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Es waren einmal ein Alpha und eine Luna, die waren noch sehr jung. Dennoch trug Onomara, so hieß die Luna, einen Welpen unter ihrem Herzen.
In einer milden Sommernacht, ungefähr zur Zeit der Sonnenwende, war es schließlich soweit.
Der blaue Mond stand am Himmel und die Wölfin gebar ihr erstes Kind, einen Sohn.
Ocelus, der Vater, war sehr stolz, denn der Welpe war sein Erstgeborener und würde, wenn die Zeit ward gekommen, seine Nachfolge antreten.
Gemeinsam standen sie am Waldesrand und erwarteten die Ankunft der Mondgöttin, denn sie wussten, dass die Mutter ihnen erscheinen würde, um ihnen zur Geburt des jungen Wolfes zu gratulieren.
Kaum, dass die Göttin aus dem Wald getreten war, legten die beiden das Kind ehrfürchtig vor die Wölfin, aufdass diese das Kind segnen möge.

Nuri stockte in ihrem Lesefluss und atmete tief durch.
Simon öffnete die Augen und nickte dem Kind aufmunternd zu.
„Nur weiter, Nuri. Du machst das sehr gut."
Das Mädchen lächelte zaghaft und sah wieder auf das Buch.

Lange blickte die Luna aller Lunas auf den Welpen. Als sie den Blick wieder hob, war dieser ernst und schwer.
„Euer Sohn hat einen starken Charakter und kann zu einem guten und gerechten Alpha werden. Lehrt ihn unsere Sitten und Riten. Lehrt ihn die Ehrfurcht vor allen Lebewesen. Und vor allem: Lehrt ihn Selbstbeherrschung, damit er sich und seinen Wolf in Einklang bringen kann. Dann wird dieser Welpe zu einem stolzen und edlen Wolf heranwachsen.
Die jungen Eltern verneigten sich respektvoll vor der Mondgöttin, sahen sich an.
Ocelus trat einen Schritt nach vorne, griff nach dem kleinen Bündel und hielt es der weißen Wölfin entgegen.
„Wir bitten dich um deinen Segen für Olloudius", sprach der Vater bittend, denn dies war der Name, den sie gemeinsam für ihr Kind erwählt hatten.
Die Göttin neigte ihren Kopf und vergrub ihn in den Tüchern, in die das Kind gewickelt war. Sanft leckte sie dem Neugeborenen über die Stirn.
„Geht nun und erfüllt meinen Auftrag", sprach die Wölfin und verschwand im Wald.

Nuri blickte überrascht auf, als die Flederkatze auf ihrem Schoß zu treteln begann und sich eine bequemere Position suchte.
Dann richtete sie jedoch den Blick wieder auf das Buch und las weiter.

Die Jahre vergingen und Olloudius wuchs zu einem Kind und dann zu einem jungen Mann heran. Doch Onomara und Ocelus waren unerfahren und wussten nicht, wie sie den Auftrag der Göttin erfüllen sollten.
Sie waren aber auch stolz und wollten nicht auf den Rat der Älteren hören, denn die Unvernunft der Jungen sprach aus ihnen und sie dachten, alles alleine schaffen zu können.
Und so kam es, dass Olloudius starker Charakter sie alsbald überforderte.
Er hörte nicht auf das, was seine Eltern ihm sagten und folgte nicht ihrer Führung.
Wann immer er im Wald unterwegs war, fand er Spaß daran, Tiere zu quälen und Pflanzen zu zerstören. Die Eltern aber standen hilflos daneben und wussten nicht, was sie tun sollten.
Selbst wenn sie Strafen aussprachen oder dem jungen Wolf gar den Gang in den Wald verbaten, so lachte Olloudius nur über sie, denn zu lange hatten sie alles gut geheißen, was er getan hatte.
Selbst auf die Ältesten wollte der stolze Wolf nicht hören. Und als die Zeit gekommen war, in der Olloudius sich auf seine erste Wandlung vorbereiten sollte, da lief er fort und in den Wald hinein, denn er dachte, alles alleine schaffen zu können.
Anstatt zu Demut und Respekt hatten seine Eltern ihn zu Überheblichkeit und Selbstüberschätzung erzogen.
Olloudius Verhalten wurde von Tag zu Tag schlimmer und unerträglicher für das Rudel.
Hatte er anfangs nur willkürlich die Tiere des Waldes gequält, so richteten sich seine Taten nun gegen die eigenen Rudelmitglieder.
Dann ward der Zeitpunkt seiner ersten Wandlung gekommen und Olloudius stand als großer, schwarzer Wolf auf dem Dorfplatz. Mit rot glühenden Augen ließ er den Blick über seine Brüder und Schwestern gleiten.
Zwei Welpen, die es nicht besser wussten, begannen, im Gras herumzutollen. Mit einem Lächeln wandten sich alle Blicke von Olloudius ab, der sofort spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Doch da er nie gelernt hatte, sich selbst zu kontrollieren, kochte die Wut und der Neid immer heißer in ihm.
Mit einem großen Satz stand er neben den Welpen und biss beiden die Kehle durch.
Entsetzt blickte das Rudel auf Olloudius, doch keiner wagte es, sich dem jungen Wolf entgegen zu stellen.
Die Tage vergingen und Olloudius verwandelte sich kaum noch zurück. Der Wolf in ihm hatte vollends die Kontrolle übernommen und zwang den jungen Mann, sein eigenes Rudel anzugreifen und Tod und Verwüstung über sein Volk zu bringen.
Als es immer schlimmer wurde beriefen die Ältesten eine Versammlung ein. Schweren Herzens stimmte der Alpha zu, seinen eigenen Sohn aus dem Rudel zu verbannen.
Die stärksten Krieger des Dorfes stellten sich dem Sohn ihres Alphas entgegen um diesen zu vertreiben. Bis weit über die Rudelgrenze trieben sie Olloudius, doch dieser kehrte nur Tage später mit neuer Wut zurück.
In dieser Nacht stand Onomara, seine Mutter, an Waldesrand und rief – ganz wie vor vielen Jahren – nach der Mondgöttin.
Blind vor Zorn rannte Olloudius auf die junge Frau zu und tötete sie.
Als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, war es zu spät. Doch anstatt dass er sich seinen Fehler eingestand, richtete sich seine Wut und Trauer gegen seine Familie, das Rudel.
Viele Wandler fanden in dieser Nacht den Tod.
In seiner Verzweiflung suchte Ocelus nach der heiligen Quelle.
Schweren Herzens kehrte er einige Tage später zurück. Von dem ehemals großen und stolzen Rudel war nur noch ein Bruchteil übrig. Alle anderen hatte Olloudius getötet.
Mit einer List umgarnte der Vater seinen Sohn und gab ihm süßen Wein, aufdass Olloudius geschwächt wurde.
Als der Junge Wolf, geschwächt vom Wolfswurz und müde vom Wein, schließlich einschlief, wandelte Ocelus sich in seinen Wolf und tötete sein eigenes Kind. Denn dies hatte die Luna ihm aufgetragen.
Mit vor Trauer schwerem Herzen schleppte sich der einst mächtige Alpha zur großen Klippe. Er sah sich nicht um, denn hinter ihm gab es nichts, was ihm noch etwas bedeutete. Der ehemals stolze Vater hatte alles verloren. Nur eines blieb ihm noch, doch auch das würde er in Kürze verlieren.
Er richtete den Blick zum vollen Mond und stieß ein lautes Heulen aus. Dann machte Ocelus einen großen Schritt nach vorne und sprang die tödliche Klippe hinab. Noch während er fiel schloss er die Augen für immer.

Erschöpft ließ Nuri das Buch sinken. Die Flederkatze auf ihrem Schoß war schwer geworden. Im Schlaf schnurrte sie leise.
Simon sah Nuri ernst an. „Eine sehr traurige Geschichte. Es mag eine Legende sein. Doch irgendwie glaube ich Tia." Simon seufzte, musste dann aber schmunzeln. „Eigentlich wollte ich dich für heute entlassen, aber da hat Lilith wohl etwas dagegen."
Nuri lächelte und strich der Flederkatze über den Kopf. Mit einem müden Maunzen öffnete das Tier die Augen und streckte sich.
Dann rieb es den Kopf an Nuris Hand, öffnete die Flügel und stieg in die Luft. Sie zog einen letzten Kreis über Nuris und Simons Köpfe und flog dann zum Fenster hinaus.

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt