#1 'Unser neues Zuhause'

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"So das ist es", sagt Mama erfreut, zugleich aber auch etwas traurig. Sie ist ziemlich abgemagert und sieht nicht besonders gesund aus. Meistens versuche ich das zu ignorieren, weil es wehtut, sie so zu sehen.
"Ist das wirklich unsers?", fragt Ann, meine kleine Schwester.
"Ja, nun lasst uns endlich reingehen".
Ich schnappe mir mein Plüschtier und trabe den beiden hinterher. Im Inneren des Hauses riecht es noch nach frischer Farbe.
Ich gucke mich um und entdecke schnell die Küche und das Badezimmer. Es ist ein modernes Haus, das gerade erst frisch renoviert worden ist. Eigentlich sollte ich es schön finden, aber es sieht grausam aus in meinen Augen. Die weissen Wänden sprühen keine wohlige Atmosphäre aus und auch der helle Holzboden hilft nicht wirklich, mich heimisch zu fühlen.
"Das ist das Wohnzimmer und dort ist dein Zimmer Süße", sagt Mama, während sie den Flur entlangläuft und Ann eine Tür aufhält.
"Schön!", ruft Ann bewundernd und hüpft vor Freude durch ihr neues Zimmer.
"Mein Zimmer ist gleich daneben und deines ist oben. Ich dachte, du willst es vielleicht etwas ungestörter", wendet sich Mama an mich. Ich nicke und gehe zurück zu der Eingangstür. Dort führen die Stufen in die obere Etage. Langsam steige ich hoch und gucke mich um. Es gibt zwei Türen. Hinter der einen versteckt sich ein kleines Bad und hinter der anderen verbirgt sich ein relativ geräumiges Zimmer. Alles ist weiß und nichts erinnert mehr an früher. Ich lege mein Kuscheltier auf das Bett und hole meine Koffer aus dem Auto. Jetzt ist es Zeit zum auszupacken.

"Lasst es euch schmecken". Wir sitzen am Tisch und essen Abendbrot. Es ist so still, fast schon unerträglich. Aber anscheinend geht es nur mir so. "Wie findest du dein Zimmer?", fragt Mama nach einer Weile.
"Gut", antworte ich knapp. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich mich hier so unwohl fühle, dass ich bis gerade eben zusammengerollt auf meinem Bett lag und am liebsten verschwinden wollen würde. Meine Mutter kann mich leider ziemlich gut durchschauen, weshalb sie sagt: "Wir gehen morgen in ein Möbelhaus. Dann kannst du es dir gemütlich einrichten, oder die Wände nochmal neu streichen".
Ich nicke nur und wende mich weiter meinen Spagetti zu. Ein bisschen Farbe wird mich auch nicht aufmuntern können.

Sobald alle aufgegessen haben gehe ich wieder nach oben in mein Zimmer und lasse über meinen Laptop ruhige Musik laufen. Ich lege mich auf meinen Teppich und schließe meine Augen, um wenigstens ein paar Minuten meinem Leben zu entfliehen.
"Ich vermisse dich Daddy", flüstere ich. Aber ich bekomme keine Antwort.

Wie denn auch? Er ist weg.

Und er wird nie wieder kommen.
Wir werden nie wieder zusammen in der Werkstatt etwas zusammenbauen oder reparieren. Ich werde nie wieder sein nerviges Summen hören, während ich in Ruhe fernsehen will. Ich werde nie wieder diese Falten auf seiner Stirn sehen, wenn er sich den Kopf über etwas zerbricht. Und ich werde nie mehr sehen, wie er Mama zum lachen bringt.
"Ich vermisse dich so sehr!", sage ich tonlos mit Tränen überströmten Gesicht.
Die Taubheit nimmt mir die letzte Kraft und so lasse ich die Müdigkeit zu. Bevor ich endgültig einschlafe, schaffe ich es noch mich ins Bett zu legen und meinen plüschigen Freund in den Arm zu nehmen. Der einzige, dem ich alles anvertraue, auch wenn er nicht antwortet. Vielleicht auch gerade deswegen.

Der nächste Morgen ist hart. Es ist wie ein Albtraum hier zu erwachen und erbaut zu realisieren, das nun alles anders ist. Ich hasse es, ich hasse es wirklich. Mama zuliebe benehme ich mich den Tag über. Ann ist begeistert von dem Möbelhaus. Hier gibt es so ziemlich alles, was man sich wünschen kann. Also was das Haus und deren Einrichtung angeht.
Ann läuft begeistert bei den Farbtöpfen umher und zeigt mir hier und dort Eimer, die sie toll findet. „Ich kann mich nicht entscheiden", meint Ann etwas niederschlagen, als sie sich alle Farben angeguckt hat. „Wieso?", frage ich, „Ist die Auswahl denn nicht groß genug?".
„Doch, gerade deswegen! Ich finde die beiden so toll", ihre Hände liegen auf zwei Töpfen. Einer zeigt ein helles Blau und der andere ein blasses Lila.
„Guter Geschmack", lobe ich sie und überlege, „Wie wäre es, wenn wir beide nehmen und eine eine Farbe in dein Zimmer kommt und die andere in meins?". Sie stürzt ihre Lippe und lächelt dann: „Okay, ich weiß aber noch nicht welche Farbe ich will". Ich lache und hebe beide Farben in unseren Einkaufswagen.
Wir verbringen den halben Tag im Möbelhaus und packen unendlich viele Kissen und Lampen ein. Als wir wieder zuhause ankommen, bin ich vollkommen energielos, schaffe es jedoch weiter auszupacken.
Unser neues Zuhause liegt etwa zwei Stunden entfernt von unserem alten. Keine große Distanz also, aber dennoch fühlt es sich wie Heimweh an, wenn ich meine Augen zumache. Die Realität schmerzt und ich weiß nicht, wann es endlich leichter wird. Ehrlich gesagt will ich gar nicht, dass es besser wird, weil ich Angst habe Daddy zu vergessen, sobald ich die Trauer überwunden habe.
Das ist es also, mein Leben, welches mich in einem Moment zum Lachen bringt und im anderen in Tränen ausbrechen lässt.

Es ist beschissen.

Keine Cinderella StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt