Unruhig schritt Samuel in seinem Büro auf und ab und raufte sich die Haare.
Es hatte so gut begonnen. Tia hatte Giso sogar ein Zeichen gegeben, dass es ihr gut gehe. Doch das war das letzte Lebenszeichen von ihr gewesen.
Der Alpha stieß ein tiefes Knurren aus. Es knackte, als sein Körper von selbst die Verwandlung einleitete. Mit einem gequälten Jaulen sprang Samuel aus dem Fenster und verschwand im Wald.
Kurz darauf folgte ihm ein grauer Wolf, schloss zu ihm auf und rannte stumm neben ihm her. Schweigend liefen die beiden Brüder nebeneinander her. Erst nach einer ganzen Weile stoppte der Alpha an der verborgenen Quelle. Er stieß ein gequältes Heulen aus und wandelte sich zurück.
Yagon sah ihn schweigend an. „Ich weiß, du leidest, Bruder. Lass mich an deinem Leid Teil haben. Sprich mit mir. Du musst deinen Kummer nicht mit dir alleine ausmachen!"
Samuel seufzte. „Ich mache mir Sorgen um Tia. Irgendetwas muss geschehen sein. Warum sonst gibt es seit gestern kein Lebenszeichen mehr von ihr? Die Zelle scheint verwaist. Nicht einmal abends können die Späher ein Licht sehen. Was, wenn Tia etwas zugestoßen ist? Was, wenn sie ihr erneut Wolfswurz gegeben haben? Was, wenn sie längst tot ist?"
Yagon legte Samuel die Hand auf die Schulter. „Horche in dich hinein, Bruder. Und dann sag mir, was du spürst!"
Der Alpha schloss die Augen und atmete tief durch. Fast augenblicklich entspannten sich seine Gesichtszüge. Yagon lächelte. „Du spürst sie, nicht wahr?"
„Ja. Du hast Recht. Zwar nur ganz schwach, aber das Band zu meiner Tochter ist da."
Samuels Blick versteinerte.
„Lass uns zurückkehren. Ich werde einen Trupp aus Freiwilligen zusammenstellen. Wir werden versuchen, die Burg zu stürmen. Ich selbst werde meine Krieger anführen."
Yagon schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Aber ich werde deinen Plan akzeptieren, Alpha. Was ich jedoch nicht akzeptieren werde, ist, dass du die Gruppe anführst, Bruder. Dein Platz ist im Rudel. Wir können es nicht riskieren, dich zu verlieren. Ich melde mich freiwillig zum Sturm auf die Burg und bin gerne bereit, den Einsatz anzuführen, Alpha."
***
Keine Stunde später hatte sich eine Gruppe von zehn Freiwilligen vor dem Rudelhaus versammelt. Samuel hörte zu, wie Yagon die letzten Einsatzbefehle bekannt gab.
Kurz darauf war die Gruppe bereits im Wald verschwunden.
Es dämmerte bereits, als Yagon sich über Mindlink bei seinem Bruder meldete und ihn über die baldige Rückkehr der Krieger informierte. Wütend und verzweifelt hieb Samuel mit der Faust auf den Tisch. Yagon hatte von den Kriegern gesprochen, nicht jedoch von Tia. Und auch so spürte er, dass sie nicht mit dabei war.
Langsam trat er aus dem Rudelhaus und blickte zum Waldrand. Jeden Moment würden die Überlebenden aus dem Wald hervorbrechen? Wie viele Krieger würden heute durch seine Schuld, durch seinen unsinnigen Befehl, nicht zurückkehren?
Es raschelte, als der erste Krieger aus dem Dickicht trat. Angespannt zählte Samuel mit.
„... acht, neun, zehn." Erleichterung machte sich in ihm breit. Alle waren sie lebend zurückgekehrt und auch – wie es schien – ohne größere Verletzungen.
Samuel wandte sich an Yagon und die Krieger. „Es tut mir Leid. Ich hätte euch nicht auf diese Mission schicken dürfen. Sie war von Anfang an zum Scheitern verurteilt."
Mehrere Krieger zuckten die Schultern. „Wir wussten, dass es ein Selbstmordkommando war, Alpha."
Yagon nickte bedächtig. „Und doch war es seltsam, Yagon. Die Zugbrücke war natürlich hochgezogen. Also haben wir versucht, den Graben so zu überqueren. Leider erfolglos. Allerdings schien es, als ob die Vampire gar nicht vorhatten, uns zu töten... Eine größere Chance hatten wir dadurch leider trotzdem nicht."
***
Begleitet von Baran betrat Nuri den Zellengang.
Kiran und Levin hielten vor der demolierten Tür Wache.
Als Baran auf sie zutrat, salutierten sie.
„Bericht."
„Alles ruhig, Hauptmann. Sie hat die meiste Zeit geschlafen. Erst vor einigen Minuten hat sie sich aufgesetzt und sitzt seitdem am Bett."
Baran nickte zufrieden. „Dann komm, Nuri."
Konzentriert trug das Mädchen das schwer beladene Tablett in die Zelle und stellte es auf den Tisch. Baran zog sich unterdessen einen Stuhl heran und setzte sich zu Tia.
„Wie geht es dir?"
Tia zuckte müde die Schultern. „Alles schmerzt und ich fühle mich unsagbar müde."
„Das habe ich vermutet. Aber ich habe etwas, das helfen wird."
Aus seiner Tasche zog er eine winzige Phiole.
Tia erstarrte. Ein Zittern überlief ihren Körper. Dann wich sie vor Baran zurück.
„Bitte, Baran. Kein Wolfswurz. Dein König hat doch gesagt ..." Tia stockte und senkte betreten den Kopf. „Bitte, Baran. Es wird mich töten."
Baran seufzte und schloss die Hand um die Phiole, verbarg sie so vor Tias Blick.
„Das haben wir inzwischen verstanden, Tia", erklärte er ruhig. „Was ich hier habe ist kein Wolfswurz."
Erleichtert atmete Tia auf, doch die Entspannung wollte sich noch nicht einstellen.
„Was ist es dann?", hakte sie argwöhnisch nach.
Baran schmunzelte. „Es wird dir genauso wenig gefallen, aber wir denken, dass es dir helfen wird. Es ist Blut. Leons Blut."
Allein bei der Erwähnung des Namens begann Tia sanft zu lächeln. Dennoch schüttelte sie vehement den Kopf.
„Das werde ich nicht nehmen."
„Bitte, Tia. Es sind nur einige wenige Tropfen. Und es hat dir bereits einmal das Leben gerettet. König Simon möchte, dass du schnell wieder zu Kräften kommst."
Tia zögerte. „Einverstanden. Aber nur, wenn Ihr mich danach zu ihm bringt. Ich muss einfach mit ihm reden."
Baran schmunzelte. „Wir wissen bereits das mit dem Wolfswurz und der ersten Wandlung. Nuri hat uns das Märchen von Artaios erzählt."
Tia lächelte sacht. Dann schüttelte sie jedoch vehement den Kopf. „Bitte. Es ist wirklich wichtig. Lasst mich mit Eurem König sprechen."
Baran runzelte nachdenklich die Stirn.
„Nagut. Du nimmst Leons Blut und isst anständig zu Abend. Danach werde ich sehen, was ich tun kann."
Tia lächelte matt und nickte. Bereits die kurze Unterhaltung hatte sie über die Maßen erschöpft. Als Baran ihr die geöffnete Phiole reichte, zögerte sie nur kurz. Dann kippte sie den Inhalt mit angewidertem Gesichtsausdruck hinunter. Erschöpft lehnte sie sich zurück. Bereits jetzt spürte sie, wie ihr Körper nach und nach entspannte und die Erschöpfung langsam einer neuen Kraft wich.
Baran nickte zufrieden und wandte sich an Nuri.
„Lauf zu König Simon und frage ihn, ob er bereit ist, mit Tia zu sprechen."
Die junge Dienerin nickte und verschwand.
Zufrieden beobachtete Baran, wie Tia sich langsam wieder aufrichtete. „Diese Gesichtsfarbe steht dir deutlich besser."
Einen Moment verharrte er.
„Bevor du etwas isst, hätte ich eine Bitte an dich. Du musst es nicht tun ..."
Fragend legte Tia den Kopf schräg.
„Du musst es nicht tun. Aber deine Leute scheinen sich große Sorgen um dich zu machen. Sie haben sogar versucht, die. Burg zu stürmen."
Noch bevor Baran weitersprechen konnte, sprang Tia auf, musste sich aber an der Wand abstützen, als sie ob der ruckartigen Bewegung leicht schwankte.
„Wie viele habt ihr getötet?"
Baran hob abwehrend die Hände. „Kein einziger wurde getötet, Tia. Darauf gebe ich dir mein Wort. Sie wurden lediglich zurückgeschlagen. General Liam hatte den Befehl gegeben, dass es keine Opfer geben soll. Wärst du vielleicht bereit, dich deinem Rudel am Fenster zu zeigen? Ich denke, das könnte die Situation etwas entspannen."
Tia nickte und stellte sich langsam und bedächtig vor das Fenster. Keine Minute später zeigten sich mehrere Werwölfe und auch zwei Wandler in Menschengestalt am Waldrand. Tia lächelte, als sie ihre Freunde erkannte, hob die Hand und winkte ihnen zu. Noch bevor Giso seine stumme Frage stellen konnte, gab sie das Zeichen, dass alles in Ordnung war.
***
Erschöpft legte Tia den Löffel zur Seite.
„Ich bin satt, Baran. Ich schaffe beim besten Willen nichts mehr. Es ist einfach zu viel."
Baran grinste. „Hätte mich auch gewundert, wenn du alles schaffst. Nuri hat es sehr gut mit dir gemeint. Aber trink wenigstens noch den Saft."
In ebendiesem Moment betrat Nuri erneut die Zelle und wechselte einige leise Worte mit Baran.
„Sehr schön." Baran nickte dem Mädchen zu und wandte sich dann an Tia. „Fühlst du dich stark genug, dass du nun mit dem König sprechen kannst?"
Tia nickte.
„Dann komm."
DU LIEST GERADE
Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampireDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...