Kapitel 62

271 22 1
                                    

POV Aris

Eine Woche lang habe ich nichts von Milam gehört.
Ebenfalls eine Woche habe ich mich nicht bei ihm gemeldet.
An ihn gedacht habe ich aber täglich. Wie oft ich seinen Chat angetippt habe oder über dem grünen Hörer geschwebt bin nur, um kurz darauf meine Meinung zu ändern.

Ich kenne mich so nicht. Irgendwas hat sich verändert, seit wir uns wiederbegegnet sind. Früher haben mich Bindungen nicht interessiert, ich bin Bindungen eingegangen weil es von mir erwartet wurde. All die Kerle, die ich nach einem Mal nie wieder gesehen habe und deren Gesichter ich nicht mal mehr kenne. Was hat sich geändert? Warum ist mir ein einziger kleiner Kerl so wichtig, dass sich alles, was ich tue immer um ihn dreht?

Ich habe aus zwei Gründen keinen Kontakt zu ihm gesucht: Erstens wollte ich ihm Raum geben, über alles nachzudenken - immerhin hat er einen Freund. Und zweitens ich wollte auch mir selbst Zeit geben, etwas Abstand zu gewinnen. Eine Seite in mir hat gehofft, meine Gefühle würden einfach schwinden. Als wäre das alles nur ein dummer Zufall. Eine Woche später habe ich eingesehen, dass ich wirklich naiv war, sowas zu glauben.

Spätestens seit ich Milam gestern in der Bibliothek gesehen habe. Beobachtet habe, wie dieser Nate seine Arme um ihn schlingt und seine Lippen den Körper des Blonden berührt haben. Es hat weh getan. Sie sind also noch zusammen - damit habe ich ehrlich gesagt gerechnet. Warum sollte er jemanden aufgeben, mit dem er eine offizielle Beziehung führen kann und mit dem er alles hat, das er sich wünscht. Es war eigentlich klar, dass er nicht so dumm ist und das wegwirft, nur weil wir uns in dieser einen Nacht nährgekommen sind.

Ich tippe mit meinem Stift ungeduldig auf meinem Schreibtisch herum. Heute kann ich mich nicht auf meine Arbeit hier konzentrieren. Eigentlich nutze ich die Tage an der Uni wirklich produktiv, heute habe ich außer ein paar Dateien hin und her zu schieben nicht wirklich was erreicht. Spätestens seit gestern sollte ich ihn mir aus dem Kopf schlagen.

Ein klopfen erweckt meine Aufmerksamkeit. „Herein" sage ich gerade so, dass die Person auf der anderen Seite der Tür es hören müsste. Als ich warte, bis er oder sie eintritt fällt mir auf, dass es bereits dämmert. Es ist sicher schon 17:00 Uhr, die meisten Kollegen sind bereits gegangen. Nach 16 Uhr trifft man nur noch vereinzelt Professoren, gerade jetzt in der Prüfungsphase wo keine Vorlesungen mehr stattfinden.

„Stör ich?" sagt die leise, zittrige Stimme. Mein Herz beginnt heftig zu pochen und ich halte automatisch die Luft an - Milam.

Ich erhebe mich von meinem Stuhl und geh um den Tisch rum. Da ich aber nicht weiß, was mein Ziel ist bleibe ich vor meinem Schreibtisch stehen, lehne mich gegen diesen dagegen und warte lieber ab, was passiert. Milam kommt herein, schließt die Tür und bleibt mitten im Raum stehen. Er wirkt verloren dort drüben. Sein Hände zupfen wieder mal an seinem viel zu großen Hoodie herum. Er trägt keine Jacke, was mir verrät, dass er wohl gearbeitet hat und seine Sachen bei Wang im Büro liegen.

„Was kann ich für dich tun?" versuche ich, möglichst ruhig zu sagen. Er soll nicht merken, wie unruhig ich gerade innerlich bin.
„Ich hab mich von Nate getrennt." Ah, Achso.
Moment - WAS?

„Warum hast du das getan?" sage ich entsetzt, ohne vorher darüber nachzudenken. Er senkt seinen Blick, zupft weiter an sich herum. „Ich meine, also ... er liebt dich und ..." druckse ich herum „... und du mich nicht? Willst du darauf hinaus?" unterbricht er mich.
„Nein, das meine ich nicht. Aber du kennst meine Situation doch, Milam. Du weißt, wie mein Leben aussieht und wie kompliziert es ist" erkläre ich mich, obwohl ich mich am liebsten selbst ohrfeigen würde. Er hat sich getrennt, er ist Single und er hat er vermutlich wegen mir getan. Ich sollte Freudensprünge machen, stattdessen tut er mir einfach nur leid. Er hat den schweren, steinigen Weg gewählt, dessen Ziel nicht unbedingt eine schöne Aussicht bereithält.

Er atmet genervt aus - seine Stimmung ist umgeschwungen. Was hab ich jetzt falsch gemacht?
„Aris, ich habe ihn verlassen, weil ich ihn nicht liebe. Er wird niemals, ich wiederhole: niemals an das herankommen, was ich für dich empfinde. Ich trauere dir lange genug hinterher, um das mittlerweile begriffen zu haben. Ich weiß, auf was ich mich da einlasse, ich erwarte keinen Facebook-Post, dass wir jetzt zusammen sind oder Dates oder irgendwelche öffentlichen Liebesbekundungen ..." er geht auf mich zu, solange bis er direkt vor mir steht und seine Hand auf meine Brust legt.

„... ich will nur dich. Mehr brauche ich nicht." Sagt er, jetzt wieder so ruhig, wie zu Beginn. „Aber ich werde irgendwann nicht mehr genug sein" flüstere ich. „Irgendwann brauchst du mehr und ich werde dir vielleicht nicht mehr geben können."
„Das lass mich mal selbst entscheiden. Ich kann auf mich selbst aufpassen" entgegnet er. Er wirkt sicher in dem, was er sagt. Dennoch fällt mir auf, dass seine Augen glasig sind und er sich wohl gerade auch zusammenreißen muss, dass seine Emotionen nicht überkochen.

Ich lege meine Hand auf seine, die noch immer auf meiner Brust ruht. Sicher kann er spüren, wie stark mein Herz gerade schlägt. Nur zur gerne würde ich in seinen Kopf rein schauen können. Ist er sich wirklich sicher? Können wir so naiv sein und einfach davon ausgehen, dass es schon irgendwie klappen wird? Wie lange wird das Glück auf unserer Seite stehen, bis wir wieder außeinandergezerrt werden?

Ich lasse meine Stirn gegen seine sinken. Meine Augen sind geschlossen und ich denke angestrengt nach, was die Lösung dieses Rätsels sein kann. Es ist als wär vor mir ein Schloss, dessen Code ich eigentlich kenne aber ich bekomme es einfach nicht hin, ihn wiederzugeben. Die Lösung ist direkt vor mir, ich bin aber nicht in der Lage nach ihr zu greifen. Es ist verhext. Das alles ist verrückt. Ich bin alt genug um zu wissen, dass Ignoranz uns nicht helfen wird.

„Aris." sagt er so sanft und dennoch so bestimmend, dass meine Gedanken aus meinem Kopf gefegt werden. „Wir müssen nicht jetzt wissen, wie es weiter geht." Er hat recht. Keiner von uns muss jetzt eine endgültige Entscheidung treffen. Wir sind Menschen, wir leben und machen Fehler. Vielleich wird das hier die Schönste Fehlentscheidung, die ich jemals getroffen habe? Ich spüre, wie Mut mein Herz erfüllt. Es kann manchmal so einfach sein, wenn man einfach entscheidet, es sich einfach zu machen.

Crossing Paths - ManxManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt