Kapitel 20

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POV Milam

Er verwirrt mich. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe bin ich ein Stück mehr durch den Wind, als zuvor. Aber seine Ehrlichkeit löst in mir etwas aus - ich spüre, wie meine Gefühle, die noch immer tief in mir in eine Kiste gesperrt sind, ausbrechen wollen. Ich kann jetzt jedoch unmöglich gehen, vor allem weil er mir gegenüber gerade das erste Mal aufrichtig ist.

Also treffen sich unsere Blicke wieder. Mehr als ihn anzusehen kann ich gerade nicht tun. Es ist, als könnte ich gerade zum ersten Mal einen Hauch des echten Aris wahrnehmen. Lebt er die ganze Zeit hinter einer Fassade, um sich selbst zu schützen sowie den Ruf seiner Familie? Hat er sich dieses egoistische Verhalten auferlegt um nicht angreifbar zu sein?

„Hast du es überhaupt jemals versucht?" Die Frage stelle ich bevor ich darüber nachdenken konnte. Tatktlos von mir, darüber zu urteilen ohne sein Umfeld zu kennen.
„Nein." bemerkt er nüchtern. „Weißt du, es gibt Mächte, da lohnt es sich nicht gegen anzukämpfen. Außerdem kennt mich niemand meiner Bettgeschichten - ich geb mir da stets größte Mühe. Naja, außer bei dir. Da habe ich einige Fehler begangen." „Wieso? Ich bin doch nur einer von Vielen für dich." „Mhmm. Stimmt." Autsch. Er weiß auf jeden Fall, wie er andere Menschen verletzen kann.

Innerlich habe ich gehofft, er sagt jetzt sowas wie „Nein ich habe meine Regeln gebrochen, weil ich seit unserem ersten Blickkontakt gemerkt habe, dass das zwischen uns magisch ist." Naja, ich hab wohl zu viel erwartet. Zumal ich mich ja immer noch gegen die Erkenntnis wehre, dass er nicht einfach nur ein Riesen Arsch ist, sondern eine liebenswerte Person ist. Man muss nur tief genug graben.

Aber hab ich überhaupt eine Chance ihn zu erreichen? Lohnt es sich, tief genug zu graben, um endlich ihn zu sehen, wie er wirklich ist? Oder wartet auf mich nach all der Mühe nur das, was ich bereits befürchte? Schmerz. Ablehnung.
Wenn ich an meine erste Liebe denke, war es genauso. Es war eine Anziehung da, schließlich hat er mich entjungfert, war für kurze Zeit nahbar und hat mir das Gefühl gegeben, mich wirklich zu mögen. Danach habe ich einige Monate dafür gekämpft, seine Liebe zu verdienen, doch am Ende stand ich allein da.
Allein mit meinem gebrochenen Herzen.

„Wenn du nichts mehr Willst, dann würde ich wieder rein gehen. Danke für die Zigarette." verabschiede ich mich, werfe meine mittlerweile erloschene Zigarette in den Aschenbecher und gehe an Aris vorbei. Als ich schon fast vorbei bin, greift er nach meinem Handgelenk. Da sind sie wieder, die süßen Stromschläge ausgehend von der Stelle, an der er mich berührt. Ich drehe mich wieder zu ihm um.

„Wenn du wüsstest, was ich gerne tun würde, Milam" sagt er. Auch wenn man das jetzt durchaus zweideutig interpretieren könnte, sagt er es mit so einer Sanftheit, wie ich sie bisher nur erlebt habe, als er mich geküsst hat. Er lässt mein Handgelenk los, hebt seine Hand und streift mit seinen Fingerspitzen über meine Wange. Ich bin wie erstarrt. Ich sollte gehen. Aber ich kann nicht, ich WILL nicht. Ich würde gerade alles tun, er muss nur anfangen.

Unsere Gesichter kommen sich gefährlich nahe. Ich greife nach seinem Hoodie, suche dort Halt. Wir sehen uns an und ich merke, dass mein Herz mir gleich aus der Brust springt. Bitte Aris, küss mich endlich. Lass mich wieder das Gefühl spüren, wie deine Lippen sanft meine Berühren. Ich muss ohnehin ständig an diesen Moment denken, der mir das erste Mal den Aris hinter der Fassade gezeigt hat. Ich habe ihn kennengelernt als der Typ, der er vorgibt zu sein. So, wie er sich der Welt präsentiert - und dieser Aris ist ehrlich gesagt nicht sonderlich liebenswert.

Aber ich habe von Anfang an eine Anziehung gespürt, die von ihm ausgeht. Seit unserem Kuss ist mir bewusst geworden, dass ich ihm längst verfallen bin - trotz aller Umstände. Ich werde damit früher oder später auf die Fresse fliegen, aber was soll's?

Seine Hand wandert von meiner Wange zu meinem Nacken, umschießen diesen sanft und er zieht mich näher zu sich. Als sich unsere Nasenspitzen fast berühren bewegt sich keiner von uns weiter. Als müssten wir uns mental darauf vorbereiten, was jetzt gleich passiert.

„Aris ..." flüstere ich und schließe die Augen.

Dann scheppert es und wir springen förmlich auseinander. Jemand ist gerade aus dem Gebäude gekommen, da wir zum Glück etwas abseits in der Dunkelheit stehen, hat die Person uns mit Sicherheit nicht gesehen. Aber so, wie die Distanz zwischen uns gerade schlagartig größer geworden ist so ist auch die Spannung zwischen uns verpufft. Wir warten geduldig, bis die Person aus Hörweite ist.

Dann setzt sich Aris in Bewegung, aber nicht in meine Richtung, nein. Er läuft wieder in Richtung Gebäude.
„Es tut mir leid, Kensington. Vergiss, was ich dir erzählt habe."
Und da stehe ich. Sprachlos. Meine Kinnlade nach unten geklappt.

Wehrt er sich dagegen? Oder habe ich schon wieder viel zu viel in die Situation interpretiert? Noch vor wenigen Momenten dachte ich, ich würde endlich IHN sehen. Und gerade jetzt spüre ich, dass er sich wieder verschlossen hat. Doch was hat das alles zu bedeuten? Welcher Aris ist wirklich echt?
Oder ist das alles nur ein schlechter Scherz und er spielt mit mir?

Er hat mir gerade zu verstehen gegeben, dass er es bereut, dass er mir etwas aus seinem Leben erzählt hat. Sicher bereut er es auch, dass wir uns gerade ganz kurz wirklich nahe gekommen sind.  Ich brauche einen Moment um mich zu sammeln. Dann gehe ich auch wieder ins Gebäude, durchquere die Bibliothek bis zu meinem Platz, stecke meine Kopfhörer in die Ohren und fange an, an meinen Unterlagen weiterzuarbeiten.

Ich muss dringend diesen Kerl aus meinem Leben verbannen.

Crossing Paths - ManxManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt