Spannung. Auch stellte sich ein gewisses Gefühl der ungewissen Vorfreude ein. Ich malte mir die verschiedensten Szenarien aus, was in der Zukunft passieren und könnte. Nach einer knapp vierstündigen Fahrt eröffnete sich mir der Anblick der Metropole. Viel zu lange hatte ich den Glanz dieser Stadt nicht mehr vor Gesicht bekommen. Ich erwischte mich, wie ich einige Sekunden mit offenem Mund aus dem Fenster starrte, wie ein Junge vor einem Süßigkeiten Geschäft. Trotzdem wir London erreichten dauerte die Fahrt erneut nochmal eine knappe halbe Stunde, bis wir im Stadtteil Kensington ankamen. Die Droschke hielt vor einem der luxuriösesten Häuser, welche ich in meinem Leben je gesehen hatte. An der Fassade des Hauses war ein kleines, aber glänzendes Messingschild angebracht. "Sir Robert J. Caulfield", stand in einer serifenreichen Schrift darauf. Colonel Peekhawk betätigte mit einem lauten Hämmern den Türklopfer. Wenige Momente später öffnete ein Mann im Frack die große Holztür. Der Butler ließ uns, nach einer kurzen Vorstellung durch Peekhawk, ins Innere des Hauses. Die Erwartungen, welche sich bereits beim Erblicken der Fassade entwickelten hatten, wurden nicht enttäuscht. Wohin das Auge reichte, sah man Prunk und Adel. Ich musste eine kurze Zeit still stehen bleiben, um alles auf mich wirken zu lassen. "Bitte folgen sie mir!", sagte der Butler mit unterlegter Stimme. Er führte uns zu einer weiteren, sehr massiven und hohen Holztür. Diese Tür, das erkannte ich sofort, führte in das Arbeitszimmer. "Die anderen Gäste sind bereits eingetroffen. Sie werden erwartet.", sagte der Butler, während er anklopfte. Nun wich mein Erstaunen wieder einer ungesunden Nervosität. "Was würde ab jetzt passieren, was habe ich mir eingebrockt und vor allem: Wer wartet hinter dieser Tür? - Es könnte sowohl Freund, als auch möglicher Feind sein. Ich wusste es nicht. Meine Spannung nahm ihren Höhepunkt, als wir eine bekannte Stimme aus dem Raum drangen hörten: "Sie können reinkommen." Der Butler drückte den Griff der Tür herunter. Er quietschte leicht, dachte ich zumindest. Vielleicht habe ich mir das auch nur unter meiner Anspannung eingebildet.

Mit einem Knarren ging die Tür auf.

Three PillarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt