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Giso nickte Lyn zu.
„Endlich eine zumindest ansatzweise positive Entwicklung. Lauf los und erstatte Samuel Bericht."
Lyn nickte. „Ja Giso. Ich denke, Samuel wird erleichtert sein." Noch einmal hob sie den Blick zu dem vergitterten Fenster, doch Tia war nicht mehr zu sehen. Sie seufzte leicht.
„Ich beeile mich und komme, so schnell ich kann, zurück."
Im schnellen Dauerlauf rannte die Halbstarke von ihrem Beobachtungsposten am Waldrand auf unsichtbaren Wegen tief in den Wald hinein. Sie war schnell. Selbst an einem Werwolf gemessen.
Versonnen sah Giso ihr hinterher. „Ich bin gespannt, wie viel schneller sie in ihrer Wolfgestalt sein wird", murmelte er vor sich hin und wandte sich wieder der Burg zu. Suchend glitt sein Blick über die Burgfront, die so nah und doch so unendlich weit weg war.

Lyn rannte immer weiter. Ihre Füße berührten rhythmisch und in rascher Folge den Boden. Die Bäume schienen regelrecht an ihr vorbei zu fliegen. Obwohl sie bereits eine große Strecke zurückgelegt hatte, ging ihr Atem ruhig und gleichmäßig.
Schließlich wurde Lyn langsamer und blieb zwischen zwei Bäumen stehen.
Nur leicht außer Atem ließ sie den Blick über das Dorf wandern.
Die letzten Tage war sie kaum hier gewesen, doch viel hatte sich bisher nicht geändert. Noch immer sah es genauso aus, wie kurz nach dem Umzug hierher. Es gab Wichtigeres zu tun, als das neue Dorf einzurichten. Das musste warten.
Samuel war nicht zu sehen. Somit war er wohl – wie stets in letzter Zeit – in seinem Büro.
Seit Tias Verschwinden, seit ihrer Entführung, verließ der Alpha kaum noch das Rudelhaus. Nur gelegentlich zeigte er sich auf der Dorffläche. In das eigene Haus hingegen ging er gar nicht mehr.
Ohne aufgehalten zu werden betrat die Wandlerin das Rudelhaus und klopfte an Samuels Tür.

Mit leuchtenden Augen stand Lyn kurz darauf vor ihrem Rudelführer.
„Ich habe Neuigkeiten, Alpha."
Samuel wies müde auf den Stuhl ihm gegenüber. Tiefe Augenringe zerfurchtem sein Gesicht.
„Es sind – den Umständen entsprechend – gute Neuigkeiten: Wir haben Tia gesehen. Sie..."
Samuel sprang auf und beugte sich über den Tisch nach vorne.
„Wo habt ihr sie gesehen? Geht es ihr gut?"
Lyn lächelte schwach. „Wir haben Tia nur kurz sehen können. Sie wirkte müde und erschöpft, doch insgesamt schien es ihr gut zu gehen. Von dem, was wir in der kurzen Zeit erkennen konnten, scheint sie gesund zu sein und gut behandelt zu werden."
Samuel atmete erleichtert auf und ließ sich zurück auf den Stuhl sinken. „Immerhin etwas..."
Die junge Wandlerin nickte.
„Es scheint, als ob die Blutsauger sie erst heute in eine andere Zelle verlegt haben.
Den Nachmittag über konnten wir immer wieder Bewegungen hinter einem der vergitterten Fenster wahrnehmen. Vermutlich der Gefängnisbereich, da dort alle Fenster entweder vergittert sind oder so klein, dass nicht einmal ein Welpe hindurchpassen würde. Und dann stand Tia auf einmal am Fenster, hat aber nur kurz hinaus geschaut."
Samuel straffte sich und nickte. Sein Kampfgeist schien wieder erwacht.
„Das gibt uns neue Möglichkeiten. Ihr solltet versuchen, Kontakt zu meiner Tochter aufzunehmen. Sie soll wissen, dass wir daran arbeiten, sie zu befreien." Er seufzte. „Ich würde zu gerne selber dorthin. Aber mein Platz ist hier. Ich habe ein Rudel zu führen, das ich die letzten Tage ohnehin zu sehr im Stich gelassen habe."
„Jeder im Rudel hat Verständnis für deine Situation Alpha. Mach dir deswegen also keine Gedanken."
Der Alpha lächelte sacht und strich sich über das unrasierte Kinn und durch die wirren Haare.
„Das ist nett gemeint von dir, Lyn. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Ich bin der Alpha. Und als solcher sollte ich in der Lage sein, meine persönlichen Probleme zurückzustecken. Ein Rudelmitglied wurde entführt. Und ab dem Moment ist es zweitrangig, ob es meine Tochter oder jemand anderes aus dem Rudel ist. Ich sollte meine ganze Kraft darauf verwenden, Tia zurückzuholen, anstatt in Selbstmitleid zu versinken."

Von der Tür erklang ein Räuspern.
„Erzähl nicht so einen Unsinn, Samuel."
Der Alpha hob den Kopf und sah zu seinem Stellvertreter.
„Es ist kein Unsinn, Valentin, sondern die Wahrheit. Ich habe mich seit der letzten Versammlung nur noch hier in meinem Büro verkrochen. Auch das Rudel hat mit Tia ein Mitglied verloren."
Valentin brummte unwillig. „Richtig. Die anderen haben ein Rudelmitglied verloren. Das ist schlimm, ja. Doch denk an die Wandler, die wir im Krieg dauerhaft verloren haben. Bei denen warst du uns stets ein starker Alpha. Du warst für die Familien und Freunde da. Du hattest tröstende Worte für sie, wenn sie verzweifelt waren. Du hast sie unterstützt, wenn sie Hilfe gebraucht haben. Jetzt bist einfach DU es, der unsere Unterstützung braucht. Dieses Mal bist DU es, der unseren Trost braucht. Und das hat nichts mit deinen Qualitäten als Alpha zu tun. Außerdem bin ich auch noch da. Dafür hast du doch einen Stellvertreter."
Langsam umrundete Valentin den Schreibtisch und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
„Mach einfach, was du schaffst – und um alles andere kümmere ich mich."
Samuel schluckte und hob den Kopf. „Danke, mein Freund."
Valentin winkte ab und sah zu Lyn. „Das sind wirklich gute Nachrichten, die du uns gebracht hast – die ersten seit Tagen."
Die junge Frau lächelte. „Ja. Wir waren so froh zu sehen, dass Tia zumindest wohlauf ist."
Samuel straffte sich und atmete tief durch. „Berufe bitte für heute Abend eine Versammlung ein, Valentin. Alle, die gerade im Dorf sind, sollen daran teilnehmen. Gänzlich unabhängig vom Alter. Auch die jüngsten sollten von diesen Neuigkeiten erfahren. Sie dürften ohnehin verunischert sein, weil sie nicht wissen, was los ist."
Valentin hob überrascht die Augenbraue. „Da wird das Rudelhaus nicht genug Platz bieten."
Der Alpha zuckte die Schultern. „Dann machen wir es im Freien. Eine Stunde vor Sonnenuntergang, da sollte es noch hell genug sein."
„In Ordnung. Ich kümmere mich darum."
Samuels Blick wanderte wieder zu Lyn.
„Dich möchte ich bitten, wieder zu Giso zu gehen. Du kannst ihm melden, dass wir das gesamte anwesende Rudel informieren werden."
Lyn grinste. „Ich hatte ohnehin mit ihm ausgemacht, nach meiner Meldung wieder meinen Posten einzunehmen."

Samuel nickte, seufzte dann leicht. „Ich hoffe nur, Tia schafft es, sich ausreichend auf ihre Wandlung vorzubereiten. Wenn nicht..." Er wiegte bedeutungsvoll den Kopf. „Niemandem ist mit einem Werwolf geholfen, der sich nicht kontrollieren kann. Und wenn das in einer Burg voller Vampire geschieht, wird das kein gutes Ende nehmen."
„Tia weiß von klein auf, worum es geht, Samuel. Sie wird so gut es eben geht üben."
Lyn zog grübelnd die Augenbrauen zusammen. „Könnten wir ihr nicht ganz offiziell Anweisungen zum Üben schicken?"
Samuel schüttelte den Kopf. „Die Vampire werden sich nie darauf einlassen. Sie wissen nicht, worum es geht... werden sich nie darauf einlassen. Sie wissen nicht, welche Gefahr von Tia ausgehen wird. Und uns würden sie nicht glauben."
Nachdenklich blickte Valentin zu Lyn.
„So schlecht ist Lyns Idee gar nicht, Samuel. Wir sollten das wirklich im Hinterkopf behalten. Lass uns abwarten, ob es uns gelingt, Kontakt zu deiner Tochter aufzunehmen. Notfalls schicken wir den Vampiren eine Nachricht. Ob sie unsere Warnung beachten, liegt nicht in unserer Macht. Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht."
Lyn sah zum Fenster. Die Sonne senkte sich den Bäumen entgegen.
„Braucht Ihr mich noch, Alpha? Ansonsten würde ich mich auf den Rückweg machen."
* * *
Tia saß im Sessel und starrte vor sich hin. Ihre Finger spielten leicht mit dem Anhänger um ihren Hals.
Wie so oft betrachtete sie die goldene Halterung und schüttelte den Kopf.
Noch immer konnte sie nicht verstehen, was den Vampirkönig dazu bewogen hatte. War es am Ende etwa das schlechte Gewissen?
Tia schnaubte auf. Nein. Dieser Vampir kannte so etwas wie ein schlechtes Gewissen bestimmt nicht. Dazu war er zu sehr von sich eingenommen.
Aber sie kam nicht umhin, zuzugeben, dass ihr die Goldhalterung gefiel. Es war deutlich zu erkennen, dass der Schmied sich viel Mühe gegeben hatte.
Die Wandlerin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihre eine Hand noch immer um den Talisman geschlossen, furchte sich ihre Stirn vor Konzentration. Frustriert öffnete sie sie kurz darauf wieder.
Es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Teilwandlung bewusst herbeizuführen.
Auch wenn nichts etwas an der Tatsache ändern konnte, dass sie sich nach wie vor eingesperrt in einer Zelle in einer Burg voller Vampire befand, fühlte sie sich deutlich besser.
Hier ließe es sich zumindest aushalten.
Tia knurrte missmutig. Sie hatte so gehofft, dass es ihr dadurch gelingen würde, doch sie konnte die notwendige Konzentration für ihre Übungen einfach nicht aufbringen.
Die Augen der jungen Frau wurden eisblau, ihre Hand ballte sich zur Faust und landete mit einem Krachen im harten Mauerwerk. Tia keuchte auf und drückte die schmerzende Hand an ihre Brust.
Hektisch sah sie sich um und sah abwartend zur Tür, doch nichts geschah.
Tia atmete erleichtert auf. Sie musste sich beherrschen. Um nichts in der Welt wollte sie riskieren, wieder in das düstere Loch gesteckt zu werden.

Erneut sank Tia im Sessel zurück. Ihre Augen glänzten feucht.
„Wie soll ich das nur alleine hinkriegen? Ich muss es einfach schaffen, aber wie?"
Deprimiert ließ Tia den Blick durch den Raum bleiben. Am Bücherstapel blieb er hängen.
Vielleicht...?
Ruckartig stand die junge Frau auf und trat an den Tisch. Große Hoffnung hatte sie nicht, dass Baran ihr ein Buch gebracht hatte, das ihr helfen würde. Sie zuckte die Schultern. Es schadete nichts, die Titel durchzusehen.
Nacheinander griff sie nach den Büchern und las die Titel.
„Werwolflegenden, Vampirlegenden, Gründung der Stadt Thurin, Die Kraft der Heilpflanzen,...", murmelte sie vor sich hin.
Dann erstarrte sie. Draußen, vom Wald her, erklang das einsame Heulen eines Wolfes.
„Giso!", flüsterte sie. Ihre Augen begannen zu strahlen.
Mit wenigen Schritten stand sie am Fenster und sah hinaus in die Dämmerung.
Dicht am Waldrand, vom Schatten der Bäume fast komplett verborgen, stand ein hellbrauner Wolf und sah zur Burg hinüber. Er hob den Kopf und stieß erneut ein Heulen aus.
Tia lächelte sacht und beugte sich dicht ans Gitter. Der Wolf sah sie direkt an.
Langsam hob die Wandlerin die Hand und winkte dem Wolf zu.
Der Wolf senkte langsam den Kopf. Er hatte sie gesehen.
Ruckartig wandte Tia sich vom Fenster ab, als sie den Schlüssel im Schloss hörte.
Die verletzte Hand hinter dem Rücken verborgen, wartete sie auf das Eintreten des Vampirs.

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt