Nachdenklich blickte Simon auf den kleinen Stoffbeutel, den Amron ihm vor wenigen Minuten gebracht hatte. Erneut holte er das Holzherz heraus, um es zu betrachten. Der Schmied hatte sich wieder einmal selbst übertroffen und seine Erwartungen mehr als erfüllt. Mit einem zufriedenen Lächeln schob er das Schmuckstück zurück in den Beutel und ließ diesen in seine Tasche gleiten.
Im gleichen Augenblick wurde die Tür zu seinem Büro aufgerissen und Indra baute sich wütend vor ihm auf.
„Was hast du jetzt schon wieder angestellt, Simon? Was willst du dem armen Mädchen noch alles antun?"
Der König wurde unwillkürlich etwas kleiner. Dann straffte er sich jedoch wieder.
„Es war nötig, Indra."
Die Königin fauchte verärgert. „Dann erkläre mir doch bitte, warum du dem armen Ding das Einzige, das ihr etwas bedeutet, abnehmen musstest. Und komm mir jetzt nicht damit, dass du es überprüfen musstest. Das hatte Baran bereits getan."
„Ich werde es ihr ja zurückgeben, meine Liebste."
„Das ist ja wohl auch das Mindeste. Und warum musstest du an ihr deine Macht demonstrieren? Bist du so schwach, dass du das gegenüber einem Kind nötig hast?"
Simon sah seine Frau reichlich zerknirscht an. „Ich habe mich provozieren lassen. Ich bringe das in Ordnung."
Augenblicklich verloren Indras Gesichtszüge an Härte und sie blickte ihren Gatten sanft an.
„Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Aber ich warne dich: ich habe kein Problem damit, Baran anzuweisen, das Kind in Helenas Räumlichkeiten unterzubringen."
Simon seufzte. „Das wäre sehr leichtsinnig und wird nicht nötig sein, meine Liebe."Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand Simon am Fenster seines Büros und blickte zum Wald, über den sich gerade die Dämmerung legte.
Liam stand hoch aufgerichtet an seiner Seite und sah ebenfalls hinaus.
„Die Wandler haben sich zurückgezogen, Hoheit. Wahrscheinlich fürchten sie unsere Kraft, da Neumond gerade erst vorbei ist."
Simon brummte unzufrieden. „Der Grund ist mir egal. Hauptsache, sie streifen nicht mehr um die Burg herum. Was genau kannst du mir berichten?"
„Seit der Mittagsstunde haben meine Männer Wölfe rund um die Burg gesehen. Dabei haben diese stets gut zwei Steinwürfe Abstand gehalten. Interessanterweise waren einige von ihnen in ihrer menschlichen Form unterwegs. Da es sich dabei vor allem um Jugendliche gehandelt hat, vermute ich, dass sie sich noch nicht wandeln können."
Ruckartig drehte Simon seinen Kopf zu Liam.
„Sind sie verzweifelt, wenn sie jetzt schon ihren Nachwuchs einsetzen?"
Nachdenklich strich LIam über sein glattes Kinn. „Nicht unbedingt. Anfangs haben meine Männer die Jugendlichen kaum wahrgenommen. Sie sind darauf geschult, sich nähernde Werwölfe zu identifizieren, und nicht auf jeden Menschen zu achten, der auf die Burg zugeht. Erst, als die Sichtungen mehr und häufiger wurden, haben sie ihnen mehr Beachtung geschenkt. Ich habe meine Männer damit beauftragt, jeden, der sich der Burg nähert, genau zu beobachten. Bis jetzt scheinen sie nur die Gegend ausgekundschaftet zu haben und informationen zu sammeln. Aktuell geht von ihnen noch keine Gefahr aus und ich vermute, dass es vorerst so bleiben wird – zumindest bis der Mond voller ist.
Vielleicht will ihr Anführer aber auch die Entschlossenheit seines Rudels demonstrieren, indem er seinen Nachwuchs ins Feld schickt.
Bedächtig wandte Simon seinen Blick wieder zum Fenster. „Es gefällt mir dennoch nicht, meinen Feind so nah an der Burg zu wissen. Doch im Sinne des bevorstehenden Friedens sollten wir einen Angriff auf die Wandler unterlassen und vorerst ihre nächsten Schritte abwarten."
Liam salutierte. „Ich werde meine Krieger entsprechend instruieren, mein König. Sie sollen die Wandler vorerst weiter beobachten, aber nicht eingreifen, sofern keine akute Gefahr von ihnen ausgeht."Schmerz. Beißender, alles verzehrender Schmerz. Ein Schmerz, der jegliche andere Empfindung überdeckte. Das war das Letzte, was Tia spürte.
Eben noch hatte die kühle Flüssigkeit ihre Lippen benetzt, als sie bereits in ihrem Mund schmerzhaft brannte. Im nächsten Moment stand schon ihr ganzer Körper in Flammen.
Wie aus weiter Ferne hörte sie jemanden schreien. Und dann war da nichts mehr. Keine Stille, keine Ruhe, einfach nur ein großes, all umfassendes NICHTS.
Es war friedlich in diesem Nichts. Die Schmerzen und Sorgen waren vergessen. Es war einfach nur schön. Doch dann begann etwas, an Tias Geist zu ziehen und zu zerren.
Unwillig wälzte sie sich herum. Sie wollte dieses NICHTS nicht verlassen, doch irgendetwas zwang sie dazu, zog sie immer weiter von diesem friedlichen Ort weg.
„Tia!", rief auf einmal jemand wie aus weiter Ferne. Eine Stimme, wie Tia sie noch nie gehört hatte. Eine Stimme, die Seelenruhe und Frieden ausstrahlte. Tia entspannte sich und kam zur Ruhe. Im gleichen Augenblick stand sie plötzlich im Wald.
In der Ferne hörte sie ein leises Plätschern. Unter ihren blanken Füßen spürte Tia das Gras, als sie bedächtig auf das Geräusch zulief und schließlich an einer Quelle stoppte. Sie kannte diesen Ort. Hier hatte sie so manche schöne Stunde mit ihrer Mutter verbracht. Viele Jahre war das nun her und nie wieder hatte sie diese Stelle nach dem Tod ihrer Mutter aufgesucht. Doch nun stand sie plötzlich hier. Ohne zu wissen, wie sie hierher gekommen war.
Langsam ließ sie den Blick umherschweifen. Sie verharrte erst und wich dann zurück, als eine fremde Wölfin zwischen den Bäumen hervorkam.
„Tia!", erklang die sanfte Stimme erneut. Und dieses Mal merkte die junge Frau, dass sie die Worte in ihrem Kopf hörte.
Bedächtig kam die Wölfin auf Tia zu. Ihr Fell war schneeweiß und die Augen leuchteten Tia weiß wie der Mond entgegen.
„Komm zu mir, mein Kind", sprach die Wölfin erneut. Tias Augen weiteten sich. Dann sank sie respektvoll vor der Mondgöttin auf die Knie.
Die Wölfin stupste Tia sacht mit der Schnauze an.
„Du bist in großer Gefahr, mein Kind."
Tia zuckte zusammen.
„Deine Phase der Transition hat begonnen."
„Ja Mutter. Ich habe es bereits bemerkt", erwiderte Tia schwach. „Aber die Vampire..."
Die Wölfin leckte sanft über Tias Gesicht. „Die Vampire wollen dich schwächen, indem sie dir Wolfswurz geben. Sie wissen nicht, was das Gift mit dir macht. Du musst stark sein und alles dafür tun, dass sie auf die Droge verzichten."
„Aber wie soll ich das tun?", erwiderte Tia verzweifelt. „Wenn ich es nicht freiwillig nehme, wird der König mich dazu zwingen."
Erneut stupste die weiße Wölfin Tia an.
„Ich weiß, du willst am liebsten gegen die Vampire kämpfen, gegen sie aufbegehren. Aber für den Moment musst du mit ihnen kooperieren und ihnen zeigen, dass das Wolfswurz nicht nötig ist."
Tia seufzte. „Der König hat selbst gesagt, dass er meine erste Wandlung verhindern will. Wie soll ich ihn von dieser Idee abbringen?"
„Für den Moment kannst du das nicht. Deshalb ist es jetzt erst einmal wichtig, dass du wieder zu Kräften kommst und dich bestmöglich auf die Nacht des blauen Mondes vorbereitest. Meditiere und denke auch an die Übungen, die du von klein auf gelernt hast."
„Aber es ist so schwer, Mondgöttin. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Das Gift lässt mich kaum einen klaren Gedanken fassen. Wie soll ich da meditieren? Wie soll ich meine Übungen schaffen, wenn ich jedes Mal das Bewusstsein verliere, sobald sie mir die Droge geben?"
Behutsam hob die Wölfin ihre Pfote und legte sie auf Tias Bein.
„Vertraue mir. Ich werde bei dir sein. Und auch dein ganzes Rudel ist in Gedanken stets bei dir. Du bist stark. Du wirst es schaffen. Es wird sich alles finden."
Tia lächelte schwach. „Ich werde mein Bestes geben, Mutter."
Die Wölfin legte sich direkt vor die junge Frau und ließ ihre Rute über Tias Körper streifen.
„Du bist nicht allein, Tia. Andere werden dich auf deinem Weg begleiten."
Der Wald und die Quelle begannen langsam zu verblassen.
„Warte, Mutter. WER wird mich auf meinem Weg begleiten?"
Frustriert registrierte Tia, wie auch die Mondgöttin langsam verblasste.
„Es liegt an dir, das herauszufinden, mein Kind", erklang ihre Stimme wie aus weiter Ferne. „Aber jetzt ist es für dich an der Zeit, wieder aufzuwachen."
Die Worte waren noch nicht verklungen, als Tia wieder von Dunkelheit umgeben wurde. Doch anders als das NICHTS hatte die Finsternis nichts Friedliches an sich. Tia stöhnte, als sie gewaltsam in die Realität zurückgezogen wurde. Ihr ganzer Körper schmerzte. Noch nie zuvor hatte Tia solche Schmerzen erdulden müssen. Unter sich spürte das Mädchen die unangenehm weiche Matratze, in die sie regelrecht einzusinken schien und die jede Bewegung unmöglich machte. Nach und nach drangen die unterschiedlichsten Gerüche an ihre Nase: Die feucht-kühle, fast schon modrige Luft des Kerkers, der säuerliche Gestank der Matratze unter ihr, bei dem sie leicht die Nase krauste und der inzwischen vertraute Geruch des Vampirkriegers, der nach wie vor in der Luft zu liegen schien.
Leicht bewegte Tia ihre Finger, dann begann sie zu blinzeln und öffnete langsam ihre Augen.
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
مصاص دماءDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...