Kapitel 16

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POV Milam

Meine Nachtschichten in der Bibliothek laufen immer gleich ab:
Ich komme gegen 20 Uhr an, suche mir einen Schreibtisch - was zugegeben relativ einfach ist, da in der Prüfungszeit zwar mehr los ist, die meisten jedoch ab dem späten Nachmittag die Flucht ergreifen. Nachdem ich alles bereitgelegt habe gehe ich eine Rauchen. Eine wirklich schlechte Angewohnheit: Im Prüfungsstress werde ich vorübergehend zum Raucher, aber so hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen. Danach wird 2-3 Stunden konzentriert gelernt, gefolgt von einer kurzen Lernpause und abschließend mache ich noch ein paar Übungsaufgaben. Gegen 02:30 Uhr bin ich meist wieder zuhause.

Nach meiner rituellen Zigarette setze ich mich an meinen Stoff, den ich für heute eingeplant habe. Ich schreibe eine Zusammenfassung auf Basis des Skriptes und hebe die wichtigsten Punkte farblich hervor. Ich habe heute noch keine Menschenseele gesehen, könnte auch daran liegen, dass ich mich im letzten Eck verkrochen habe. Mein heutiger Platz ist am Fenster mit Blick auf den dunklen Campus. Um hierher zu kommen muss man die gesamte Bibliothek durchqueren, die meisten bleiben vorne im großen Aufenthaltsraum sitzen.

Mein Handy leuchtet auf, als mir Alex eine Nachricht schreibt, dass er Lasagne im Kühlschrank für mich bereitgestellt hat - manchmal ist er doch wirklich ein Goldstück. Sicher ist er gerade mit den anderen irgendwo was trinken. Die Uhr verrät mir, dass wir 23:00 haben, also lege ich den Stift beiseite, nehme meine Schachtel Zigaretten und mache mich auf den Weg nach draußen. Tatsächlich sitzen vorne ein paar verlorene Seelen, die ich sogar kenne. Meistens sind es doch die üblichen Verdächtigen, die sich nachts hier tummeln.

Ich bleibe kurz am Tisch von Liana stehen, eine Kommilitonin, die Mediendesign studiert.
„Na, auch wieder hier Milam?" „Mhmm, was muss das muss" entgegne ich schulterzuckend. Sie arbeitet offensichtlich gerade an einer Collage, denn auf ihrem Platz liegen überall Bilder und bunte Stifte verteilt. „Also dann, ich wünsch dir viel Erfolg, ich geh mal rauchen" verabschiede ich mich dann, verlasse anschließend das Gebäude. Liana ist wirklich süß. Ihr rot gefärbtes, gewelltes Haar fällt ihr lang über die Schultern und sie kombiniert ihre Outfits stilsicher in allen möglichen Schwarztönen.

Ich lehne mich an die kühle Backsteinwand, hole meine Zigaretten hervor und stecke mir eine davon zwischen meine Lippen. Wo ist mein Feuer? ich durchforste meine Hosentaschen, aber Fehlanzeige. Ich muss es drin vergessen haben. Ich seufze laut - in der Prüfungsphase reizen mich solche Kleinigkeiten relativ schnell. Ich nehme die Zigarette also wieder aus meinem Mund und blicke nach oben in den klaren Himmel. Es ist kalt, wie es üblich ist für November, durch die sternenklare Nacht hat es sicher gerade einmal 2 Grad, weshalb ich bereue, meine Jacke an meinem Platz gelassen zu haben.

„Hier" holt mich plötzlich ein Unbekannter aus meinen Gedanken, hält mir ein Feuerzeug hin. Wo kam er denn her? Stand er schon die ganze Zeit da in dem dunklen Eck? „Oh, danke man. Nett von dir" entgegne ich freundlich, während ich meine Hand nach dem Feuer ausstrecke, der Fremde kommt noch die letzten Schritte auf mich zu, sodass er endlich auch von dem Licht des Gebäudes beleuchtet wird. Meine Augen werden groß - oh, ich wusste doch die Stimme kam mir bekannt vor.

Aris überreicht mir das Feuer, ich nicke ihm dankend zu und stecke die Zigarette wieder zwischen meine Lippen, zünde sie anschließend an und reiche ihm das Feuer wieder. Was tut er hier um diese Uhrzeit? Noch dazu beschert er mir einen wirklich ungewöhnlichen Anblick: Er trägt einen schwarzen Hoodie und Jeans! Einen Hoodie und Jeans!!!!! Ich dachte, der Kerl schläft sogar in seinem maßgeschneiderten Anzug.

Betretene Stille tritt zwischen uns ein. Auch er hat sich eine Zigarette angezündet und steht in einem gewissen Abstand entfernt zu mir. Wir waren seit unserer letzten Auseinandersetzung nicht mehr alleine. Es ist fast komisch, dass es jetzt so ruhig und distanziert zwischen uns ist, wo es doch sonst immer eskaliert ist.

„Ich hätte nicht erwartet, dass du rauchst" bemerkt er passiv, wohl gewillt ihrendwie die Stille zu durchbrechen. „Mhmm, eigentlich nicht. Nur während den Prüfungen." entgegne ich, so abweisend wie es mir möglich ist. In der Hoffnung, ihm fällt nicht auf, dass mich diese Situation mehr als nervös macht. Bitte Kiste mit unnötigen Emotionen - bleib einfach dort wo du bist. Fest verschlossen ganz tief in meinem inneren. „Und du?" frage ich schließlich.

„Nur, wenn ich Stress hab." gibt er zu. „Bist du öfter hier zum lernen?" „Während der heißen Phase fast immer." „Und dein Job im Minimarkt?" Warum wirkt er plötzlich so interessiert? „Wenn die Vorlesungen vorüber sind arbeite ich meistens unter der Woche tagsüber." erwidere ich ehrlich. „Und was machst du hier?" „Ich bin hier zum Arbeiten. Unsere Firma schließt die Büros ab 20 Uhr und ich brauche einen Platz, wo ich arbeiten kann und Vorbereitungen für die Kurse und Prüfungen treffen kann" Ich nicke verstehend. Er ist als auch öfter hier. Allerdings verstehe ich nicht, wieso er nicht einfach sein Büro hier am Campus nutzt.

Ich nehme noch einen Zug, drücke dir Zigarette am Aschenbecher aus, wo auch Aris steht, welcher jedoch noch ein paar Züge übrig hat. Warten will ich auf keinen Fall auf ihn, sonst werde ich wohlmöglich noch nervöser, als ich eh schon bin. Ich gehe an ihm vorbei, sehe ihn nochmal kurz an und bilde mir ein, ein wenig Unsicherheit in seinem Blick zu sehen. „Also dann" sage ich zum Abschied und betrete wieder das Gebäude, nehme den kürzesten Weg zu meinem Platz.

Das war unsere erste normale Unterhaltung. Wir haben uns nicht gestritten oder sonstiges. Ich werde ihn wohl oder übel in den kommenden Wochen öfter hier sehen, wie soll ich also mit dem Gefühl, das gerade in mir aufsteigt umgehen? Soll ich ihn einfach wieder ignorieren? Vielleicht sehen wir uns ja auch gar nicht, warum mach ich mir überhaupt so einen Kopf wegen nichts? Ich beiße von meinem Schokoriegel ab, den ich mir vorhin schon parat gelegt habe und widme mich wieder meinen Lernunterlagen.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es bereits 2 Uhr, also packe ich zusammen und verlasse wenig später das Gebäude. Unbewusst halte ich nach Hemford Ausschau, kann ihn aber nicht entdecken. Diese Begegnung muss ich erst einmal verdauen. Hemford in sportlicher Kleidung in der Bibliothek. Und wir haben uns NORMAL unterhalten. Es war eigentlich objektiv betrachtet nichts komisches dabei, trotzdem will meine Nervosität einfach nicht verschwinden und ich spüre ein leises Herzklopfen, wenn ich daran denke.

Jetzt aber erstmal nach Hause. Tag 1 in der Bibliothek: check.

Crossing Paths - ManxManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt