Kapitel 60

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POV Milam

Ich fühle mich endlich wieder einigermaßen fit genug, um arbeiten und zur Uni zu gehen. Eine ganze Woche habe ich zuhause, die meiste Zeit davon im Bett, verbracht. Isoliert von allem und jedem habe ich mich ausgeruht und auf mich konzentriert - bemüht meine Gedanken zu sortieren und auf mein Leben wieder klar zu kommen.

Ich komm gegen 10 an der Uni an, arbeite bis 16 Uhr bei Prof. Wang, wo sich einiges angesammelt hat seit letzter Woche und treffe mich dann mit Alex in der Bibliothek. Ich betrete das Gebäude und steuere auf unseren mittlerweile Stammplatz zu. Er ist nicht allein - Nate sitzt ebenfalls dort und unterhält sich ausgelassen mit meinem besten Freund. Sofort werde ich nervös, wir haben uns seit seinem Krankenbesuch nicht gesehen, haben lediglich einmal telefoniert.

Als er mich sieht strahlt er mich mit seinem süßesten Lächeln an - unter anderen Umständen würde ich wohl dahinschmelzen. Genau genommen wäre das noch vor wenigen Wochen, als ich in meiner Liebesblase war, ganz sicher passiert. Denn genau das ist es, was mir jetzt bewusst geworden ist: Nach dem gescheiterten Versuch irgendwie mit Aris anzubandeln war Nate das krasse Gegenteil. Ich habe mich darauf konzentriert, was er mir alles gibt und habe nicht mehr hinterfragt, ob ich das alles überhaupt will. Ich habe mir vorgemacht, das alles würde mir reichen und habe gehofft, ich würde ihn einfach irgendwann lieben lernen.

Aris hat mich aus dieser Blase rausgeholt. Er hat mich sozusagen auf den Boden der Tatsachen geholt. Mit Abstand betrachtet hätte ich mich niemals auf Nate einlassen sollen, was hart ist, denn er ist der Grund warum ich überhaupt aus meinem Loch gekommen bin. Aber er war andererseits der leichte Weg, denn letzten Endes habe ich nichts dazu beigetragen. Er hat mich aus meinem Loch gezogen und ich habe mich ziehen lassen. Hätte ich das aus eigener Kraft geschafft oder zumindest versucht, dann wäre ich über Aris wohl längs hinweg gewesen, als wir uns wiedergetroffen haben.

Ich stelle meine Gedanken ab, als ich  bei den beiden ankomme, die inmitten unzähliger Bücher sitzen, die aber allesamt geschlossen sind. Mit Sicherheit haben sie noch nicht einmal angefangen. Ich begrüße die beiden und setze mich auf einen der freien Plätze, packe meine Utensilien aus und bereite mich auf die nächsten Stunden vor. Ich muss dringend weiter an meinem Abschluss arbeiten, letzte Woche habe ich absolut garnichts geschafft.

Arme schlingen sich von hinten um meine Schultern, ich spüre Lippen auf meinem Scheitel. Nate steht hinter meinem Stuhl und beugt sich zu mir herunter, hüllt mich komplett mit seinem angenehmen Duft ein. Der angenehme Duft, den ich wirklich nicht verdient habe.
„Endlich darf ich dich wieder küssen" flüstert er mir ins Ohr und gleitet mit seinen Lippen sanft darüber. Ich erwidere nichts. Ich bin angespannt und ich würde ihn am liebsten bitten, etwas Abstand zu wahren, aber wie soll ich ihm das erklären, ohne direkt mit der Tür ins Haus zu fallen?

„Lass uns später zusammen heim gehen und ein wenig Spaß haben" fährt er fort, bedacht darauf, dass nur ich seine Worte höre. Was er mit Spaß meint ist klar, nur ist mir leider gar nicht danach, seitdem ich mit einem gewissen Jemand wirklich wirklich viel Spaß hatte. Aber auch das sollte ich wohl besser vermeiden. Mein schlechtes Gewissen frisst mich auf, aber ich weiß einfach nicht, was ich zu Nate sagen soll. Ich verhärte mich weiter, als ich am anderen Ende des Raumes plötzlich Aris entdecke, dessen Augen jetzt direkt in meine Blicken.

Fuck.

Sein Kiefer wirkt aus der Entfernung angespannt. Er steht da, neben einem Bücherregal und macht keine Anstalten, zu gehen. Ob es ihn verletzt, mich mit Nate zu sehen? Immerhin ist er es, der mich gerade von hinten umarmt und dessen Lippen der Region rund um mein Gesicht Aufmerksamkeit schenken. Ich kann meinen Freund jetzt nicht einfach weg schieben, will aber auch nicht, dass Aris auf falsche Gedanken kommt.

„Milam, lass uns eine Rauchen" holt mich Alex zurück aus meinen Gedanken. Mein Blick schweift zu ihm und mir fällt sofort sein besorgter Blick auf. Er weiß, dass ich nur rauche, wenn ich Stress habe und er raucht eigentlich nur auf Partys aber heute nimmt er es als Vorwand, mit mir alleine zu sein. Ich nicke ihm zu und löse mich aus Nates Umarmung. Ich blicke mich um, als wir zu zweit die Bibliothek verlassen doch keine Spur von Aris.

„Erzählst du mir, was zwischen dir und Nate nicht stimmt?" beginnt er, als wir uns vor dem Gebäude auf eine Bank gesetzt haben. Natürlich hat er gemerkt, dass etwas im Busch ist, er kennt mich besser als jeder Mensch auf dieser Welt. „Es ist kompliziert" gebe ich kleinlaut zu. „Weiß Nate, dass es kompliziert ist?" bohrt er weiter nach und mustert mich undurchsichtig. Ich werde unruhig, weil er mit seinen Fragen wie immer auf einer heißen Spur ist.

Ich seufze hörbar, stecke mir dann die Zigarette an und nehme einen tiefen Zug. Lügen hat keinen Zweck, früher oder später muss ich es ihm eh erzählen.
„Ich habe ihn wiedergetroffen" Wen ich meine weiß Alex, auch wenn ich nie seinen Namen gesagt habe und er nicht wissen kann, dass es Aris ist. Aber er weiß, dass ich den Kerl mein, der mir vor einigen Monaten das Herz gebrochen hat.

„Und?" fragt Alex weiter. „Wir haben uns geküsst." Seine Augenbrauen schießen in die Höhe. „Und?" „Wir haben miteinander geschlafen" gebe ich zu. „Und?" „Seitdem bin ich verwirrt. Er hat mir wehgetan, ich habe gelitten und jetzt ist er plötzlich wieder da und ich fühle mich, als hätte ich etwas wiedergefunden, was ich verloren habe" meine Stimme ist nicht mehr als ein Murmeln, es ist mir mehr als Unangenehm dieses Gespräch zu führen.

„Du hast Nate betrogen." stellt er nüchtern fest. In seiner Stimme ist kein Anzeichen von Wut oder Enttäuschung zu hören, er legt lediglich die Fakten auf den Tisch. „Du hast mit einem anderen geschlafen und weißt jetzt nicht, was du tun sollst. Du hast Nate, der dich liebt und dir gut tut aber du hast auch ihn, der dir nichts von all dem gibt. Wir wissen beide, dass du Nate nicht liebst" Ich schlucke. Diese Worte, die seit Tagen in meinem Kopf sind von einer anderen Person ausgesprochen zu bekommen tut weh.

„Oh Milam, du steckst echt in der Klemme" merkt er noch an und bläst langsam den Rauch aus. „Mhmmm" erwidere ich seine Worte.

„Es ist Hemford oder?"

Mein Kopf schnellt zu Alex, ich sehe ihn mit aufgerissenen Augen an und bin schockiert, dass er es weiß. Er grinst mich nur an legt mir dann die Hand auf meine Schulter. „Oh fuck, ich hab es irgendwie schon geahnt, als wir in seinem Seminar saßen. Es geht seitdem oder?" Ich nicke verlegen. Mir ist heiß und kalt gleichzeitig und ich weiß nicht, was ich tun soll. „Mach dir keinen Kopf, so wie er dich vorhin in der Bibliothek angeglotzt hat ist er sicher nicht erfreut gewesen, dass Nate an dir gehangen hat."

Alex. Mein mit Abstand dümmster Freund mit der bemerkenswerten Beobachtungsgabe.

Crossing Paths - ManxManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt