Baran musterte Tia, die dicht neben dem Fenster stand, prüfend. Hinter ihm, am Gang, stand Nuri mit einem Tablett in der Hand. Der Vampir gab dem Mädchen ein Zeichen, noch einen Moment zu warten, und schloss die Tür.
„Was ist los, Tia?"
Tia trat unsicher von einem Bein auf das andere.
„Nichts, Baran. Ich war nur am Fenster und dann habe ich den Schlüssel im Schloss gehört."
Der Vampir zog skeptisch die Augenbraue hoch.
„Ich hatte dir doch gesagt, dass du ans Fenster darfst."
Die Wandlerin senkte den Blick. „Ich...bin einfach nur erschrocken."
Baran stieß ein unwilliges Brummen aus. „Tia. Ich sehe, wie nervös du bist, und ich höre deinen beschleunigten Herzschlag mehr als deutlich. Was ist also wirklich los?", wandte er sich etwas strenger an das Mädchen.
Tia seufzte. Langsam zog sie die Hand hinter ihrem Rücken hervor, die bereits jetzt geschwollen war.
Mit wenigen Schritten stand Baran direkt vor Tia und griff vorsichtig nach ihrer Hand.
„Was ist passiert, Tia?"
Die Wandlerin zuckte bei der Berührung schmerzhaft zusammen. „Nichts....ist nicht so schlimm", versuchte sie abzuwiegeln, doch Baran schüttelte nur den Kopf.
„Du hast Schmerzen, Tia. Was also ist geschehen."
Tia hob den Blick und sah Baran ängstlich an. „Bitte. Sagt Eurem König nichts davon. Ich will nicht wieder in die andere Zelle."
Verwirrt legte Baran den Kopf schief. „Warum solltest du zurück in die andere Zelle müssen?"
„Weil ich mich nicht beherrschen kann. Ich war sauer und habe mit der Faust gegen die Wand geschlagen."
Baran lachte amüsiert auf. „Wenn es nur das ist, Tia. Du solltest mal das Büro von König Simon sehen. Er dürfte der Letzte sein, der einen derartigen Ausbruch nicht versteht. Dafür wird er dich bestimmt nicht zurück in die alte Zelle bringen lassen."
Etwas ernster blickte er auf Tias geschwollene und gerötete Hand.
„Aber ich muss es ihm sagen. Ich bin für dein Wohlergehen verantwortlich und die Hand muss behandelt werden. Aber jetzt solltest du erst einmal etwas essen."Baran öffnete die Tür. „Du kannst jetzt reinkommen, Nuri."
Sofort betrat die junge Dienerin die Zelle. Noch während sie das Tablett auf den Tisch stellte, sah sie sich neugierig um.
„Hier ist es viel schöner als unten. Nicht so düster und bedrückend", stellte sie fest.
Tia lächelte schwach.
Nuri legte den Kopf schief, als ihr Blick auf Tia fiel, die ihre verletzte Hand mit der anderen stützte.
„Was hast du gemacht?"
Tia zuckte leicht die Schultern. „Nicht so schlimm, Nuri. Das wird schon wieder."
„Sie hat, wie es scheint, mit der Faust gegen die Wand geschlagen." Baran grinste.
„Oh", erwiderte Nuri. „Das tut bestimmt weh."
Tia zuckte nur die Schultern.
Baran legte Nuri die Hand auf die Schulter. „Komm jetzt, Nuri. Lassen wir Tia in Ruhe essen."
* * *
Simon hob den Kopf, als es an seiner Tür klopfte.
„Kommt rein, Hauptmann."
Baran blieb vor dem Schreibtisch stehen und salutierte.
„Was gibt es?"
Der Vampir zögerte kurz. „Es geht um Tia. Sie hat sich ihre Hand verletzt."
König Simon beugte sich ruckartig nach vorne. Seine Augen blitzten verärgert auf. „Was hat sie getan?"
Baran hob abwehrend die Hände. „Sie hat niemanden verletzt, falls Ihr das denkt, Hoheit."
Augenblicklich entspannte sich Simon. „Was ist dann geschehen?", hakte er deutlich ruhiger nach.
Der Blick des Hauptmanns richtete sich auf einen der vielen Risse und der Wand.
„Sie hat mit der Faust gegen das Mauerwerk geschlagen", erklärte er mit einem leichten Grinsen.
„Ah." König Simons Augen blitzten amüsiert auf.
„Ich vermute mal, sie war wütend über ihre Situation?"
Baran nickte. „Das nehme ich an, Hoheit."
Simon nickte leicht. „In Ordnung. Da du nicht wegen einer Lapalie zu mir gekommen wärest, schick einen Heiler zu ihr. Er soll sich die Hand ansehen und sie versorgen." Simon strich sich nachdenklich über das Kinn.
„Nimm Tarok. Er ist menschlich, das dürfte dem Mädchen angenehmer sein, als wenn ein Vampir ihre Hand versorgt."
„Ich werde Tarok gleich informieren." Baran zögerte einen Moment. „Tia wollte übrigens nicht, dass ich Euch informiere. Aus Furcht, ihr könntet sie wieder in die alte Zelle bringen lassen."
„Verständlich." Simon nickte leicht. „Aber unnötig. Wegen so etwas werde ich das bestimmt nicht anordnen. Solange sie niemand anderem schadet..." Er zuckte die Schultern.
Baran neigte den Kopf. „Dann informiere ich jetzt Tarok, Hoheit."
* * *
Leise betrat Nuri Leons Büro.
Der junge Vampir saß stöhnend über seinen Schreibtisch gebeugt. Rechts und links von ihm türmten sich Akten und Bücher. Er war so konzentriert, dass er Nuris Eintreten nicht einmal bemerkte.
Unsicher trat Nuri von einem Bein auf das andere. Bis jetzt hatte Leon sie immer bemerkt.
Schließlich räusperte sie sich leise. „Prinz Leon?"
Ruckartig ging Leons Blick nach oben. Die Augen leuchteten rot, doch als er Nuri sah, entspannte er sich.
„Du hast mich erschreckt, Nuri."
Das Mädchen lächelte verlegen. „Tut mir Leid, Prinz Leon, das war nicht meine Absicht."
Leon brummte leicht. „Hatte ich nicht gesagt, du sollst das ‚Prinz' weglassen?"
Verlegen trat Nuri von einem Bein auf das andere. „Ja...schon. Aber Ihr wart so konzentriert..."
Leon lächelte und winkte Nuri zu sich. „Schon gut, Nuri. Was gibt es Neues? Hast du Tia das Essen gebracht?"
Das Mädchen nickte. „Ja, das habe ich. Zusammen mit Hauptmann Baran. Aber..." Nuri zögerte.
Sofort hob Leon skeptisch die Augenbrauen und richtete sich auf. „Was aber, Nuri?"
„Sie hat sich ihre Hand verletzt. Sie..."
Noch bevor Nuri weitersprechen konnte, war Leon aufgesprungen und stand an der Tür.
„Hauptmann Baran wollte Euren Vater informieren, damit ein Arzt die Hand ansehen kann, Leon."
Der Vampir knurrte leicht. „Wie kann es passieren, dass Tia sich in einer Zelle ihre Hand verletzt?"
„Baran meint, sie hätte mit der Faust gegen die Wand geschlagen."
Leon stoppte mitten in der Bewegung. „Sie hat was? Ich muss sofort zu ihr. Bleib du bitte hier. Falls jemand mich sucht, sag ihm, ich muss etwas nachprüfen und bin gleich wieder hier."
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampiroDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...